Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen

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Dieses Buch ist ein Plädoyer für die Wahrnehmung, Anerkennung und Verbesserung einer bislang ignorierten, aber sehr umfassenden gesundheitlichen Notlage.

Wissenschaftstheoretisches Grundverständnis

Multisystem-Erkrankungen zu thematisieren, bedeutet, nicht nur medizinische, sondern auch gesundheitspolitische, sozialrechtliche, wirtschaftliche und ethische Missstände – ggf. auch wertend – zu schildern und (teilweise) Lösungen vorzuschlagen. Mein Buch ist ein Bericht über den Status quo, es richtet sich an wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Entscheider. Hunderttausende multisystemisch schwer Erkrankte sind auf den Einsatz und das Engagement dieser Akteure angewiesen.


Die notwendigen Veränderungen erfordern immense Anstrengungen. Es geht um die Schaffung eines Problembewusstseins und um die Entwicklung eines rationalen wissenschaftstheoretischen Grundverständnisses für diese Erkrankungen. Auf dieser Basis können strukturierte Rahmenbedingungen entstehen, die der Komplexität angemessen sind.

Die etablierte Medizin

Band 1 ME/CFS erkennen und verstehen erschien 2018 und widmete sich dem „Chronischen Erschöpfungs-Syndrom“ ME/CFS. Nach der Publikation des Bandes kam es zu zahlreichen persönlichen Gesprächen. Betroffene bestätigten wiederholt das in dem Buch beschriebene nahezu komplette Versagen in Diagnostik und Therapie sowie in der Sozialversorgung. Das führt zu Chronifizierungen, zu persönlichem und familiärem Leid und zu entwürdigenden, oft jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen um Versorgungsleistungen.


Es gibt, wie wir sehen werden, weltweit Millionen Betroffene, jahrelange Odysseen, „doctor-hopping“, Fehlbehandlungen und (teilweise vermeidbare) Chronifizierungen. Diese Krankheits-Kategorie wird dennoch bislang weitgehend ignoriert. Die etablierte Medizin (die in den Hochschulen vermittelt wird) scheint zu kapitulieren angesichts der Komplexität multisystemischer Erkrankungen und steht ihnen konzeptlos gegenüber.Keine Eingangstür in das etablierte Gesundheitssystem ist die richtige für multisystemisch Erkrankte.

Die übliche Standard-Diagnostik beruht auf Paradigmen, denen historisch die Infektions-Erkrankungen zugrunde liegen und sie leistet Hervorragendes bei akuten Krankheitsfällen. Sie klärt folglich die Fragen, für die diese Konzepte ausgelegt sind. Die Wirkweisen bei Erworbenen Multisystem-Erkrankungen sind jedoch aufgrund veränderter Lebens- und Umweltbedingungen vielfältiger, als es uns geradlinige Ursache-Wirkungs-Denkmodelle glauben machen wollen.


Für eine angemessene Versorgung ist eine eingehende Analyse der Komplexität selbst und deren Auswirkung auf die klinische Praxis unumgänglich.

Es gibt derzeit keine umfassende Evaluierung der Bedürfnisse von Patienten mit komplexen/multisystemischen, bzw. -organischen Erkrankungen. Hier ist ein erweiterter diagnostischer Ansatz notwendig, der den Einsatz präziser Spitzentechnologie und geschulte, interdisziplinär arbeitende Behandler erfordert.

Systemisch – nicht linear

Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen sind system- und organübergreifende „Ganzkörper“-Erkrankungen. Bislang wird die Medizin organzentriert verstanden, der Patient wird nach Herz, Nieren oder Gehirn von spezialisierten Behandlern diagnostiziert und behandelt. Der Kieler System-Mediziner Prof. Stefan Schreiber formuliert treffend:

„Die Spezialisierung der Medizin entspricht nicht der biologischen Wirklichkeit.“ E/6 Schreiber

Allerorten stößt man auf komplexe Kreisläufe, Wechselwirkungen, multiple Funktions- und Rückkopplungsschleifen, ja, sogar auf regelrechte Teufelskreise. Diese Kausalbeziehungen sind hochgradig verzweigt und komplex.

