Die tragende Haut

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Ich schaue ihr nach. Dankbarkeit und ein Staunen überkommen mich. Fremd waren Ina und ich uns bis zu diesem Ereignis. Doch was für einen Gleichklang haben wir darin erlebt! Nun bin ich wieder allein mit dir. Ich stehe an deinem Fußende. Was für eine Reise haben wir zusammen gemacht! Der Raum ist angefüllt mit Andacht. Innen und außen: der Innenraum umhüllt den Außenraum. Ein Raum in einer uns gemeinsam tragenden Atmosphäre. Hier sind wir behütet. Dies wird unser Treffpunkt sein, der Ort unserer zukünftigen Begegnungen. „Das ist eine weitere Verabredung“, sage ich lächelnd zu dir, „Ort bekannt, Zeitpunkt noch unbekannt.“ Und du lächelst mir zu, mit einem seligen Lächeln. Die Amsel beginnt wieder zu singen, sie stimmt uns zu, sie trägt uns auf ihrem Gesang empor. Ich schaue in dein Antlitz, die Röslein, die Röslein. Sie duften. Sie duften himmlisch.

Jetzt kann ich gehen. Ich schaue noch einmal in den Raum, auf dich, in dein Gesicht. Mein letzter Blick, ein Abschiedsblick. Er ist trotz allem wehmütig, eine mit Sehnsucht angefüllte Wehmut – die Sehnsucht, dich wieder so sehen zu wollen, die Wehmut, dich nie mehr so sehen zu können.

Die Ablösung muss sein, sie fällt mir schwer. Ich kehre dir den Rücken zu, öffne die Tür, trete hindurch, drehe mich um und schließe sie.

Ich gehe den Weg entlang zurück. Weiter konnte ich nicht mit dir reisen. Ich bleibe hier. Mit dem Gefühl einer Zurückgebliebenen steuere ich auf das Klinikgebäude zu Richtung Empfang. Bin ich traurig, dass ich zurückgeblieben bin? Nein. Auf mich warten zu Hause meine Lieben, mein Kind, mein Mann und die Hündin Patty Gold. Und vielleicht ist auch meine Freundin Sara noch dageblieben. So navigiere ich auf mein weiteres Schicksal zu, auf meiner irdischen Bahn, mit dem Lichtpunkt dieser Erfahrung als Lotsen.

Nachklang

Nachtfahrt

Im Zug fahre ich durch die Nacht zurück. Die Räder drehen sich unerbittlich, und ich entferne mich immer mehr von dir. Du liegst von mir zurückgelassen im kleinen Gartenhaus. Nie mehr werde ich dich sehen. Der Abschied ist endgültig. Es ist wie ein Abbruch. Alles, was ich bis jetzt nicht für dich getan habe, werde ich nie mehr nachholen können! Dieses „Nie mehr“ kann ich nicht fassen.

Die Zeit vor deinem Sterben erscheint. Du warst dem Geflecht der Klinik überlassen, ich vom Getriebe des Alltags absorbiert. Wir befanden uns nicht hautnah beisammen. Dich besuchen bedeutete: Termine freischaufeln, den Zug besteigen, Distanz überwinden, die Beziehung wieder neu knüpfen. Dein Gesicht schaute mir jeweils aus den weißen Laken des Spitals entgegen, ich ergriff deine Hand und es dauerte, bis wir einander wieder fanden. Oft ist uns eine Begegnung gelungen. Aber gemessen an der Tatsache, dass es so nie mehr geschehen kann, war es viel zu wenig. Jetzt sind diese Gelegenheiten unwiederbringlich verloren. Daran habe ich vor deinem Sterben nicht gedacht. Das Leben schien endlos so weiterzugehen, wie wir es gewohnt waren. Schmerzlich wird mir bewusst: Wie viel mehr wäre möglich gewesen, was ich dir hätte geben können! Vorwürfe schleichen sich ein, Schuldgefühle, Tränen steigen hoch. Fassungslos stehe ich vor all dem Verpassten. Nicht der Tod ist zu fürchten, sondern sich nicht mit Hingabe auf das Leben eingelassen zu haben.

