Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book)

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5.2 Differenzierend mit Eingangsvoraussetzungen umgehen

Unsicherheiten überwinden und unterstützen

Was heisst das für die Gestaltung von Lerngelegenheiten für Lehrpersonen zur Weiterentwicklung ihres Unterrichtes, wenn Stress oder zumindest Unsicherheiten oder eine gewisse Unzufriedenheit eine Voraussetzung für eine Konzeptänderung sind? Für einen erfolgreichen Unterrichtsentwicklungsprozess scheint gerade auch das Gefühl der Sicherheit die zentrale Emotion für die Bereitschaft zum Lernen zu sein (Simons & Ruijters, 2004). Erfolgreiche professionelle Lernprozesse zeitigen denn auch emotional positive Ergebnisse: Gefühle des Meisterns, der Befriedigung und der Kompetenz (ebd.). Gemäss der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 1993) müssen ihre zentralen Elemente des Kompetenz-, Autonomie- und Verbundenheitserlebens unterstützt werden, damit intrinsische Motivation aufrechterhalten werden kann. Die Lernumgebung von Lehrpersonen im Zusammenhang mit einer Reform muss diese psychologischen Grundbedürfnisse befriedigen (Turner, Waugh, Summers & Grove, 2009; Schellenbach-Zell, 2009). Die didaktische Gestaltung von Lerngelegenheiten muss also unterschiedliche emotionale Ausgangslagen der Lehrpersonen (siehe die Einstellungstypen in Kapitel 4.1) bei unterschiedlichen Ausprägungen von Selbstwirksamkeitserwartungen und professioneller Kompetenz in Rechnung stellen und ein differenzierendes Angebot bereitstellen. Es muss die Überwindung von Unsicherheiten unterstützen oder aber durch Erzeugen von Dissonanzen zwischen eigenen Erwartungen und Überzeugungen und der tatsächlichen Praxis beziehungsweise deren Wirkung bei den Schülerinnen und Schülern allenfalls Unsicherheiten oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Unterricht auslösen. Forschungsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass bei zu grosser Dissonanz oder zu grosser Lücke zwischen bestehendem und neuem Wissen Neues verworfen wird (McChesney & Aldridge, 2019; Timperley, Wilson, Barrar & Fung, 2007). In der Folge muss dann der erneute Aufbau von Sicherheit das Ziel sein. Weiterbildung realisiert dies offenbar wirksam durch eine Kombination von Reflexionsphasen und handlungspraktischen Erprobungsphasen, in denen die Lehrpersonen Kompetenzerfahrungen machen können (Lipowsky, 2014). Das Bedürfnis der Verbundenheit kann etwa durch positive Kooperationserfahrungen ermöglicht werden.

Adressieren individuell ausgeprägter professioneller Kompetenz

Unterrichtsentwicklung auszulösen, bedingt nicht nur das In-Rechnung-Stellen unterschiedlicher Emotionen angesichts der Reform, sondern, wie das Modell von Gregoire (2003) impliziert, auch unterschiedlicher Selbstwirksamkeitserwartungen bezüglich der Reformnachricht, kompetenzorientiert zu unterrichten, unterschiedlicher Überzeugungen und unterschiedlichen Wissens und Könnens. In Kapitel 3 wird auf die Tatsache verwiesen, dass Lehrpersonen unterschiedlich effektiv unterrichten, weil sie auch über unterschiedliches fachliches und fachdidaktisches Wissen verfügen. Ihr Wissen beziehungsweise ihre bestehende professionelle Kompetenz bestimmt auch die Wahrnehmung der Reformnachricht mit und «damit auch, ob die Aufforderung und Anforderung, kompetenzorientiert zu unterrichten, zur Herausforderung und zum Ausgangspunkt für einen Lernprozess wird» (Albisser & Keller-Schneider, 2010, S. 131).

Wenn das Lernen der Schülerinnen und Schüler im Zentrum stehen soll, erhält seitens der Lehrpersonen derjenige Aspekt professioneller Kompetenz eine zentrale Bedeutung, der für die Ermöglichung des Lernens der Schülerinnen und Schüler genutzt wird: das fachspezifisch-pädagogische beziehungsweise fachdidaktische Wissen («pedagogical content knowledge»), weil es diejenigen Wissensstrukturen umfasst, welche etwa beim Diagnostizieren, Erklären, Aufgabenstellen, Sequenzieren, Begleiten und Beurteilen im Unterricht manifest werden. Auf Basis des Fachwissens und des pädagogisch-psychologischen Wissens stellt es die spezifische Wissensfacette dar, wie der fachliche Inhalt unterrichtet werden soll. Fachdidaktisches Wissen umfasst in aktuellen Konzeptionen die Komponenten

