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Silvia Gall

www.orpheus.komm!

www.orpheus.komm! – http://www.inode.dank! Vorwort

Seit etwa zehn Jahren lernen Menschen einander nicht mehr beim Kino- oder Theaterbesuch, in Kaffeehäusern oder Diskotheken, auf der Straße oder am Arbeitsplatz kennen, sondern – wie die Proponenten dieses Buches – im Internet. Der Flirt erfolgt nun nicht mittels des primären Einsatzes von Körper, Mimik und Stimme, sondern über das verbale und figurale Fassungsvermögen von Tastatur und Bildschirm. Ermöglicht wird diese überaus reizvolle, sich oftmals ins Hemmungslose steigernde Kommunikationsform per E-Mail und Chat von den dafür unverzichtbaren Internetprovidern. Einer der vor einigen Jahren bekanntesten österreichischen Internetprovider war INODE. Da es sich im vorliegenden Buch um eine ständig sich aufschaukelnde, reine E-Mail-Bekanntschaft handelt, hat INODE als Quasi-Schirmherr solcher oder ähnlicher Bekanntschaften die Ausgabe dieses Buches ermöglicht, wofür ich mich herzlich bedanke. Trotz der zwar humorigen, aber dennoch kritischen Untertöne hinsichtlich ehemaliger katholischer Erziehungsmethoden hat die unkonservative moderne Providerfirma INODE es gewagt, die Erscheinung dieses Buches kräftig zu unterstützen. Mögen nachfolgende Provider noch vielen Menschen dazu verhelfen, über das weltweite Netz Menschen in Freundschaft, in Liebesbeziehungen, in humorigen Dingen und geschäftlichen Agenden zusammenzuführen oder zu vernetzen. Ich danke meinem damaligen Provider. Silvia Gall

Vorwort

Die Fähigkeit, Lust und Leidenschaft zu empfinden und ausleben zu können, ist oft gebremst durch Relikte aus einer rigiden autoritären Erziehung. Irgendwann haben wir alle gelernt, Tugenden als Tugenden und Sünden als Sünden zu sehen und ein Leben lang darüber zu urteilen, nicht wissend, was eigentlich Tugend und Anstand von der Sünde, die Lust von Freude und Pflicht, was die Leidenschaft und Hingabe von Rückzug und Kontrolle trennt. Im Buch www.orpheus.komm! wird einmal mehr das Dilemma aufgezeigt, in das eine gut behütete, wohlerzogene, in einer Klosterschule der 50er-Jahre unterrichtete, reife Frau gerät, wenn sie sich hemmungslos ihren Gefühlen hingibt. Sie gerät lange Zeit hindurch in eine tiefe Kluft aus natürlicher feuriger Geilheit und stetigem schlechten Gewissen aufgrund ihres „unkeuschen“ Verlangens. Natürlich ist diese Bereitschaft zur hemmungslosen sexuellen Hingabe nur möglich, weil zwischen ihr und ihrem Partner mehr als 1000 Autobahnkilometer liegen, die mittels erotischer E-Mails mehrmals täglich überwunden werden. Gerade die rein virtuelle Form der körperlichen Liebe, gepaart mit humoristisch-anekdotischem Schreibstil, ermöglicht diese extreme Art des Sich-hingezogen-Fühlens, das die beiden Proponenten im vorliegenden Buch für Liebe halten. Hätten die beiden einander im Kaffeehaus kennen gelernt, wären sie möglicherweise achtlos aneinander vorbeigegangen. Der Reiz, die Lust entsteht auch durch die scheinbare Unüberwindbarkeit der Entfernung. Dieser Umstand spricht dafür, dass eigentlich beide Partner große Angst vor Nähe und Intimität haben – nur über 1000 km können sie diese uneingeschränkte Lust erleben – Olivia kann nicht einmal das, wird sie doch immer noch geknechtet von ihrer totalitär-katholischen Schulvergangenheit. Ich sehe dieses Buch nicht als eine aktuelle, zeitgemäße Neuauflage der „Mutzenbacher“, obwohl manche Textpassagen diesen Eindruck suggerieren könnten, sondern als einen humoristischen, unverbitterten Versuch, mit katholischen Glaubens und Verhaltensmustern zu brechen und einen Schritt – wenn auch nur virtuell – in Richtung ungestraftes Ausleben von Lust und Leidenschaft zu setzen. Die Schlusspointe, die ich hier nicht verraten möchte, ist im weitesten Sinn – trotz aller teilweise extrem provokanter und unmissverständlicher Kritiken – wenn auch kleines – Zugeständnis an katholische Denkstrukturen.