Ich schaue in die Dunkelheit hinein. Manchmal sehe ich auf meiner Seite zu Lichtern von erleuchteten Häusern hinüber, manchmal reflektieren von der anderen Seite her Lichter auf meiner Fensterscheibe. Ich erinnere mich plötzlich an den Gedichtband, den ich vor meiner Abreise in die Tasche gesteckt hatte, und krame ihn zwischen Fahrkarte, Haarbürste und Handy hervor. Darin steht ein Gedicht von Rumi, das mich schon seit Jahren begleitet. Wie wird es heute zu mir sprechen? Ich schlage es auf und übersetze für mich:

Jenseits aller Ideen von falschem und richtigem Tun gibt es ein Feld: Dort werde ich dir begegnen. Wenn die Seele sich ins Gras hinlegt, ist die Welt zu voll, um darüber zu sprechen.

Wieder einmal leuchten mir Rumis Zeilen entgegen. Ich atme auf. An diesem Ort sind wir uns begegnet, in deinem Sterben und auch oft davor. Diese Momente zählen. Es sind innere Trittsteine zwischen uns, und solange ich mich an sie erinnere, sind sie unvergänglich.

Ich sehe wieder eine späte Begegnung mit dir vor mir. Ich sitze an deinem Bett. Deine Hand sinkt in meine, mager, sehnig, gelblich. Ich spüre, wie sie ihr Gewicht abgibt und sich mir anvertraut, als würde sie sagen: Gut, dass du da bist. Deine Augen erreichen meine. Dein Blick liegt hellbraun, mit leichtem Goldglanz auf mir. Unsere Augen berühren sich zärtlich, berühren tief drinnen unser innerstes Wesen. Worte? Keine. Unsere Augen finden sich wortlos in einer Frage, einer Fragebewegung ins Offene, die zu meinem Erstaunen eine Frische in sich birgt.

Nun werde ich wieder erfüllt von deinem Sterben, Monika. Mein Bedürfnis, es zu verstehen, ist tief. Fragen kommen, Antworten gehen, ich lausche in mich hinein. Wie ist es möglich gewesen, all dies mit dir zu erleben? Ich hörte zu dir hinüber, du grüßtest zu mir herüber. Wir lauschten gemeinsam in einen Raum dazwischen, und darin entstand die Freiheit, den Übergang von einer Welt in eine andere zu erfahren.

Warum diese innige Nähe zwischen uns? Ich wollte dich dorthin begleiten, wohin du gingst, du wolltest mich dahin grüßen, wo ich verblieb. Dies öffnete weit alle Sinneskanäle: Ich vernahm den Ton, sah das Licht, roch die Süße des Duftes und schmeckte Vergessen und Erinnern. Ich berührte dich von hier aus und du mich von dort aus. Unsere Liebe umspannte beide Welten. Ist das nicht erstaunlich, Monika? Du warst doch früher für mich immer wieder die „böse Stiefmutter“ und ich für dich das „schwierige Stiefkind“. Und jetzt hat diese gemeinsame Erfahrung so viel Schweres verwandelt.

Vieles klingt nach. Was erkenne ich zuerst?

Die Bewegung: Ich hatte deutlich das Gefühl, als würdest du dich von der Erde zurückziehen, weg vom Raum unterhalb deiner Füße, hinaufziehen in deinen Herzinnenraum. Ich erinnere mich wieder, wie ich mit dir hier verweilte, mein Ohr an deinem Herzen, bis ich oberhalb deines Kopfes ein Licht spürte. Bist du da hinaufgestiegen und hast dich durch das Licht wie durch ein unsichtbares Tor hindurchgezogen, hinüber? Ich erinnere mich noch genau: Zu dem Zeitpunkt, als ich das Licht wahrnahm, atmetest du aus und nicht wieder ein.

Oder doch? Ich hatte das Gefühl, es „atme“ noch, so als würdest du woanders weiteratmen. Hast du da wieder eingeatmet? Hast du mit dem letzten Ausatmen hier losgelassen, um dort anzukommen? Und wer begrüßte dich dort bei deinem ersten „Einatmen“? Hast du dabei geseufzt wie damals mein neugeborenes Kind bei seinem ersten Atemzug? Ich höre noch sein „Ah!“ Höre ich deines?

Ein Resonanzraum von Sterben und Geborenwerden klingt in mir an. Träume ich schon halb? Müde bette ich meinen Kopf in den flauschigen Mantel. Zu Hause werde ich alles meiner Familie erzählen.