Die Systembiologin Prof. Ursula Klingmüller beschrieb schon im Jahr 2015:

„Noch vor zehn, 15 Jahren dachten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Wie der Lebensprozesse überwiegend linear: Ein Gen veranlasst die Produktion eines Proteins, und das Protein tut etwas in einer bestimmten Weise. Diese Geradlinigkeit findet sich noch heute in fast allen Lehrbüchern, aber sie reicht nicht aus, um die tatsächlichen Lebensereignisse in einer Zelle zu beschreiben, die einem brodelnden Suppentopf mit Zigtausenden von Ingredienzen gleicht, die in vielfältiger Weise miteinander wechselwirken.“ E/7 Klingmüller

Unser Bahnverkehr ist ein vergleichbar komplexes System. Wir haben alle schon erfahren, was es bedeutet, wenn es z. B. auf einer Strecke zu Sturmschäden kommt. Der Intercity bleibt stehen, die Anschlüsse sind nicht mehr zu halten. Auch der Folgeverkehr kommt zum Erliegen. Fällt gleichzeitig an einer anderen Stelle ein Stellwerk aus, ist das Chaos komplett, weil das Gesamtsystem nur funktionieren kann, wenn die einzelnen Linien funktionieren.


Unterschiedlichste Stressoren können in diesem Sinne vergleichbare „Sturmschäden“ in unserem Gesamt-Organismus verursachen. Diese Entgleisungen bleiben bei den üblichen Routine-Untersuchungen nahezu vollständig verborgen.

Systemmedizin

Im Februar 2015 veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Zusammenarbeit zur Förderung transnationaler Forschungsprojekte in der Systemmedizin eine Bekanntmachung, die der Etablierung der Systemmedizin in Europa dient und eine klare Sprache spricht:

„Der systemmedizinische Ansatz, der Krankheitsprozesse als komplexes Zusammenspiel verschiedener biologischer Netzwerke auf verschiedenen Ebenen untersucht (Zell-, Gewebe-, Organ- und Organismusebene), unterscheidet sich grundlegend von der gängigen Praxis der klassischen und Symptom-orientierten Medizin. Diese greift häufig erst dann, wenn eine Erkrankung bereits ausgebrochen ist. In der Vergangenheit haben Ärztinnen und Ärzte stets klinische Beobachtungen, empirisches Wissen und Informationen aus medizinischen Tests zusammengeführt, um Krankheiten zu diagnostizieren und Patienten erfolgreich zu behandeln. Dieses Konzept hat sich im Prinzip bewährt. Das Problem besteht aktuell darin, dass der ärztlichen Fähigkeit zur Sichtung, Auswertung und Annotation von Wissen durch den starken Anstieg verfügbarer relevanter Informationen, die Größe und Komplexität moderner „-omics“-Technologie-Datensätze und der Fülle klinischer Informationen zunehmend Grenzen gesetzt sind. Das etablierte System der Wissensakquise verfügt über kein weiteres Ausbaupotenzial.“ E/8 BMBF

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF förderte die Systemmedizin seit Ende 2012 mit 200 Millionen Euro. Prof. Johanna Wanka, die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung beschrieb 2015 die Zielsetzung des neuen Medizinverständnisses:

„Die Systemmedizin will die Erkenntnisse und Methoden der Systembiologie auf die Medizin übertragen und für Patientinnen und Patienten nutzbar machen. Das Ziel der Systemmedizin ist es, auf der Grundlage des neuen, interdisziplinär erarbeiteten Wissens neue Präventionsstrategien, Diagnostika und Therapeutika zu entwickeln. Denn ob ein Mensch gesund oder krank ist, hängt von vielen Faktoren ab, seien es genetische Unterschiede, die Veränderung von Molekülen oder Umwelteinflüsse. Die Frage ist, wie all diese Faktoren und Systeme ineinandergreifen und wie sie zu beeinflussen sind.“ E/9 BMBF 2015

Prof. Stefan Schreiber äußerte sich zu der Bedeutung der Systemmedizin:

„Persönlich bin ich überzeugt davon, dass wir derzeit mitten in einem Prozess stecken, der vieles umstürzen wird, was für unumstößlich gehalten wurde. Das ist ein radikaler Paradigmenwechsel. Und nur das kann echte Innovationen hervorbringen. Das Revolutionäre, dass in dem neuen Konzept der Systemmedizin steckt und die Chancen, die mit ihm einhergehen, haben noch nicht alle Teilnehmer im Feld verstanden – aber es werden immer mehr.“ E/10 Schreiber

Derzeit wird die systemmedizinische Herangehensweise fast ausschließlich in der Krebsforschung angewandt und führt dort zu individualisierten Therapien.