Auf jeden Fall ein anspruchsvolles Lesevergnügen, bei dem auch abgebrühte Sexexperten fallweise leicht erröten könnten.

„Am Zeugungsglied des Mannes hängt das Herz der Weiber und an der Vulva das Herz der Männer; im Zeichen der Vulva und des Penis steht die ganze lebendige Welt.”

Ausspruch Shivas

Das sechste Gebot haben sie ausgelassen.

Alle haben sie uns erläutert – vor allem die ersten drei, das vierte, das siebente und achte. Das fünfte versteht sich von selbst. Beim Übertreten des achten haben uns die Schwestern oft erwischt, wenn wir auch nur ein bisschen geschummelt hatten. Das neunte war uns Volksschülerinnen kein Problem, obwohl wir keine Ahnung hinsichtlich der Tragweite hatten. Und das zehnte schien den Schwestern offenbar nicht wichtig. Das sechste hingegen schon. Oft und oft haben sie es wiederholt – nie jedoch erklärt, was es denn mit der viel zitierten Unkeuschheit auf sich hatte. Wann ist man unkeusch? Es war in meinen Ohren ein hässliches Wort und irgendwann hatte ich herausgefunden, dass es etwas mit „Geschlecht“ zu tun hatte. Im Begriff Geschlecht steckt bekanntlich „schlecht“. Ich war also a priori schlecht, schon aufgrund der Tatsache, dass ich ein Geschlecht verkörperte. Mit „Geschlecht“ verhielt es sich offenbar genauso wie mit der Erbsünde – die klebt an jedem Menschen seit dessen erstem Atemzug, und wehe ihm, man lässt ihn nicht taufen – dann ist er ein für alle Mal zur Hölle verdammt, selbst wenn er noch gar nicht sündigen konnte. So ähnlich ist es mit dem Geschlecht und mit dem Körper.

Überhaupt der Körper: Alles oberhalb des Nabels war edel, alles unterhalb war verpönt. Barbusig und neugierig, wie kleine Mädchen nun einmal sind, war es uns erlaubt, einander überall vom Kopf bis oberhalb des Nabels anzusehen und anzufassen, aber darunter existierte nichts von Gott Gewolltes. Alles unterhalb der Nabelgrenze war also unkeusch. Selbstverständlich auch das Verrichten der Notdurft. Endet doch bekanntlich der Verdauungsprozess unterhalb des Nabels. Alle Ausscheidungsorgane sind dort – ich kam nicht umhin, dies mehrmals täglich feststellen zu müssen. Und dass ich ein kleines Mädchen war, merkte ich daran, dass ich zum Urinieren keinen Penis brauchte. Es war völlig o. k. , dass Buben einen hatten und Mädchen nicht. (An den viel zitierten Penisneid, der laut wissenschaftlicher Dokumentationen im Kleinkindalter manifestiert wird, erinnere ich mich nicht. )

Es war demnach völlig in Ordnung, dass Buben einen wurmförmigen Fortsatz „da unten“ hatten und Mädchen nicht – sonst könnte man ja Buben und Mädchen nicht voneinander unterscheiden. Wozu jedoch war das überhaupt notwendig? Hatte das etwa mit dem sechsten Gebot zu tun?

Irgendjemand aus unserer Klasse – eine sehr vorwitzige junge Person – hatte einmal die unverfrorene Frage gestellt, was denn das sei – „Unkeuschheit“? Neben allerlei Protestbemerkungen der Religionsschwester prangerte diese schließlich das „unheilsame fleischliche Verlangen“ an. So also war das zu verstehen. Fleischliches Verlangen. Fleisch ist schlecht. Verlangen ist schlecht. Geschlecht sowieso.

Mein Assoziationsbogen schlug seltsame Kapriolen. Interessanterweise hat Fleisch nie in besonderem Maß meine Neugier angezogen und habe ich auch kein besonderes Verlangen danach verspürt. Der – selten genug – erheischte Anblick eines nackten Jungen hingegen – vor allem vom Nabel abwärts – fesselte meine Blicke gleich einem Magneten, den man nur mit Mühe von einem gegenpoligen Stück losreißen kann. Aber was hatte das mit fleischlichem Verlangen zu tun? Was haben die vielen Aktstudien, die ich sowohl von Männern als auch von Frauen angefertigt hatte – ich gebe zu, mehr von Männern als von Frauen –, mit fleischlichem Verlangen zu tun?