Heimkehr

Ich komme nach Hause und stoße die Tür auf. Niemand ist da, niemand erwartet mich, niemand heißt mich willkommen. Du hast dich ja auch nicht angekündigt, beruhige ich mich. Ich stelle den Koffer im Eingang hin, gehe die paar Treppenstufen zum Wohnzimmer hinauf und öffne die Tür. Was für ein Anblick: Da thront die junge Collie-Hündin Patty Gold wie eine Königin auf meinem Sofaplatz. Sie weiß genau, dass sie da nicht hingehört. Weil sie nicht mehr unentdeckt hinunterspringen kann, dreht sie elegant den Kopf von mir weg und schaut zum Fenster hinaus in die Nacht, als würde ich so nicht mehr für sie existieren, als könnte sie sich durch die Drehung ihres Halses unsichtbar für mich machen. Wie ein kleines Menschenkind, denke ich erheitert. Und wer sitzt vor ihr im Ledersessel vor dem Fernseher, zu einer Zeit, wo er schon längst schlafen sollte, und lässt vergnügt die Beine baumeln, versunken in ein Videospiel? Mein Sohn Tim. Ich erhasche mit einem Blick eine Sequenz auf dem Bildschirm. Er spielt wahrhaftig „Perfect Dark“, ein Spiel, das ich verboten und versteckt habe, nachdem es einst heimlich in unserem Haus Einzug hielt. Es geht in diesem Spiel darum, Menschen so gezielt wie möglich mit Pistolenschüssen in die perfekte Dunkelheit zu befördern.

„Was geht denn hier vor?“, durchbreche ich lauthals und streng die konzentrierte Stille. Tim schaut auf, überrascht: „Du bist schon zurück? Ist Monika schon gestorben?“ Geistesgegenwärtig knipst er das verbotene Spiel vom Bildschirm weg. Doch die Hülle der Kassette liegt verräterisch neben ihm auf dem Boden. Soll ich schimpfen oder ihm auf die Frage antworten? Da ich selber noch so sehr von Monika erfüllt bin, blende ich für dieses Mal mein mütterliches Erziehungsethos aus und antworte einfach: „Ja.“ – „Du bist doch erst heute Morgen abgereist“, meint Tim. In seiner Stimme ist die Enttäuschung nicht zu überhören, dass ich schon wieder da bin und es mit der neu gewonnenen Freiheit bereits vorbei ist. Aber zugleich tritt auch eine große Neugier in sein Gesicht: „Geht Sterben denn so schnell?“

„Bei Monika schon“, gebe ich zur Antwort und drehe den beiden kurz den Rücken zu, um nach Dennis und Sara zu rufen. Da höre ich, wie Patty mit einem Satz vom Sofa hinunterspringt und sich am Boden auf ihr Schaffell setzt und Tim rasch die Hülle der Videokassette unter seinen Sessel schiebt. Ich drehe mich sofort wieder um. Patty schaut mich mit einer Unschuldsmiene an, als wäre nichts gewesen, was Tim, von sich ablenkend, lachend kommentiert: „Sie weiß doch genau, dass dein Platz auf dem Sofa für sie verboten ist!“ – „Aha, und du? Gehörst du nicht schon längst ins Bett? Und was spielst du da?“ Nun dreht Tim, wie vorher Patty, nur nicht mit derselben Anmut, den Kopf entschieden von mir weg, lässt mich so gezielt aus seinem Blickfeld verschwinden und ruft zur Türe hin: „Dennis, Sara, Mirjam ist zurück!“ Ich höre die beiden herbeieilen.

 

Allegro

Wir sitzen alle um den runden Glastisch bei einer Kanne Tee und tauschen uns über das Reich des Sterbens aus: Dennis, Sara, Tim und ich. Auf dem Boden liegt Patty Gold. Obwohl Patty noch nicht einmal ein Jahr alt ist, stellt sie aufmerksam ihre Ohren auf, wenn Wichtiges besprochen wird, während der achtjährige Tim in unserer Familie die Dialoge schon entscheidend mitgestaltet.