Wir werden sehen, dass Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen nur mit Hilfe einer systemmedizinischen, transdisziplinären Herangehensweise verstanden werden können.

Veränderte Umweltfaktoren

Mittlerweile befassen wir uns zwangsläufig mit mehreren Krisen, die nicht länger ignoriert werden können. Die scheinbare Robustheit unserer Lebensgrundlagen hat uns blind gemacht für die Folgen unseres unstillbaren Hungers nach Konsum und Annehmlichkeiten. Das Artensterben, die abnehmende Biodiversität, Wald- und Ackerdürren, die Erderwärmung und der Raubbau an der Natur werden bislang nicht in ihrer vollen Dramatik wahrgenommen:

„Menschliches Handeln gestaltet den ganzen Planeten um. Es dringt bis in die letzten Ecken vor. Schon jetzt sind die Eingriffe des Menschen pro Jahr größer und umfassender als die aller anderen Naturkräfte zusammen. Der Mensch ist die größte Naturkraft. Gleichzeitig schreibt er sich durch sein Tun in die geologische Zeit ein. Die Eingriffe verändern den Planeten nicht für Generationen, sondern für hunderttausende von Jahren. Menschheitsgeschichte wird Erdgeschichte. An die Stelle der Historiker treten Geologen.“ E/11 Scherer

So der Philosoph und Autor Bernd Scherer. 2015 erschien in Co-Autorenschaft mit Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in München, das Buch Das Anthropozän: Zum Stand der Dinge. Der Begriff „Anthropozän“ – das Zeitalter des Menschen – wird mittlerweile von einer Gruppe renommierter Wissenschaftler für das gegenwärtige Erdzeitalter vertreten. Gemeint ist damit, dass der Mensch als dominierender Faktor durch menschengeschaffene Technologien und Infrastrukturen unsere Lebensbedingungen und die globalen Umgebungsfaktoren nachhaltig verändert hat.

 

Weit überwiegend sind heutige industriell anfallende oder produzierte Partikel, Strahlen, Gase und Substanzen – von Feinstaub über elektromagnetische Strahlung bis zu erdölbasierten Produkten und (Klima-)Gasen – nachweislich oder vermutlich gesundheitsschädigend.

Veränderte Krankheiten


Kann es sein, dass diese veränderten Umweltfaktoren schleichend unsere grundlegenden Lebensfunktionen und damit unsere (Über-)Lebenstüchtigkeit verändern? Kann es sein, dass wir diese Veränderungen nicht begreifen, weil sie immer nur graduell unsere Gesundheit verändern? Weil sie komplex ablaufen, Ursachen und Wirkungen kaum fassbar sind? Haben wir es bei unserer Gesundheit mit ebenso komplexen Wirkungen zu tun wie bei der Erderhitzung?

Prof. Naviaux macht darauf aufmerksam, dass die Antwort auf Zellgefahren vorindustriell in der Regel vollständig durchlaufen wurde und mit der Gesundung endete, während dieser Heilungsprozess heute blockiert wird und zu der Vielzahl chronischer Erkrankungen führt. Laut Prof. Naviaux erfordern heutige Erkrankungen ein völlig anderes Konzept, er spricht von einem „zweiten Buch der Medizin“.


Vorindustrielle Erkrankungen gleichen den heutigen so wenig wie Äpfel den Birnen, erklärte Naviaux bildlich in einem Vortrag.

Die Grundthese des Buches, das Sie gerade lesen, ist, dass die Fülle moderner Stressoren als „multistressorische“ Gesamtlast“ (Umweltallergene, Schadstoffe, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, psychosoziale Belastung, ständige Erreichbarkeit u.a.) an Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht haben, das durch die synergistische Dauer-Reizung unser Immunsystem überfordert und zu einer allmählichen oder plötzlichen gesundheitlichen Kapitulation führt.


Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen können als die medizinische Signatur des Anthropozän verstanden werden. Die maximale biologische, psychische und chemische Belastbarkeit wird ständig überschritten, der Organismus durch die multistressorische, bzw. multifaktorielle Gesamtlast überfordert, chronisch geschwächt und somit vulnerabel.

Die Krise des Immunsystems

Jetzt ist es an der Zeit, endlich die Dramatik der immunologischen Krise wahrzunehmen, die allmählich, aber absehbar unser (Über-)Leben gefährdet. Nicht nur unsere Lebensräume sind bedroht und unser wirtschaftliches Überleben – die Art, wie wir leben richtet sich gegen das Leben selbst.


Die Krise unseres Immunsystems führt zu einem massiven Verlust an Vitalität in der industrialisierten Bevölkerung. Sie ist ebenso real wie andere Krisen und erfordert beherztes und kooperatives Handeln von vielen.Erworbene Multisystemische Erkrankungen beruhen auf Fehlsteuerungen, die im Laufe des Lebens entstehen. Epigenetische Studien zeigen, dass mit deren Zunahme absehbar auch zukünftige Generationen geschwächt geboren werden.

Systemische Epimedizin

Die aktuelle internationale Forschung zeigt den systemischen Netzwerkcharakter moderner Erkrankungen und stellt das konventionelle Paradigma, dass auf einen definierten Reiz (Ursache) eine definierte Reaktion (Wirkung) erfolgt, in Frage. Dieses Paradigma ist zweifellos die Grundlage unserer erfolgreichen akutmedizinischen Versorgung (Patient ist gestürzt – Knochen ist gebrochen: OP und/oder Gipsverband); es versagt jedoch bei komplexen systemischen, chronischen Erkrankungen.


Der Netzwerkcharakter der Erworbenen Multisystem-Erkrankungen wird unter dem Konzept „Systemische Epimedizin“ zusammengefasst. Diese Bezeichnung wird neu eingeführt und verweist auf die komplexen systemischen Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Genen, die sich in den Stoffwechselprozessen und -produkten widerspiegelt und durch Mitochondrien gesteuert wird. Der Begriff lehnt sich an die in Kapitel 28 beschriebene Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik an. Die Systemische Epimedizin basiert auf einem systemmedizinischen Krankheitsverständnis, wie es z. B. in großangelegten Förderprojekten wie e:med vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorangetrieben wird.


Der Begriff „Systemische Epimedizin“ wird als gemeinsamer Begriff vorgeschlagen, um auf mehrere Wissenschaftsdisziplinen und Forschungsansätze zu verweisen, die von Relevanz für das Verständnis multisystemische Komplex-Erkrankungen sind. Es geht um einen Ideenpool, der sehr unterschiedliche Ansätze miteinander in Beziehung setzt.

Die Systemische Epimedizin ist eine Netzwerkwissenschaft

Sie umfasst folgende Wissenschaftsdisziplinen:

 Die Mitochondrien-Medizin

 Genetik und Epigenetik

 Die Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie

Die Systemische Epimedizin ist keine neue Wissenschaftsdisziplin. Vielmehr wird unter diesem Leitbegriff Wissen transdisziplinär und in Bezug auf komplexe Krankheitsbilder vernetzt. Dazu gehören die genannten Schlüsseldisziplinen, alle drei bezeugen den immensen Einfluss heutiger Umweltfaktoren auf unsere Gesundheit.


Die molekulare PathogeneseDie „molekulare Pathogenese“ untersucht die pathologischen Veränderungen, die als Reaktion auf Umwelteinflüsse auf molekularer Ebene unter Beteiligung spezifischer Gene, Proteine und Signalwege entstehen.

Integrierte Bestandteile innerhalb dieser übergreifenden Schlüsseldisziplinen sind:

 Die Exposom-Forschung inklusive „Early life Exposom-Stress“. Die Exposom-Forschung wurde 2015 eingeführt. Das Exposom stellt die Gesamtheit der (Umwelt-)Faktoren dar, denen wir lebenslang ausgesetzt sind, und die in bislang unterschätzter Weise zur Gesundheit oder zum Krankwerden beitragen. Das Exposom als Gesamtheit der Umwelteinflüsse ist das Gegenstück zum Genom (Gesamtheit unseres Erbgutes).