Ist ja bloß Interesse am Menschen, an der Menschlichkeit, zu der eben auch Körper gehören. Und da einige meiner gemalten und gezeichneten Akte im Internet zu sehen sind, werde ich eben auch gelegentlich kontaktiert, ob ich denn nicht auch auftragsmäßig zeichnen würde, oder es kommen einfach bloße Glückwünsche zu besonders gelungenen Studien. Derartige E-Mails bin ich gewöhnt. Andere wieder nicht:

Sehr verehrte Frau Doktor,

es ist selten und deshalb umso faszinierender, im NETZ Begegnungen auf der gleichen künstlerischen Ebene ästhetischer Affinität und visuell-erotischer Intensität zu knüpfen. Vielleicht gelingt es Ihnen und mir – im Austausch bildnerischer Poesie?

Ihr ORPHEE

und wie würden sie sich das vorstellen?

In allen Anfängen liegt ein Begehren und ein dunkel-süßes Verlocken zur Enthüllung des so unbekannten fremden Zaubers. So wie die erste Linie einer Federzeichnung, das erste atemlose Setzen einer Farbe zum Ausdruck der traumtiefen, inneren Ahnung wird, so ist nicht die geschlossene Vorstellung, sondern die offene, verführerische Suche das mutige Zeichen des Beginnens. Aber die virtuellen Wege setzen Grenzen und Möglichkeiten zugleich für einen sich annähernden Austausch, für eine unendlich freie Begegnung. Wir sollten deshalb gegenseitig wissen, welche Instrumentarien unsere virtuelle Kommunikation ermöglichen und vor allem kreativ gestalten.

Meine PC-Instrumente sind:

Page Maker

Corel Draw

Photoshop (Meine Bild-Anlagen sind TIFs oder JPEGs.)

Meine Bilder:

Akt

Ars erotica

Landschaft

Und Sie??? Ich bin (neu)gierig auf die Bilder, die nicht im Netz gezeigt sind, und auf die ungemalten, vorerst noch erträumten Bilder.

Für heute genug.

Unbekannt & glühend

 

Orphee

Mit Rührung lese ich diese Zeilen, die im Zeitalter der Bildersprache und Zweiwortsätze ja schon extrem exotisch-erregend auf mich wirken. Einen Dichter wollte ich immer schon zu meinem Bekanntenkreis zählen. Und übel sieht er auch nicht aus – wenn das ziemlich unscharfe Bild, das er gemailt hat, wirklich echt sein sollte, finde ich ihn sogar recht attraktiv.

ihr poetisch-kryptischer stil gefällt mir – obschon er sich nicht mit meinem deckt. da ich im zivilberuf eine äußerst diesseitige unverträumte bodenständige, nur allzu weltliche architektin bin, besitze ich nur berufseinschlägige hard- und software. ja nicht einmal ein scanner befindet sich derzeit in meinem besitz. ich bin bemüht, dieses manko ehest möglich auszugleichen, würde mich ja ansonsten wie ein lehmverkrusteter zwerg neben lauter sonnenbeschienenen wesen fühlen; dennoch kann ich ihnen via internet keines meiner bilder zeigen, lediglich die ihren bewundernd betrachten. macht es ihnen etwas aus, mir zu sagen, wer sie sind? wie sie aussehen, weiß ich jetzt schon, wie ich aussehe, wissen sie ebenfalls schon durch die homepage. ich würde übrigens eine gemeinsame – nicht virtuelle – ausstellung bevorzugen.

Sie lieber, charmanter Zwerg,

kokettieren Sie nicht mit einer (vorgeblichen) unverträumten Diesseitigkeit, mit einem unerotischen architektonischen Dasein, dessen heiligster Zweck und Dienst sich jede Sehnsucht nach Traum und Fantasie verböten – Ihr Bild, trotz aller Unschärfe, Ihre geheimnisverbergenden Augen und überdeutlich Ihre Kunst verraten die heftige sinnliche Gegenteiligkeit. Oh, ich kann so vieles darin lesen und mehr noch ahnen, aber um wie viel lieber noch würde ich Sie malen und Zeichnung um Zeichnung die in Ihnen unruhig ruhenden Geheimnisse dechiffrieren.