„Ist Monika friedlich gestorben?“, fragt Dennis sogleich. „Ja, es war unglaublich!“ Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll, alles will gleichzeitig aus mir heraussprudeln. „Erinnert ihr euch an Tims Geburt?“, suche ich einen Anfang. Ich erzähle, wie mir Monikas Sterben in vielem ähnlich erschien: „Wir waren beide in einem Geburtskanal, nur ging die Reise in die umgekehrte Richtung. Bei Tims Geburt musste ich damals zwei Tore aufstoßen, eins zum Himmel und eins zur Erde hin, damit er durch das untere Tor auf die Welt kommen konnte. Bei Monika war es, als würde ihre Energie wie Wasser durch ein Tor unterhalb ihrer Füße hinauffließen, danach lange in ihrem Herzen verweilen, bis sie sich dann durch ein Tor oberhalb ihres Kopfes zog, hinauf.“

„Das erinnert mich an deinen Traum, den du mir nach Tims Geburt berichtet hast“, meint Dennis sofort, „da schwebtest du in einer Gondel ins Unsichtbare, in den Himmel hinauf. Schon damals meintest du, dass dieser Traum dir die Bewegung des Sterbens zeigen wollte.“

„Meinst du, Gott habe Monika in einer Gondel in den Himmel hinaufgezogen?“ fragt Tim belustigt. „Sie wäre doch viel zu schwer für ihn gewesen!“ – „Nein, das meine ich nicht wörtlich so, die Gondel ist ein Bild aus einem Traum.“ Für Tim ist diese Antwort nicht zufriedenstellend, aber er ist zu müde, um weiterzufragen.

Ich denke nach: Ja, es lohnt sich, wenn wir uns noch genauer an die Geburt erinnern. Vielleicht verstehen wir von ihr her Monikas Sterben besser. So wende ich mich an Sara: „Woran erinnerst du dich zuerst bei Tims Geburt? Es ist ja schon acht Jahre her.“ Ohne nachdenken zu müssen sagt sie: „ An die Heiterkeit und Leichtigkeit. Für mich hat die Geburt schon einen Tag vorher begonnen, wie wir zusammen auf der Treppe zum Obergeschoss saßen. Ich fotografierte deinen nackten, prallen Bauch. Wir waren beide in freudiger Erwartung.“

„Genau so erging es mir auch mit Monikas Sterben. Ich hörte schon Tage zuvor Beethovens Frühlingssonate. Sie stimmte mich heiter. Ich spürte, dass sie mir etwas verkünden will, wusste aber nicht genau was.“ – „Lasst sie uns hören“, sagt Dennis feierlich, „lasst uns zusammen Monikas Sterben würdigen.“ Die CD liegt noch wie vor meiner Abreise heute Morgen im Gerät, ich brauche nur auf die Fernbedienung zu drücken. Die Melodie erklingt, beschwingt uns mit ihrem Allegro. Patty Gold spitzt ihre Ohren, sie atmet im Rhythmus der Musik ein und aus und trägt uns alle auf den Wellen ihres tiefen Schnaufens mit. Auch Tim lauscht aufmerksam, kämpft aber zugleich mit dem Schlaf. Er möchte unter uns bleiben, eingebettet ins Reich des gemeinsamen Zuhörens und Erzählens, keinesfalls will er ins Bett geschickt werden, das merke ich deutlich. So lege ich ein Schafsfell neben Patty Gold und nicke ihm zu. Wortlos versteht er und kuschelt sich darauf. Er nimmt Patty in seine Arme, ergeben lehnt sie ihren Kopf an seine Brust. Behutsam lege ich eine Decke über Hundekind und Menschenkind. Tim und Patty schließen bald ihre Augen. Gespräche, Worte, Töne werden sie in den Schlaf hinübertragen.

Duft

Die Musik verklingt. Es bleibt ein Duft von Leichtigkeit im Raum. Dennis sagt erstaunt: „Ich bin gleichzeitig bei Monikas Sterben und bei Tims Geburt gelandet.“ – „Auch mir ist es so ergangen“, meint Sara. „Ich habe mich wieder daran erinnert, wie ich nach der Geburt als Erste in Tims Augen schaute. Dieser Blick! Ich sah damals etwas durch seine Augen wandern, von uralt zu neugeboren. Es fand eine große Verwandlung statt, als müsste er, von weither kommend, zuerst in seinem Neugeborenen-Gesicht ankommen. Und jetzt höre ich wieder Tims ersten Ton, diesen weichen, kleinen Seufzer, dieses Ah! Ich meine, dass Tim mit dem Seufzer nicht nur diese Welt begrüßt hat, er hat auch zugleich von einer anderen losgelassen. Als müsste er alles Frühere in den Hintergrund seines Bewusstseins treiben lassen, damit im Vordergrund Platz für dieses neue Leben entsteht. Und was für eine Süße lag in diesem Ton!“