 Die Stress- und Entzündungsforschung, inklusive early life stress/„developmental origins of health and disease“ (auf Deutsch: Frühe Programmierung von Krankheit und Gesundheit).

 Die Evolutionsmedizin: Unser heutiger Organismus ist das dynamische Zwischenergebnis einer fortdauernden Evolution.

 Die Gendermedizin/Geschlechtsspezifische Forschung.

 Die Personalisierte Medizin (auch Präzisionsmedizin)

 Die Klinische Umweltmedizin, inkl. Umwelt-Zahnmedizin.

 Die Forschungen zum sogenannten Nitrosativen Stresszyklus von Prof. Martin L. Pall.

 Die Forschungen zu der sogenannten Antwort auf Zellgefahren (Englisch: Cell Danger Response) von Prof. Robert Naviaux.

 Die Mastzellforschung. Mastzellen (auch Mastozyten) gehören zu den weißen Blutkörperchen (Leukozyten). Sie sind Teil der körpereigenen Immunabwehr.


Abb. E/2 Systemische Epimedizin

Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen war bis vor wenigen Jahren entweder noch völlig unbekannt oder zumindest nicht weit verbreitet. In jeder dieser jungen Disziplinen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen, die von bedeutender Relevanz für das Verständnis der EmKE sind.


Die Mehrzahl dieser (Forschungs-)Disziplinen war bis vor wenigen Jahren entweder noch völlig unbekannt oder zumindest nicht weit verbreitet. In jeder dieser jungen Disziplinen explodiert die Anzahl der Veröffentlichungen, die von bedeutender Relevanz für das Verständnis der EmKE sind.

Individualisierte Diagnostik und Therapie

Für Patienten ist wichtig zu wissen, dass es aus Sicht der Systemischen Epimedizin für komplexe Erkrankungen keinen einheitlichen diagnostischen und therapeutischen Pfad geben kann. Die diagnostischen, wie auch die therapeutischen Optionen sind, selbst bei Patienten, die unter dem gleichen Diagnose-Begriff klassifiziert sind, so individuell wie unser Fingerabdruck. Zunehmend werden Patienten nach diagnoseübergreifenden medizinischen Merkmalen in Subgruppen eingeteilt und behandelt – das ist der Ansatz der sogenannten Personalisierten Medizin. Dieser Ansatz wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert:

„Die Systemmedizin gilt als Schlüssel zu einer modernen [personalisierten] Medizin, die sich an der molekularen Signatur von Erkrankungen orientiert, statt an der Einteilung nach Krankheitsbildern oder spezifischen Organen festzuhalten.“ [Ergänzung durch die Autorin] E/12 Sys-med

Unsichtbare Frauen

Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert lautet der Titel des Buches von Caroline Criado-Perez, das 2020 den NDR Kultur Sachbuchpreis erhielt. Mit dem Begriff „gender data gap“ – in Anlehnung an den Begriff „gender pay gap“, also die Minderbezahlung von Frauen bei gleicher Qualifikation – weist die Autorin auf die Geschlechterlücke in der Datenerhebung hin. Sie beschreibt die darauf beruhende Diskriminierung und unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das alltägliche Leben von Frauen auswirkt.

Bei den EmKE – und auch bei den weiteren in diesem Buch beschriebenen verwandten Erkrankungen – überwiegt, mit durchschnittlich 75–80%, bei weitem der Frauenanteil. Weder in der Forschung noch in der Klinik wird dieser Sachverhalt ausreichend berücksichtigt.


Abb. E/3 Bei mulltisystemischen/„Ganzkörper“-Erkrankungen ist die „Frauenquote“ übererfüllt!


Die berichtete Fehl- und Mangelversorgung multisystemischer Erkrankungen basiert unter anderem darauf, dass unklare Symptome in einer männerdominierten Medizin gerne als „weibliche Unpässlichkeiten“ bagatellisiert werden. Diese diskriminierende Tatsache hat weitreichende Folgen.

Wann ist ein Buch fertig?