1 der Überzeugungen der Lehrpersonen zum Zweck und den Zielen des Faches auf der jeweiligen Altersstufe,

2 des Wissens, wie die Schülerinnen und Schüler bestimmte Inhalte lernen,

3 des Wissens, was im Lehrplan vorher und nachher gelernt werden soll, um das aktuelle Thema einordnen zu können (inkl. Kenntnissen von Lehrmitteln und -materialien),

4 des Wissens über fach- und themenspezifische Lehrstrategien sowie

5 des Wissens, wie Lernen und das Gelernte im Fach beurteilt werden können (Park & Oliver, 2008).

Zusätzlich unterstreicht auch die Empirie die Bedeutung dieser Wissensfacette von Lehrpersonen zusammen mit dem Fachwissen: «Mediiert über die Merkmale der Unterrichtsgestaltung sind Fachwissen und fachdidaktisches Wissen auch für die Fachleistung der Schülerinnen und Schüler substantiell bedeutsam […]. Fachwissen ist die Grundlage, auf der fachdidaktische Beweglichkeit entstehen kann» (Baumert & Kunter, 2006, S. 496; Hervorhebung im Original). Angesichts dieser Ergebnisse schliessen die Autoren, «dass sowohl das Fachwissen als auch das fachdidaktische Wissen von Lehrkräften grösster Aufmerksamkeit bedürfen» (ebd.). Das Wissen der Lehrpersonen erklärt einen erheblichen Teil der Leistungsunterschiede zwischen den Klassen (Baumert & Kunter, 2011b; Hill, Rowan & Ball, 2005), wobei das fachdidaktische Wissen den grösseren Anteil aufweist. Hohes fachdidaktisches Wissen korreliert positiv mit dem Fachwissen, aber das Umgekehrte ist nicht zwingend. Das heisst, viel zu wissen, wie ein Fach unterrichtet wird, bedingt auch viel Fachwissen, aber viel Fachwissen genügt nicht, um gut zu unterrichten. Zudem bestimmt das fachdidaktische Wissen erheblich die beiden fachspezifischen Basisdimensionen der Unterrichtsqualität mit, den kognitiven Aktivierungsgrad des Unterrichts und die konstruktive Lernbegleitung, was für das Fachwissen nicht zutrifft (Baumert et al., 2010). In ihrem Forschungsüberblick identifizieren es Coe et al. (2014) als den wichtigsten Einflussfaktor für die Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler. Daraus lässt sich eine hohe Bedeutung des fachdidaktischen Wissens für die Dozierendenkompetenz und die Weiterbildungsdidaktik fachbezogener Angebote ableiten.

In Analogie zu dem, was der Lehrplan 21 in seinem Lern- und Unterrichtsverständnis in Rechnung stellt – Lernprozesse setzen am Vorwissen an –, kann auch für das Lernen der Lehrpersonen gefolgert werden, dass die Möglichkeit, an eigene Fragen und Konzepte oder, technischer gesprochen, an eigene Überzeugungen und fachdidaktisches Wissen anzuschliessen, bedeutsam ist. Das zeigt sich auch empirisch: Lindvall et al. (2018) folgern in ihrer Studie, dass eine gewisse Kohärenz der Inhalte einer Weiterbildung mit dem aktuellen Wissen und der Praxis von Lehrpersonen zu ihrer Wirksamkeit beiträgt. Zudem ist die Reflexion von Unterricht effektiver, wenn die Verbesserungsprioritäten der Lehrpersonen in Rechnung gestellt und sie ermutigt werden, ihren eigenen Handlungsplan zu entwickeln, der die eigenen beruflichen Bedürfnisse adressiert (Antoniou & Kyriakides, 2011).

Das Gestalten von Weiterbildungen, die im Rahmen einer Bildungsreform verordnetes kollektives Lernen ermöglichen, die heterogenen Kompetenzen von Lehrpersonen berücksichtigen und mittels individueller Handlungspläne eine Entwicklung des Fachunterrichts unterstützen, ist für die Dozierenden eine anforderungsreiche Aufgabe.

6 Dozierendenkompetenz
6.1 Didaktische und kommunikative Herausforderungen

Für die Gestaltung des Angebots einer Lerngelegenheit sind Dozierende sowie Weiterbildnerinnen und Weiterbildner, insbesondere auf der mikrodidaktischen Ebene, mitverantwortlich: Sie strukturieren die Lernerfahrung nicht nur durch die didaktischen Entscheidungen bezüglich Zielen, Methoden, Inhalten und Medien, sondern auch durch die Kommunikation mit den Lehrpersonen.