„Süße“, erinnere ich mich, „erfuhr ich auch bei Monikas Sterben. Sie hat nach ihrem letzten Atemzug einen unendlich süßen Duft verströmt. Ich hatte das Gefühl, sie würde mich von einem anderen Ort mit diesem Duft grüßen. Und so war es auch nach Tims Geburt. Er lag auf meinem Schoß und duftete – unsäglich süß. Könnte es sein, dass die Welt, aus der er kam, mich damit einhüllte? Ich konnte mich nicht satt riechen an dem Geruch. Er strömte vom Scheitel seines Kopfes aus und ließ mich hineinsinken in einen unendlich weiten Mutterschoß. In ihm lag ich dann mit meinem Neugeborenen zusammen und fühlte mich geborgen.“

Vergessen und Erinnern

Wir sind alle eine Zeitlang in Gedanken versunken. Bis ich den Dialog wieder aufnehme und Sara einen Vorschlag unterbreite: „Machen wir doch ein Experiment. Gehen wir einmal davon aus, Monika komme soeben in einer anderen Welt an. Stell dir vor, du stehst mit ihr auf der anderen Seite. Du schaust als Erste in ihr Gesicht, wie du das beim neugeborenen Tim getan hast. Was siehst du in ihrem Blick?“

Sara schließt ihre Augen und beschreibt uns ihre Vision: „Ich sehe Monika vor mir. Etwas wandert von weit her kommend wieder in ihr Gesicht, als würden frühere Zeiten wieder in ihr Bewusstsein treten und ihr Sehen anfüllen. Sie erscheint mir als sehr weise. Ihr Gesicht sieht hell aus, hellsichtig.“

Skeptisch runzelt Dennis die Stirn: „Du meinst also, mit ihrer Ankunft an einem anderen Ort fände ein Wiedererinnern statt? Das verstehe ich nicht.“

Sara lässt sich nicht beirren: „Genau so habe ich es vor mir gesehen. Es hat Monika in Sekundenschnelle durchflutet. Umgekehrt habe ich es nach Tims Geburt in seinen Augen wahrgenommen: etwas ist daraus entschwunden. Als hätte er zuerst vergessen müssen, um hier anzukommen.“

Dennis kontert weiter: „Du behauptest also, dass mit dem Ankommen in dieser Welt ein großes Vergessen verbunden ist? Und damit ein Verlust an Hellsichtigkeit? Das ist eine gewagte Behauptung!“

„Ja, genau so verstehe ich es. Ich glaube, dass wir bei der Geburt Begrenzungen erfahren, die beim Sterben von uns wegfallen“, sucht Sara uns begreiflich zu machen. Sie gehe davon aus, dass wir hier im Diesseits nur noch Erkenntnisblitze davon erhaschen können, wer wir eigentlich wirklich sind, im Zusammenklingen von all den angesammelten Orten und Zeiten in uns, über Leben hinweg. Sie erklärt dies mit dem Déjà-vu-Erlebnis: „Jeder von uns kennt doch diese Erfahrung. Plötzlich überkommt uns das Gefühl, etwas schon einmal gesehen zu haben, obwohl wir nicht wissen, wann und wo. Es geschieht in Träumen, aber auch im Alltag.“ Sie denkt weiter nach: „Vielleicht ist deshalb der Reisedrang in uns so groß. Wir spüren, dass wir nicht nur äußerlich auf Reisen gehen, sondern auch eine Reise nach innen antreten. Wir richten uns unbewusst darauf aus, dass die äußeren Räume mit inneren Räumen zusammenklingen, die von weit her in uns aufsteigen.“

Dies geht nun Dennis entschieden zu weit: „So glaubst du also daran, dass wir so etwas wie frühere Leben durchlebt haben? Solche Erfahrungen wie das Déjà-vu können doch auch einfach Träume sein, die übereinander geschichtet in unserem Bewusstsein lagern. Sie fühlen sich wie verschiedene Wirklichkeiten an. Wir tragen sie in uns und versuchen, sie durch die Vorstellung von früheren Leben zu erklären.“