Üblicherweise ist ein Fachbuch fertig, wenn ein Thema umfassend und möglichst vollständig erfasst wurde. Das Buch, das Sie in Ihren Händen halten – oder auf dem Tablet lesen – ist jedoch unfertig. Es ist eine Ausgangsbasis – und kein Endprodukt.

Jedes einzelne Kapitel dieses Buches ist die Essenz eines Universums: Zum Thema Stress gibt es Tausende von Publikationen, ebenso zu Umweltfaktoren, zum Mikrobiom und zu jedem andern beliebigen Thema. Und jedes dieser Themen wartet ständig mit neuen Erkenntnissen auf. Wer sich vornimmt, all diesen Universen gerecht zu werden, muss scheitern. Gibt es Wege aus diesem Dilemma? Was könnte helfen, damit wir nicht in der Fülle der Informationen untergehen? Daten sind wertlos, wenn wir sie nicht deuten und einordnen können.


Je besser wir bei komplexen Sachverhalten die zugrundeliegenden Muster erfassen, desto besser gelingt es, deren Bedeutung und Gewichtung zu ermessen: Es geht darum, Zusammenhänge zu erkennen, bzw. herzustellen. Nur so werden Daten zu Informationen mit Erkenntnis- und Praxisrelevanz.

Ein Buch ist immer linear aufgebaut, ein Kapitel folgt dem vorhergehenden. Das sind prinzipiell ungünstige Voraussetzungen, um die hier thematisierten systemischen, vernetzten Strukturen zu erklären. Aus diesem Grund finden Sie stets viele Querverweise zu themenverwandten Kapiteln. Als Leser sind Sie nicht zwingend an die vorgegebene Reihenfolge gebunden: Alles hängt mit allem zusammen.

Ein Buch für Patienten und Behandler

Patienten und Behandler* sind üblicherweise zwei Zielgruppen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Beim Thema Erworbene Multisystem-Erkrankungen überschneiden sich die Interessen. Viele Patienten eignen sich medizinisches Fachwissen an, weil sie in den etablierten Strukturen keine angemessene Unterstützung bekommen, während Behandler sich für erweiterte Konzepte interessieren, um bei komplexen Erkrankungen besser helfen zu können. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie die zahlreichen Einflussfaktoren besser verstehen wollen und nach Lösungen für erfolgreiche Behandlungen suchen.

 

Wissenschaftskommunikation ist für das Verständnis komplexer Erkrankungen für alle Beteiligten essenziell.

Das vorliegende Buch stellt wieder, wie der erste Band, einen Versuch dar, beiden Zielgruppen gerecht zu werden. Die ausschließlich positiven Rückmeldungen zu Band 1: ME/CFS erkennen und verstehen – Was wir wissen und was wir nicht wissen über das Chronische Erschöpfungs-Syndrom zeigten, dass zumindest beim ersten Band beide Lesergruppen von diesem Konzept profitierten.

* Im Interesse der Lesbarkeit wird im vorliegenden Buch stets von Behandlern die Rede sein, ohne die einzelnen Berufsgruppen aufzuführen.

Mündige Patienten

Patientenbeteiligung steht leider auch heute noch nicht an zentraler Stelle in den Curricula für werdende Ärzte. Im klinischen Alltag bilden Behandlungsansätze, die auf einer umfassenden Einbeziehung der Patienten basieren, noch die Ausnahme. Durch das Wissen um medizinische Zusammenhänge könn(t)en Patienten befähigt werden, ihre eigene Erkrankung besser zu verstehen und Autonomie (wieder) zu erlangen. Und nicht zuletzt können informierte Patienten und deren Fürsprecher sich im gesundheitspolitischen Diskurs für verbesserte Behandlungsoptionen und Versorgungs-Strukturen einsetzen, die dringend nötig sind.


Die Behandlung Erworbener multisystemischer Komplex-Erkrankungen ist weder erfolgversprechend noch dauerhaft finanzierbar, wenn Behandler und Patienten nicht optimal, sehr umfassend und unabhängig aufgeklärt und informiert werden.

In der Gesundheitspolitik spielen viele Interessen eine Rolle, und es werden Milliardenbeträge verhandelt. Die gesundheitspolitischen Rahmenstrukturen sind derzeit nicht angemessen, und Veränderungen hin zu einer personalisierten Diagnostik und Medizin für multisystemisch Erkrankte stoßen auf Widerstände. Es wäre blauäugig, davon auszugehen, dass Lösungen, die primär und ausschließlich das Patientenwohl im Blick haben, die Regel seien.