Zwar ist es relativ einfach, einen Austausch über Ideen und Material verbunden mit dem Unterricht zu initiieren. Borko (2004) stellt aber fest, dass Diskussionen, die die kritische Überprüfung des Unterrichts unterstützen, relativ selten sind. Weiterbildner und Weiterbildnerinnen müssten deshalb die Lehrpersonen unterstützen, Vertrauen zwischen ihnen sowie zur dozierenden Person aufzubauen und Kommunikationsnormen zu entwickeln, die einen kritischen Dialog ermöglichen. Zudem müssten sie die Balance zwischen Respekt gegenüber den einzelnen Gruppenmitgliedern und ihrer Unterrichtsgestaltung sowie dem kritischen Analysieren von Aspekten ihres Unterrichts halten (ebd., S. 7). Das Ermöglichen eines kritischen Dialogs ist ein zentraler Faktor für die Effektivität der Zusammenarbeit und hängt auch direkt mit den Beziehungen der Lehrpersonen untereinander zusammen (Zembylas & Barker, 2007). Das verweist auch auf eine zusätzliche Herausforderung für die angebotsseitige Gestaltung schulinterner Lerngelegenheiten: Ihre Nutzung hängt nicht nur von der einzelnen Lehrperson ab, sondern auch von den an einer Schule vorherrschenden Realitäten und den bisherigen gemeinsamen Lernerfahrungen. Diese auch zwischen den Zeilen wahrzunehmen, die Dynamiken und das Klima in der Schule beiläufig zu analysieren, mit den unterschiedlichen Reaktionen auf die Reformnachricht umzugehen, allenfalls mit Einzelnen oder der Gruppe Aufträge, Ziele oder sogar die Sinnhaftigkeit der Weiterbildungsmassnahme zu verhandeln, dabei das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und trotzdem die Lehrpersonen ihren Weg gehen zu lassen, sind idealtypische Anforderungen an die Dozierenden in der Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung. Das erfordert von ihnen, mit Perrenoud (1996), sicherlich Tugenden wie Geduld, Toleranz und Empathie, aber auch eine Analysekompetenz, die zum Beispiel davon ausgeht, dass Widerstände selten irrational sind und ihre psychosozialen oder unterrichtsbezogenen Hintergründe herauszuarbeiten weiss. Kenntnisse der Lernspezifitäten Erwachsener (vgl. z.B. Schellhammer, 2017, S. 21–22) wie auch ein vertieftes fachdidaktisches Wissen dürften zur Genauigkeit der Einschätzung der jeweiligen Situation und dem didaktischen Handeln beitragen.

 

Im Rahmen eines zeitlich befristeten, auftragsgemäss auf die Einführung eines neuen Lehrplans ausgerichteten Angebots sind der Bearbeitung von Widerständen, insbesondere was die psychosoziale Seite der Gruppendynamik anbelangt, jedoch auch Grenzen gesetzt. Aspekte der Schulkultur, die für die Gruppendynamik und für die Kooperation bedeutsam sind, wie etwa kollektives Vertrauen oder die kollektive Überzeugung eines Kollegiums, anstehende Herausforderungen zu bewältigen, bilden sich in längerfristigen Prozessen aus und hängen mit dem Verhalten der Schulleitung zusammen (Tschannen-Moran, 2014a; Tschannen-Moran & Gareis, 2015). Eine kurze Intervention vermag keine fundamentalen Veränderungen auszulösen. Hingegen können gemeinsame Unterrichtserfahrungen, das Offenlegen von individuellen Erfahrungen und die gemeinsame Reflexion von Unterricht das Vertrauen in Kolleginnen und Kollegen verbessern (Ford, 2014; Tschannen-Moran, 2014b).

6.2 Reflexionen unterstützen und moderieren

Die Moderation ist von zentraler Bedeutung, damit das Sprechen über Unterricht nicht beim Austausch von Schlagworten an der Oberfläche bleibt. Sie trägt dazu bei, dass eine vertiefte Analyse und eine kritische Reflexion geschehen kann und damit eine professionelle Diskussion auf Basis eines professionellen Vokabulars entsteht. Inhaltlich müssen die «richtigen» Fragen gestellt werden, damit die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler fokussiert werden und die Diskussion nicht beim Handeln der Lehrperson stehen bleibt, denn das bedeutet, dass die Wirkungen dieses Handelns lediglich hypothetisch bleiben. Dem entgegen steht, dass die praktisch dominierende Sorge von Lehrpersonen häufig weniger die Lernerfahrung einzelner Schülerinnen und Schüler ist, sondern, über alles gesehen, eher der «instructional flow» der Lektion, der geordnete Ablauf von Aufträgen interessiert (Hargreaves, 2000). Das deutet auf eine didaktische Herausforderung für die Dozierenden hin, diese für Lehrpersonen häufig im Vordergrund stehenden Fragen nach Aufgaben, Lehrmittel und der Klassenführung aufzunehmen und mit einem Perspektivenwechsel in Verbindung mit den Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler zu bringen.