„Du magst Recht haben“, lenke ich ein. „Wir können hier nichts beweisen! Ich glaube, da muss sich jeder auf sein eigenes Gefühl verlassen. Jeder soll selber entscheiden, was für ihn stimmt!“

Licht

„Gibt es nicht auch eine Art von Erleuchtung, bei der wir uns schlagartig wieder erinnern?“, denkt Sara laut weiter, ohne sich durch unsere Einwände beirren zu lassen: „Ich habe gehört, das sei eine Erfahrung, die uns mit einem inneren Licht durchdringt und alles in uns erhellt. In Sekundenschnelle läuft dann das ganze Leben vor uns ab, und wir sehen es, als hätten wir für einen Augenblick in einer anderen Dimension eingeatmet. Und wenn wir wieder in dieser Welt ausatmen, sind wir zwar noch dieselben Menschen wie zuvor. Aber das Erlebnis hat uns so sehr geprägt, dass wir unser Leben von nun an anders anschauen und uns in ihm auch anders verhalten können.“

„Das sind Berichte anderer Menschen“, meint Dennis nüchtern. „Bevor ich so etwas nicht selber erfahren habe, kann ich es nur glauben oder eben nicht.“

Patty rührt sich und setzt sich auf. Tim erwacht mit ihr und reibt sich die Augen. Wir schenken den beiden keine Beachtung, so sehr sind wir in unser Gespräch vertieft.

Noch suche ich nach Parallelen zur Geburt. „Wie war das denn mit dem Licht bei Tims Geburt?“, frage ich Sara. „Du hast doch im Moment, als der Kopf erschien, ein Licht um ihn gesehen? Und danach schlüpfte der ganze Körper nach.“ Sara überlegt: „Ich erinnere mich nicht mehr so genau, aber da war eine helle Atmosphäre um ihn herum.“ – „Weißt du, ich frage dich deshalb, weil ich nach Monikas Sterben einen ähnlichen Lichtschein im Raum wahrnahm. Was war das für ein Licht? War sie in ihm noch anwesend?“

Tim kneift sich in den Unterarm. „Was kneifst du dich denn da?“, frage ich belustigt. „Ich wollte überprüfen, ob ich wach bin oder träume! Wovon sprecht ihr eigentlich? Von Wesen, die leuchten? Glaubt ihr denn wirklich noch an Engel?“, fragt er provozierend.

„Ja, Tim, wir glauben vielleicht wieder an Engel“, antwortet ihm Sara ernsthaft. Tim erwidert unverhohlen: „Dann könnt ihr ja auch gleich an Zwerge glauben und so Zeugs! An all das glaube ich längst nicht mehr! Das kenne ich vom Kindergarten!“ In seiner Stimme klingt Überlegenheit.

Patty knurrt. Ich halte kurz den Atem an und lausche. Was hört sie draußen? Geht ein Fuchs vorbei? Oder fliegt noch eine Krähe zum Brunnen? Tim belehrt uns prompt: „Weil ihr hier drinnen von Engeln sprecht, hört sie draußen Gespenster!“ Und er fügt triumphierend hinzu: „Wenn sie draußen eines sieht, wird sie es verjagen.“ Wir lachen alle vier, und Patty schaut fragend zu uns herüber.

Friedenston

Das Thema Sterben und Geborenwerden ist so stark, dass es uns nicht mehr loslässt. Dennis greift es nochmals auf: „Wo ich eine Parallele sehen kann, ist in einem großen Frieden. Er war im Raum nach Tims Geburt, und ich spüre ihn jetzt auch nach Monikas Sterben – wie einen ruhigen Unterton zu unseren Gesprächen.“

„Ich habe das nach Tims Geburt auch so empfunden“, stimmt Sara ihm zu. „Es ist kaum zu glauben, dass von diesem zarten Wesen ein Friede mit einer solchen Stärke ausstrahlen konnte! Meine Tätigkeiten waren noch lange darin eingebettet. Wenn ich damals in die Stadt ging, um Einkäufe zu besorgen, hat er mich begleitet. Im Kontrast dazu fiel mir das hektische Treiben besonders auf.“

„Auf das Thema Frieden können wir uns offenbar alle einigen, das scheint am vertrautesten zu sein, und auch in vielen Kulturen und Religionen wird darüber gesprochen“, bemerke ich.