Zwischen nervösem, zeitraubendem Eingebundensein in Aufgaben, Einladungen und Verpflichtungen schreibe ich diese Zeilen und muss auch schon enden. Vielleicht noch heute spät am Abend mehr.

ORPHEE

Nun noch einen Gruß zur Nacht und ein wenig Traumsand für die Augen.

Mit Unwillen bin ich heute Abend einer lang schon ausgesprochenen Einladung gefolgt und mit wachsendem und zunehmend großem intellektuellen Vergnügen habe ich dann doch den Abend sehr genossen: einige Abstecher in die politische Diskussion (Tagesaktualitäten), dann persönliche Gespräche und Annäherungen und länger dann Reflexionen über Rezeptionsbedingungen zu künstlerischen Ausdrucksformen. Ein nicht erhoffter glücklicher Abend. Interessant: der sich steigernde Reiz, Ihnen von allem Mitteilung machen zu wollen.

Gute Nacht

ORPHEE

meistens entpuppen sich „events“, denen man ohne erwartungen beiwohnt, als sehr fruchtbarer zeitvertreib. ist es nicht mit allen dingen im leben so? sobald man absichtslos an sie herangeht, wird man durch sie beschenkt. wenn man aber meint, man müsste doch irgendetwas erzwingen können, geht man total leer aus. was meine malerei anbelangt, fürchte ich, muss ich sie enttäuschen – bin ich doch nicht ausschließlich auf der erotischen welle – der ganze mensch interessiert mich – vom gesicht bis zum letzten zeh, im augenblick sind die gesichter dran. da ich katzen sehr liebe, werden auch sie gezwungen, sich still sitzend porträtieren zu lassen. und ganz gelegentlich tob ich mich abstrakt aus und stell mir vor, farben- und formenreich die statikgesetze in volle farbtöpfe umzuwandeln, die keiner weiteren inhalte mehr bedürfen. ihre bilder gefallen mir sehr gut, obgleich ich eine leichte abwertung der frauen bzw. eine reduktion auf deren geschlechtsmerkmale zu erkennen glaube. ist das eine augenblickliche lebensphase oder entspringt es ihrer einstellung zu frauen? o

Jetzt bin ich neugierig, ob er mir auf meine ehrlich gestellte Frage auch eine ehrliche Antwort liefert. In seinen Bildern scheint er die Frauen ausschließlich auf deren Hintern und Geschlechtsmerkmale zu reduzieren und meine bisherige Lebenserfahrung lehrte mich, dass in die menschliche Darstellung sehr viel persönliche Einstellung einfließt.

An manchen Sonntagen verliert man sich zwischen Lust und Lethargie und die Stunden verrinnen wie Sand zwischen den Fingern einer müden Hand. Ein grauer Regentag lässt die goldenen Blütenfarben des frühen Sommers in Melancholie zerfließen und ich bin ein wenig griesgrämig – pardon.

Eine kleine Zeichnung habe ich dir auf deine Frage nach meinem Verhältnis zu Frauen mit einer Antwort „beschrieben“, die in der Knappheit nur streiflichtartig das sehr komplexe und künstlerisch verwobene Thema zwar belichten, aber kaum erhellen kann. Ich denke über deine Frage weiter nach und werde dir darüber schreiben, obwohl ich es vorziehen würde, wenn wir uns beide im Verhältnis zum komplementären Geschlecht und dem erotisch Geschlechtlichen gemeinsam bildnerisch austauschen könnten.

Das Erotische bestimmt für mich zwar wesentlich und magisch-poetisch wie visuell das Thema Frau, aber keineswegs reduziert es deshalb die faszinierende Ganzheitlichkeit, die intellektuelle Spannung und das empfindsame Spüren z. B. zwischen dir und mir.

ORPHEE

Eine klassisch ausweichende Antwort – was fasziniert mich trotz alledem an diesem Mann, der sich in verbal dreifach gehechteten Auerbachs ergießt?