Damit das Sprechen über Unterricht nicht abstrakt bleibt, helfen Artefakte aus dem Unterricht, die ihn repräsentieren, um so möglichst nahe an der «Gestaltwahrnehmung» (Korthagen, 2001) der eigenen Erfahrung und den Lernprozessen der Schülerinnen und Schülern zu bleiben (siehe Kapitel 7). Bei der Reflexion über Unterricht sind grundsätzlich zwei Bewegungen denkbar:

Abstrahieren: Dozierende unterstützen die Lehrpersonen, die konkrete Erfahrung zu verdichten und zu verallgemeinern (vgl. Wahl, 1991). Damit ist das gemeint, was Neuweg (2010) «Anschauung theoretisieren» nennt (ebd., S. 46). Eraut (1994) meint, ohne die Fähigkeit zu theoretisieren, endet der Praktiker im Gefängnis der eigenen Erfahrungen (zitiert nach Ertsas & Irgens, 2017). Mögliche Ausgangspunkte sind die Analyse beziehungsweise die Fragen nach Mustern in Arbeiten von Schülerinnen und Schülern oder inwiefern sich die Lernerwartungen in den Arbeiten zeigen, um den Fokus auf die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler aufrechtzuerhalten (Nelson, Deuel, Slavit & Kennedy, 2010). Folgen können dann Fragen nach deren Zusammenhang mit Bedingungen der Lernumgebung, etwa der Aufgabenqualität oder Lernbegleitung durch die Lehrperson. Damit sind einerseits Komponenten des fachdidaktischen Wissens angesprochen (siehe Kapitel 5.2), anderseits werden sie in Verbindung gebracht («Wie hängen die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler mit meiner Aufgabenstellung zusammen?»).Erst das Beschreiben der Wahrnehmung des konkreten Ereignisses, das Fassen in Worte macht die spezifische Situation reflektierbar, mit anderen Erfahrungen und Sichtweisen konfrontierbar. Dadurch können Merkmale des besprochenen Unterrichtsbeispiels abstrahierend herausgearbeitet beziehungsweise subjektive oder implizite Theorien expliziert, bestehende Handlungsmuster offengelegt werden. Nun folgt der Schritt, die bestehenden Theorien mit dem Neuen zu verbinden, das sich gegenüber der eigenen Praxis und Erfahrungen zuerst abstrakt präsentiert, im vorliegenden Fall als neuer Lehrplan mit einer anderen Form der Darstellung und Formulierung von Lernerwartungen sowie einem kompetenzorientierten Unterrichtsverständnis. Es lässt sich zum Beispiel fragen, inwiefern herausgearbeitete Handlungsmuster einem kompetenzorientierten Unterricht entsprechen. Diese erste, «theoretisierende» Bewegung, die es zu moderieren gilt, expliziert induktiv an den Erfahrungen anknüpfend subjektive Theorien (Theorieebene 1), indem zum Beispiel Besonderheiten oder Erklärungen des diskutierten Unterrichtsbeispiels versprachlicht werden (siehe Abbildung 1.3). Das kann als Zwischenschritt angesehen werden, um in der Folge den Bezug zur noch abstrakteren Ebene von allgemeinen Erkenntnissen (Theorieebene 2) herzustellen, wie sie zum Beispiel Ergebnisse der Unterrichtsforschung, eine didaktische Theorie oder, in Verbindung von beidem im vorliegenden Fall, allgemeine Merkmale eines kompetenzorientierten Unterrichts darstellen.

Konkretisieren: Dozierende müssen nun wissen, wie man das Neue mit dem Wissen beziehungsweise allgemeiner mit der subjektiven Theorie der Lehrpersonen zusammen für die Unterrichtspraxis bedeutsam und im Kontext der Unterrichtspraxis handhabbar macht (Timperley et al., 2007; Cordingley & Buckler, 2014). Dies verweist auf die zweite, das Abstrakte nun wiederum konkretisierende, also die Theorie veranschaulichende Bewegung, die es zu moderieren gilt. Sie mündet in die Frage, wie eine verallgemeinerte Erkenntnis der Theorieebene 2 zu der eigenen subjektiven Theorie auf Ebene 1 steht und welche Folgen dies für die eigene Praxis im Unterricht hat.