Beim Wort „Religionen“ spitzt Tim aufmerksam die Ohren. „Meinst du, dass der Religionsunterricht überhaupt nötig ist?“, fragt er provozierend. „Das finde ich nämlich nicht! Weißt du, der Unterricht in der Schule hat mir Gott verleidet! Und überhaupt, ich habe mir überlegt, dass ich nicht mehr hingehen will. Ich kann doch zu Hause die Kinderbibel lesen, die du mir geschenkt hast.“

Ich schaue ihn verstohlen von der Seite an. Wie meint er das? Ist das eine List? Ernsthaft erklärt er: „Weißt du, ich möchte die Religionsstunden mit Schlagzeugunterricht tauschen. Ich habe bereits mit dem Schlagzeuglehrer gesprochen, er hat nur noch diese Stunden frei!“ – „Aber du spielst doch Klavier! Wie kommst du jetzt auf Schlagzeug?“ – „Schlagzeug gefällt mir viel besser. Das ist mein Instrument. Bitte, bitte!“ Er schaut Patty hilfesuchend an und sie erwidert treuherzig seinen Blick. „Auch Patty hört viel lieber Schlagzeug als Klavier und klassische Musik!“ – „Das bezweifle ich“, beginne ich einen Streit vom Zaun zu brechen, aber Dennis unterbricht uns: „Könnt ihr das nicht ein anderes Mal verhandeln? Wir sind doch gerade beim Thema Frieden!“ – „Ja, besprechen wir es morgen“, lenkt Tim diplomatisch ein und kuschelt sich an Patty, sichtlich erleichtert, dass er seinen Wunsch, um nicht zu sagen seine Entscheidung, zur Sprache bringen konnte. Unser Gespräch hat ihm einen Anker zugeworfen und seine Musikkarriere endlich in die richtige Bahn gelenkt, ganz entgegen allen komischen Erwartungen seiner Eltern.

 

Patty steht auf und geht zur Tür. Sie stellt sich auf die Hinterbeine, springt etwas hoch und drückt im Sprung elegant die Türklinke hinunter. Wieder auf allen Vieren gelandet, schiebt sie die Pfote in den entstandenen Spalt und öffnet so behände die Tür. „Sie muss raus, ich gehe mit ihr“, verkündet Tim und ist schon hinter ihr her. Wir hören die beiden draußen herumtollen. Ein Planschen und Spritzen am Brunnen, Tim kreischt dabei vor Vergnügen, und Patty bellt aufgeregt. Eine Wasserschlacht ist in vollem Gange. „Patty wird wohl pudelnass wieder hier hereinspazieren“, seufze ich und hole schon einmal ein Handtuch.

„Als seine Patin möchte ich euch raten, ihn Schlagzeug spielen zu lassen“, macht sich Sara für Tim stark. „Er kann ja eine Zeitlang beides tun. Das Klavierspiel schult zwar die Koordination von linker und rechter Gehirnhälfte und damit auch die Intelligenz, aber sein Herz schlägt für das Schlagzeug.“

„Du hast recht, Sara.“ Schon bei der Geburt haben wir zuerst seine Herztöne durch das Stethoskop der Hebamme gehört, das war wie ein Trommelschlag. Was für eine Vitalität ist uns da entgegengekommen! Sicher wird das Schlagzeugspiel seinen Willen und sein Herz stärken und ihm Rhythmus und Entschiedenheit geben. „Vielleicht wird ja einmal ein Musiker aus ihm.“

„Das haben wir doch schon früher einmal gesagt“, kommt Sara in den Sinn, „damals, als Tim mit wenigen Monaten auf einer kleinen Flöte blies. Er blies so zärtlich in sie hinein und hörte dem Ton lange nach, als würde er auf ihm hinübergleiten, dorthin, woher er gekommen ist. Tim war selbst erstaunt und ganz verzückt von diesem Ton.“ Dennis meint erheitert: „Du findest ja schon immer wieder den Bogen hin zu einer anderen Dimension.“

Wir sind so sehr in unser Gespräch vertieft, dass wir nicht bemerken, wie Tim und Patty wieder ins Haus gekommen sind. Patty ist vorausgesprungen, sie steht mitten im Zimmer, schüttelt sich reflexartig und sprüht das Wasser aus ihrem nassen Pelz in allerfeinsten Tröpfchen rundum auf uns, wie ein zierlicher Springbrunnen. Sie schaut völlig unschuldig drein. Ich will mich mit dem Handtuch auf sie stürzen, aber es ist schon zu spät, sehr zum Spaß von Tim, der ihr nachgesprungen ist und sich ausschüttet vor Lachen.