Liebe a,

bitte verzeihen Sie mir die unabgestimmte, geraubte Vertraulichkeit des „Du“, die sich in meinem vorigen Brief ganz unwillkürlich, mir fast selbstverständlich einstellte. Wir haben, trotz Ferne und Unbekanntheit – vielleicht gerade auch deshalb – eine Intensität des Austausches erreicht, für die manch andere „Beziehungen“ eine wesentlich längere Dauer an Zeit und Erfahrung miteinander benötigen. Ist das ein hinlänglicher Grund für ein „Du“? Und das vorschnelle „Du“ eine lässliche Sünde? Zur Sündenvergebung ein kleiner Einblick in mein privates „Atelier“ – die Apostrophierung deshalb, weil der Begriff Atelier etwas hochgestapelt ist, richtiger wäre eher: kleiner gemütlicher Arbeitsplatz am Fenster meiner „Bibliothek“ (hier verzichte ich auf nähere Erklärungen zu „Bibliothek“).

ORPHEE

Anlage: Atelier

nein, das „du“ nehm ich dir nicht übel, im gegenteil – von allen beziehungen, die ich bisher zum anderen oder mit dem anderen geschlecht hatte, ist diese hier die interessanteste und aufregendste. dabei kann ich mir nicht erklären, warum – liegt es an der unsichtbarkeit des „gegners“, was möglicherweise hemmungen reduziert? o

Ja, das ist ein Teil, vielleicht ein wichtiger Teil des Zaubers, der nur dauert, wenn er nicht hinterfragt wird, nicht der fiebernd zärtlichen Neugierde bzw. der unendlich wachsenden Begierde erblindend unterliegt.

Es gibt keinen „Gegner“ in diesem Labyrinth der traumtiefen Sehnsüchte, es ist die eigene Tiefe, dieses wild archaische Tier, dem wir im „Du“ überrascht und erbebend Aug in Aug gegenüberstehen. Das „Du“ ist unser Spiegel und Spiegelbild zugleich, ein Orakel das sich selbst erfüllt.

Ich bebe.

ORPHEE

Wieder einmal hab ich mich total selbst verleugnet, hab genau wie er durch eine Maske gesprochen. Natürlich nehm ich ihm das „Du“ im Innersten übel, außerdem ärgert es mich außerordentlich, dass er meine Fragen nicht beantwortet, sondern lediglich poetisch herumformuliert. Außerdem hab ich den Verdacht, er will doch nur eine Form der sexuellen Entladung im virtuellen Gespräch finden. Irgendwie fühl ich mich frustriert. Ich muss ihm das im nächsten Anlauf unbedingt mitteilen.

leider hat sich das orakel, von dem ich oft träume, bis dato nicht erfüllt. ich bin von eigenartigen spiegeln umgeben, ich sehe nur fremde gestalten, kann meine eigenen konturen kaum oder gar nicht im spiegel erkennen. leider hab ich heute einen harten arbeitstag, am abend einen arztbesuch, treffe danach eine Freundin und werde daher erst sehr spät auf deine worte reagieren können. ich wünsche dir einen erfüllten tag. o

Nun noch einen letzten lieben Gruß ins vorsommerlich heitere Wien, in dem ich lange gelebt, das ich seit ich weggezogen bin, einige wenige Male besucht und dabei kaum in seinem wirklichen Charme entdeckt habe. Dennoch habe ich es lieb gewonnen und gestalte heute mit neuem, leidenschaftlichem Grund die Erinnerungen zum Rahmen unseres Kennenlernens um.

Ich übernachtete einmal vor Jahren im Sacher, für eine Wienerin vielleicht degoutant, daran zu erinnern, da man genießt und schweigt – aber für einen Fremden aus der vieldeutig kühlen Provenienz des nördlichen Deutschlands eine sehr beschwingte und gern erzählte Reiseerinnerung. Ich hätte damals so gern die viel gerühmte Albertina besucht, aber Zeit und Umstände ließen es nicht zu – nun sicher später einmal.

So gern ich mit dir in direkten „digitalen“ Austausch der Worte treten möchte, so sehr genieße ich noch diese Form des quasi monologen oder traditionell brieflichen Mittels. Es steht nicht so unter dem Drang der (zu) schnell gesetzten und erwarteten Antwort, sondern genießt die Muße des Überlegens, der Reifung des Mitzuteilenden. Und: Es schafft die vibrierende Hochspannung auf das Unerwartete von dir.

Nun, was meint die von dir besuchte Freundin zu deiner „Liaison virtuelle“? Vorausgesetzt, sie ist eine enge Freundin und gute Ratgeberin?!