Die Corona-Pandemie könnte sich als medizinischer Wendepunkt herausstellen. Es ist aber auch nicht unwahrscheinlich, dass sich nach der Pandemie die etablierten Strukturen wieder durchsetzen. Diese Sachlage erfordert mehr denn je Patientenbeteiligung und aktive Mitwirkung an Entscheidungsfindungen. Dieses Buch versteht sich als Beitrag zu dieser Debatte. Erst die Zukunft wird zeigen, ob es gelingen wird, menschenwürdige Versorgungs-Strukturen für multisystemisch Erkrankte zu etablieren, die auf rationalen Erkenntnissen beruhen.


Eine verbesserte Forschungs- und damit Versorgungslage wird Patienten mit Erworbenen multisystemischen Komplex-Erkrankungen nicht auf dem Silbertablett gereicht werden. Patienten, deren Angehörige, Sozial- und umweltmedizinische Verbände müssen sich in weit stärkerem Maß verbünden, als dies bisher der Fall ist.EmKE sind noch lange nicht vollständig verstanden, aber Segmente dieser Erkrankungen sind schon nach heutiger Datenlage ursächlich behandelbar. Die Einforderung verbesserter Rahmenbedingungen und die Abschaffung der derzeitigen strukturellen Diskriminierung lassen sich rational begründen.

Lesen Sie kritisch, machen Sie sich Ihr eigenes Bild, Sibylle Reith

Serviceseiten

Sie finden in den jeweiligen Kapiteln und auf den Serviceseiten zahlreiche Verweise auf Informationsquellen im Netz und in Publikationen sowie Hinweise auf Fortbildungen und Tagungen zu den Themen der Systemischen Epimedizin. Unter der Überschrift „Die multisystemische Bibliothek“ finden Sie sorgsam zusammengestellte Titel zu den Themen des vorliegenden Buches. Zudem sind die Kontaktdaten mehrerer Labore gelistet, die eine spezialisierte Diagnostik anbieten. Auch deren Internetseiten bieten Informationen und Fortbildungen für Patienten und Mediziner.

Post scriptum I

Bei erworbenen multisystemischen Erkrankungen ist, wie oben berichtet, die „Frauenquote“ leider übererfüllt, Männer sind wesentlich seltener betroffen. Umgekehrt verhält es sich mit der deutschen Sprache, sie ist maskulin dominiert: Während Begriffe wie „Patient“ oder „Therapeut“ Frauen und Mädchen miteinschließen, beziehen sich „Patientin“ oder „Therapeutin“ ausschließlich auf das weibliche Geschlecht.

Gendern und Nicht-gendern, beides ist unbefriedigend. Auch das Gender-Sternchen (Patient*in), das Binnen-I (PatientIn), oder das Gender-Gap (Patient_in) scheinen mir ungeeignet, diese paradoxe Situation gut zu lösen, zumal dann zuweilen akrobatische Begriffe entstehen.


Es ist ausschließlich der Lesbarkeit geschuldet, dass im vorliegenden Buch nicht durchgängig geschlechtergerecht formuliert wird.

Post scriptum II

Auch dieser zweite Band ist wieder so konzipiert, dass die Kapitel unabhängig voneinander gelesen werden können. Das aufwändig gestaltete Layout soll z. B. durch das Hervorheben wichtiger Aussagen eine schnelle Übersicht ermöglichen. Das erlaubt, je nach Interessenlage, Schwerpunkte zu setzen und sich z. B. den biochemischen Details mit unterschiedlicher Intensität zu widmen.

Post scriptum III

Die in diesem Buch zum Ausdruck vorgelegten Sachverhalte wurden von der Autorin nach bestem Wissen zusammengefasst. Die sich aus Sicht der Autorin daraus ergebenden Schlussfolgerungen und Bewertungen repräsentieren nicht notwendigerweise die geläufigen Ansichten der Gesundheitspolitik, des derzeitigen linearen Medizinverständnisses und der derzeitigen Sozialversorgung in Bezug auf multisystemisch Erkrankte.