„Das nächste Mal trocknest du sie ab, am Eingang ist auch ein Handtuch deponiert“, weise ich ihn zurecht. „Sie war schneller als ich und ist mir davongesprungen. Schließlich willst du ja, dass ich zuerst die Schuhe ausziehe“, meint er, um keine Antwort verlegen, und setzt sich neben Patty auf den Boden, die nun inbrünstig ihre Pfoten sauber leckt. „Siehst du, sie säubert sich ja!“ Ich folge mit meinen Augen den lehmigen Spuren auf dem Holzboden. Tims Blick folgt dem meinen. Dann sehe ich, wie der Schalk in seine Augen tritt. Flugs fasst er das Thema des heutigen Abends auf seine Weise zusammen: „Aha. Da ist also ein Engel zuerst durch den Matsch gegangen und dann in unser Haus eingedrungen. Sagt ihm doch das nächste Mal, er soll die Füße abputzen!“

„So verbindet Tim die beiden Welten“, meint Dennis. „Mir gefällt das.“ – „ Ja, mir auch.“ Wir lachen uns zu, und Patty schaut vergnügt zu uns hinüber. Mein Blick fällt wie zufällig auf die Uhr: „Es ist schon nach Mitternacht, lasst uns schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Niemand rebelliert dagegen, nicht einmal Tim.

Wir gehen alle zu Bett. Ich kann den Tag noch nicht loslassen. Da liegst du, Monika, im Gartenhaus der Klinik, mitten im Blütenduft. Doch schon morgen holen dich die Leute vom Bestattungsinstitut ab. Habe ich richtig gehandelt? Mir fällt keine bessere Lösung ein. Wir sind räumlich durch viele Kilometer getrennt, und bald wird der Alltag mich wieder in seinen Griff nehmen. Trotzdem beunruhigt es mich, dich einfach so in fremde Hände gegeben zu haben, und ich fühle, dass in dieser Entscheidung etwas Unerlöstes liegt, was mich weiterhin beschäftigen wird.

Ich bette meinen Kopf ins weiche Kissen. Das Gespräch von heute Nacht umfängt mich wieder, die Resonanz von Sterben und Geburt bewegt mich weiter. Fragen gehen, Antworten kommen. Beim Einschlafen erkenne ich: Es sind alles keine endgültigen Antworten. Doch was sich dabei vertieft ist der Ort, von dem aus ich Fragen stelle und woher ich Antworten empfange. Ich spüre beim Hinübergleiten in den Schlaf: Auch an diesem Ort bin ich getragen.

Wiederklang

Nach der Erfahrung von Monikas Sterben und unserem Gespräch erinnere ich mich zu meinem Erstaunen wieder ausführlich an Tims Geburt. Sie liegt schon acht Jahre zurück, ich hatte die meisten Einzelheiten vergessen, doch jetzt kommt sie mir wieder genauestens in den Sinn, als würde mir die Erfahrung mit dem Tod einen neuen Zugang eröffnen.

Bei Monikas Sterben habe ich eine innige Nähe zu ihr gefunden. Sie hat es mir ermöglicht, das Sterben als Fluss des Werdens miterleben zu können. Derselbe Fluss, so spüre ich, trägt mich jetzt an den Ort jener anderen Ankunft zurück – zur Geburt. Obwohl ich viele Tagebuchaufzeichnungen aus jener Zeit besitze, die mein Gedächtnis stützen, steigt die Geburt von Tim als ein Ganzes frisch und unmittelbar wieder aus der unwillkürlichen Erinnerung herauf.

In den folgenden Tagen setze ich mich frühmorgens hin und schreibe alles von neuem auf, dahinfließend in den Wassern des Werdens, aus denen auch immer der Wind des Vergessens weht.

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