Eine gute Nacht,

träume meine Träume

ORPHEE

kannst du eigentlich auch – wie orpheus – singend die felsen bewegen? und es drängt mich, dir zu sagen bzw. zu schreiben, dass mich die bilder ganz außerordentlich berühren, egal, wes geschlechts sie sind bzw. welches sie darstellen. wie heißt du eigentlich? doch nicht orpheus? o

Im späten Abendrot treiben goldgeflammte Wolkeninseln ins Dunkel der heraufziehenden Nacht, schlaf nun ein, sei sanft und still und sicher wie ein Kind und befrag nicht mehr das Unsagbare.

ORPHEE

Befrage nicht das Unsagbare? Was hat dieser Dichter und Träumer vor mir zu verbergen? Der entfacht ja richtiggehend meinen Jagdinstinkt, den ich seit Jahrzehnten geglaubt habe, nie wieder zu benötigen oder gar einsetzen zu müssen. Was ist los? Seit zwei Tagen höre bzw. lese ich keine Zeile mehr von meinem Orpheus aus dem hohen Norden – und obwohl ich unsere virtuellen Zusammenkünfte sogar mit Verachtung strafe, fehlen sie mir ungemein. Die Erwartung der täglichen Post schlingt sich teilweise wie ein Moloch durch mein alltägiges Schaffen. Soll ich das mitteilen? Kann frau mit einem Mann denn so offen reden?

guten morgen! kein frühes morgenrot, ein tristes, fettes grau umwölkt die stadt derzeit. lass mich bitte das unsagbare noch einmal formulieren: wie heißt du? ich wünsche dir einen schöpferischen tag, nicht so einen reproduktiven, wie ich ihn jetzt vor mir habe. ist meine annahme richtig, dass du nicht mehr mit mir dialogisieren möchtest, oder bist du aus zeitlichen gründen verhindert, unsere liaison virtuelle fortzusetzen? o

Bitte belade dich und mich nicht mit ungerechtfertigten Zweifeln, die einer spontanen Ungewissheit folgen – sie entwickeln sich leicht und allzu oft zu giftigen Ungeheuern, die die Seele verletzen oder gar zerstören.

Auch mein Alltag ist von vielen Unwägbarkeiten und Bestimmungen meines Lebensumfeldes, meiner Profession und der daraus abgeleiteten Verantwortung und Verpflichtung bestimmt. Auch geplante oder ad hoc entschiedene Abwesenheit (wie bis gestern spätabends) bestimmt nicht unerheblich meine zeitlichen Räume der Präsenz und Möglichkeiten, den „Briefwechsel“ mit dir zu führen.

Sei also bitte sorglos – diese kurzen Zeilen nur schnell vor neuem, drängendem Aufbruch und als „balsamisches Therapeutikum“ für die Seele gedacht. Heute Abend mehr.

ORPHEE

nicht, dass die ungewissheit meine seele zerstört hätte, zu solch einem ungeheuer hätte ich sie gar nicht erst anwachsen lassen. in meinem alter hat die erfahrung – gott sei dank – bereits ein gutes stück gelassenheit produziert, die sozusagen als seelische reserve ausgeschüttet werden kann. (Von wegen – ich lüge ja schon wieder – nur um zu gefallen, um eindruck zu hinterlassen – manchmal versteh ich mich selbst nicht mehr.) interessanter- und unerwarteterweise hebt unser briefwechsel die fantasie und vorstellungskraft zweier meiner freundinnen völlig aus den angeln. ich kann dir daher nicht berichten, was diese von unserer virtuellen freundschaft halten. jedoch – es ist mir auch ziemlich gleichgültig. zu oft im leben schon – vor allem in jungen jahren – habe ich mein denken und tun nach meinem sozialen umfeld ausgerichtet. ich denke, mittlerweile meine identität gefunden zu haben. was immer dir heute widerfährt – es möge angenehm für dich sein. olivia

 

so eigenartig es klingt: ich war es schon so gewohnt, meine tägliche post abzurufen, dass ich deine poetisch-philosophischen ergüsse die zuletzt gewartete zeitspanne hindurch echt vermisst habe. dabei fällt es mir schwer mir vorzustellen, jemand könnte noch ausgelasteter beschäftigt sein als ich. aber alles ist offenbar möglich olivia

Deine Erwartung ist ein sehr, sehr zärtliches Kompliment, mit dem ich äußerst behutsam umgehen will. Es ist ein gutes Gefühl, ein kleines Glück, beim anderen Erwartungen wecken zu können und zugleich ganz still und unmerklich, aber mit stark und stärker werdender Sehnsucht eigenen Erwartungen nachzuspüren.