In der Lage zu sein, auf die Theorieebene 2 zurückzugreifen, kann die berufliche Praxis legitimieren, implizite Theorien durch Formulierung auf Theorieebene 1 explizit machen und es ermöglichen, sowohl über die eigene wie auch die allgemeine Theorieebene kritisch zu reflektieren (Ertsas & Irgens, 2017). Dozierende müssen dazu iterativ, aber immer wieder in Bezug auf die zentrale Frage, wie sich die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler unter den gegebenen Lernbedingungen verhalten, einen bewussten Wechsel der Theorieebenen pflegen (siehe Abbildung 1.3).


Abbildung 1.3: Dozierende moderieren zwei Bewegungen: Abstrahieren und Konkretisieren (eigene Darstellung)

Die Moderation von reflektierenden Diskussionssequenzen bedarf einer «skilled leadership» (Earl, 2009; siehe Kapitel 7). Dabei müssen Dozierende mit den heterogenen Voraussetzungen der Lehrpersonen rechnen und entsprechend adaptiv agieren. Basierend auf dem Modell von Gregoire (siehe Kapitel 4.3) dürften je nach Konstellation von Reaktionstyp auf die Reformnachricht und Ausprägung der professionellen Kompetenz unterschiedliche didaktische Massnahmen oder Impulse notwendig sein. Auch Lehrpersonen brauchen nicht alle das Gleiche und gleich viel, um einen Entwicklungsschritt zu machen. Mit Neuweg (2010) heisst das für Dozierende: «[…] vonnöten wäre die Gelassenheit, auf Belehrung und Reflexionszumutungen zu verzichten, wo Erfahrungswissen in der Gestalt flexibler Muster auftritt, der Mut, es instruierend und reflexiv zu unterspülen, wenn es sich als starre Schablone darstellt, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden» (ebd., S. 46).

6.3 Ansprüche an die Dozierenden der Weiterbildung

Angesichts der bisher skizzierten Herausforderung, auch auf Unsicherheit aufbauend oder diese auslösend Lernprozesse zu inszenieren und den erneuten Aufbau eines Gefühls der Sicherheit zu unterstützen, werden die hohen Ansprüche an die professionelle Kompetenz von Dozierenden in der Weiterbildung deutlich. Sie sind nicht nur herausgefordert, das richtige Ausmass an kognitiver Dissonanz bei erfahrenen Lehrpersonen zu erzeugen, sondern müssen dabei auch die Balance halten zwischen – im vorliegenden Fall – durch fachdidaktische Expertise begründete Zielsetzungen und der Notwendigkeit erwachsenenpädagogischer Teilnehmendenorientierung, die den Lehrpersonen adäquate Entscheidungsfreiräume auch bezüglich der Zielsetzungen einräumt (McChesney & Aldridge, 2019). Borko (2004) drückt dies folgendermassen aus:

«Facilitators must be able to establish a community of learners in which inquiry is valued, and they must structure the learning experiences for that community. […] Facilitators must be able to use the curriculum flexibly – reading the participants and the discourse, considering responses and possible consequences, and taking responsive action in order to balance the sometimes incompatible goals of the professional development program and the participants […]» (ebd., S. 10).

Die Anforderungen an Dozierende in der Weiterbildung sind von der Forschung kaum thematisiert worden, aber es ist zu vermuten, dass Dozierende ebenfalls einen Beitrag zur Wirksamkeit von Lerngelegenheiten beziehungsweise Unterstützungsangeboten leisten (Lipowsky, 2014). Einen ähnlichen, theoretisch abgestützten und zunehmend empirisch überprüften Strukturvorschlag zur Beschreibung der professionellen Kompetenz, wie ihn die Forschungsgruppen um Baumert oder Blömeke für Lehrpersonen machen (Baumert & Kunter, 2011a; Blömeke, Kaiser & Lehmann, 2010), existiert für Dozierende der Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie -weiterbildung noch nicht. Die Diskussion bewegt sich hinsichtlich der Dozierenden der Lehrerbildung eher noch im normativen Bereich (vgl. z.B. Koster & Dengerink, 2008; Murray, 2008; Smith, 2010). Ihre professionelle Kompetenz dürfte jedoch in Bezug auf die Lehre mit einer ähnlichen Struktur beschreibbar sein, wobei sie inhaltlich die Spezifika der Unterstützung des Lernens von Erwachsenen, in der Weiterbildung von erfahrenen Lehrpersonen, aufweisen muss (Neuweg, 2010, S. 44; Kraler, 2008).