Hast du meinen Brief vom heutigen Vormittag erhalten?

ORPHEE

leider habe ich deinen brief vom 24. 6. vormittag nicht erhalten, ebensowenig wie deine anlage „krankes mädchen“. ich freu mich aber genauso über eine verspätet ankommende nachricht. es entspricht meinem naturell, die dinge nicht geheimnisvoll vor mir herzuschieben, sondern direkt auszusprechen. zu viele missverständnisse haben in meinem leben – ob erlebt oder beobachtet – schon beziehungen zu menschen abgeschnitten, weil kein direkter verbaler zugriff auf akute probleme erfolgt ist – immer in der angst vor beziehungsverlusten. ich will diesen weg nicht länger beschreiten. außerdem denke ich, ich werde mir in kürze einen scanner zulegen, um auch dir bilder schicken zu können. ich hoffe, ich technisch unbedeutsames antitalent werde das schaffen. habe nur angenehme erlebnisse heute oder sieh sie zumindest so! o

Ich bin ein wenig müde, belastet und sorgenvoll (um meine Tochter, 20 Jahre alt), das lastet wie Blei auf den Flügeln des Ikarus und färbt das verwitterte Fell des Steppenwolfes nun vollends grau.

Aber ich freue mich sehr über deine Nachricht und bedauere gleichzeitig, dass du meinen Brief von gestern früh nicht erhalten hast. Er war von einer anderen E-Mail-Adresse an dich gesandt und nun ist er scheinbar unrettbar in den Weiten der mir unerklärbaren digitalen Welt verloren, denn nach dem Senden habe ich ihn auf dem fremden PC aus Sicherheitsgründen gelöscht. Nun, es ist kein großer „literarischer“ Schaden.

Doch den ebenfalls nicht erhaltenen Anhang „Krankes Mädchen“ kann ich dir erneut senden – ein Bild, das dir vielleicht einiges über mich sagen wird.

Viel mehr Lust hätte ich zum Austausch der erotischen Zeichnungen, aber Stimmung und Kraft fehlen mir und dir fehlt der zwar geplante, aber noch nicht angeschlossene Scanner, sodass die „Erotik“ zur Zeit ohnehin nur eine laue Einbahnstraße wäre. So lese ich denn Rilke und Byron und hoffe auf glücklichere (technische) Vernetzung mit dir.

Zu deiner Frage nach meinem Namen: Wenn deine Fragen nach meiner Identität und meinen Lebensverhältnissen dir wirklich wichtig sind, so will ich sie dir mitteilen, es ist kein Geheimnis darum – aber frage dich bitte, ob nicht erst das Unbekannte zwischen uns die Intensität unserer Briefe und den süßen, zärtlichen Schleier der ungestillten Wissbegierde erregend erhält. Bitte entscheide du.

ORPHEE

Noch eine bisher immer beiseite geschobene Frage zu deinen mir bekannten, im Netz ausgestellten Bildern, speziell zu der feinfühlig und zugleich expressiv getuschten Vagina und zum stolz-vitalen Schwanz: Ist das nur das naturwissenschaftlich ästhetische Interesse einer distanziert beobachtenden und illustrierenden Biologin? Zugleich ist die unmittelbare Verlockung so sehr darin angelegt, dass ich immer wieder und wieder deine Briefe nach Zeichen für eine Entschlüsselung des Rätsels geradezu kriminologisch untersuche.

Hilfst du mir oder belässt du mir die (verlockende) Bürde des Entdeckens – gegen meine ungezügelte Neugier (dann gib mir aber wenigstens einen kleinen Wegweiser).

ORPHEE

Das scheint ein extrem geiler Specht zu sein. Er will einen Wegweiser, interessiert sich offenbar nicht für mich, sondern für die „geilen“ Bilder, die ich nur für eine einzige Ausstellung gemalt hab. Er weiß nicht, wie sehr das schon damals meine schulische Vergangenheit wachgerufen hat. Denn nackte Gestalten sind unanständig. In der Klosterschule haben sie mich einige Male erfolgreich erpresst.

Ein „geglückter“ Versuch ist mir heute noch schmerzhaft in Erinnerung – es wird in der zweiten oder dritten Klasse gewesen sein; wir hatten Schreibunterlagen aus Karton, um die Schulbänke zu schonen. Teils gedankenversunken, teils andächtig der Lehrerin lauschend, kritzelte ich – als würde meine Hand von einem fremden Wesen geführt – wellenförmige Linien senkrecht auf die Unterlage. Mit Tinte und zu allem Unheil nicht parallel zueinander, sondern gegengleich. Dadurch entstand die Silhouette einer weiblichen Figur – einer nackten weiblichen Figur noch dazu. Gelegentlich tauchte die flüchtige Assoziation zu eben dieser weiblichen Figur in mir auf, doch nichts Böses ahnend und auch nichts Derartiges beabsichtigt habend, überließ ich meine Unterlage unkontrolliert ihrem auf meinem Tisch liegenden Schicksal. Diese wartete indessen einladend auf neugierige Blicke. Und die Blicke meiner Mitschülerinnen kamen wie das Amen im täglichen Schulgebet. Eine Einzige machte die schmachvolle Entdeckung, die wahrscheinlich niemand anderem aufgefallen wäre. Und dann plötzlich sahen es alle. Selbst diejenigen, denen erst mühevoll erklärt werden musste, was sie hinter meinen Linien zu sehen hatten, jene, die ewig lang nicht begreifen wollten, wurden mit einem Mal zu radikalen „Pornojägerinnen“. Die ganze Klasse hat sodann von meinen in redlichster Absicht gezeichneten Linien profitiert. Vom täglichen Jausenapfel bis zum wöchentlichen Taschengeld lieferte ich gehorsam eingeschüchtert mein „Schutzgeld“ ab, um mich vor den vermeintlich drakonischen Strafen der hysterisch moralverteidigenden Schwestern zu bewahren. Niemand würde mich nunmehr verpetzen und mich dieser Schmach und Schande ausliefern. (Von der Existenz der Mafia erfuhr ich allerdings erst 15 bis 20 Jahre später. )

ist es das schicksal deiner tochter, welches dich dieses ergreifende bild malen ließ und das wie blei auf deinen flügeln lastet? Auch ich habe eine tochter, deren gesundheit mir große sorgen bereitet. lass mich das thema wechseln: ich habe diese webseite nicht selbst ausgesucht, ein käufer meiner bilder machte mir eines tages das angebot, mit erotischen bildern auf seiner webseite verewigt zu sein, es mussten aber „ganz geile“ sachen sein. nun, da ich eigentlich für pornografie wenig übrig habe (der cavalier, die cavalliere genießt und schweigt), war ich damit beschäftigt, das erotisch markanteste, sozusagen die schlüsselsignale von mann und frau so darzustellen, dass es gerade noch nicht pornografisch ist – ich denke, bei der vagina ist es nicht ganz gelungen, das bild gefällt mir nicht – wie ich überhaupt angedeutete erotik dem feisten geilen sex auf abbildungen vorziehe. bei der darstellung – sowohl grafisch als auch verbal – von erotisch-sexuellen details oder auch liebesakten (gern habe ich auch solche gemalt) findet sich fast immer bewunderung oder verachtung des eigenen und/oder anderen geschlechts. zum damaligen zeitpunkt – ich geb es gerne zu – war meine verachtung gegenüber männern überwiegend (resultat aus dem erotischen teil meiner persönlichen lebensgeschichte). mittlerweile sehe ich die dinge etwas gelassener. es ist mir kein dringendes bedürfnis, deinen namen zu kennen, allein deine signatur und deine e-mail-adresse haben meine neugier geweckt. und da ich auch glaube herausgefunden zu haben, dass du der französischen sprache mächtig bist, hatte ich so einen nebengedanken … bis später o

Ein goldner Sommer-Sonnentag!! So schön, so reich an Glück und voll tiefer Erfüllung. Verschwenderisch und gleißend im Licht, eine Seligkeit von Himmelsbläue – wie in frühen Kindertagen. Ein warmes und glutvolles Grün der schläfrigen Wiesen, sanft gebrochen an den Wegesrändern und flirrend schattiert zu den Wäldchen hin, die bei uns weit und eben wie ein göttliches Innehalten so magisch die flachen Horizonte besäumen. Ein Tag, an dem die Gedanken steigen und sich hoch und höher hinauf schwingen wie die Feldlerche ins heilige Blau des Himmels.