Achtsamkeit für Superfrauen. 5-Minuten-Pausen vom Alltag.

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An der Realität vorbei?

Ich bin mir bewusst, dass viele der in diesem Buch diskutierten Stressfaktoren als Luxusprobleme abgetan werden könnten. Auch ich habe mir schon die Frage gestellt, ob es nicht egoistisch ist, sich in dieser Art auf sich selbst zu konzentrieren, während andere mit weit ernsteren Problemen kämpfen. Aber ich kann nicht genug betonen, dass wir nur als gesunde, ausgeglichene und in uns ruhende Person die notwendige Energie, Aufmerksamkeit und Empathie haben, um uns um andere zu kümmern. Wenn wir eine schwierige Phase durchmachen – sei es ein Verlust, ein dramatischer Umbruch oder eine andere große Belastung –, werden wir automatisch sehr selbstfixiert. Das ist auch notwendig, um die Lage zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen. Es ist überflüssig, sich Vorwürfe zu machen, wie man in eine solche Situation geraten konnte oder wie unsouverän man darauf reagiert. Besser ist es, die beschriebenen einfachen Bewusstmachungs-Techniken einzusetzen und damit langsam, aber sicher in Richtung Ruhe, Ausgeglichenheit und Gesundheit zu steuern. Erst dann sind wir wieder eine positive Kraft in dieser Welt, in welcher Form auch immer. Wenn wir unser eigenes Leben wieder im Griff haben, können wir den Blick auf die Welt um uns herum richten und überlegen, welchen Beitrag wir leisten können, um sie zu verbessern. Das kann innerhalb der Familie sein, am Arbeitsplatz oder in unserer Gemeinde. Wenn du mit dir selbst im Reinen bist, hast du die Kraft, andere zu unterstützen, zu stärken und deine individuellen und kostbaren Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.

Wir haben schon viel erreicht ... wirklich?

Die Herausforderung für uns alle ist, die Revolution zu leben, und nicht, für sie zu sterben.

Gloria Steinem, Feministin

Kraft durch Achtsamkeit für Frauen? Und was ist mit den Männern? Brauchen die keine Achtsamkeit?“ Diese Frage wird mir oft gestellt – so gut wie immer von Männern. Ich verstehe sie gut und habe überhaupt keine Vorbehalte gegenüber der Spezies Mann (mein geliebter Vater ist einer, mit einem weiteren Vertreter bin ich glücklich verheiratet und ich ziehe ein anbetungswürdiges Exemplar davon auf). Selbstverständlich kämpfen auch Männer mit Stress und verdienen es, ein bewusstes, harmonisches Leben zu führen. Ich bin unbedingt dafür, dass auch sie Achtsamkeit erlernen und von ihr profitieren. Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass wir bezüglich Gleichberechtigung zwar schon große Fortschritte gemacht haben, Frauen aber trotzdem noch vor vielen geschlechtsspezifischen Hindernissen stehen. Dazu gehören ungleiche Bezahlung und schlechtere Karrierechancen am Arbeitsplatz; in Führungspositionen sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert. Es gibt unausgesprochene gesellschaftliche Erwartungen, und wir neigen dazu, an uns selbst zu zweifeln. All das hemmt uns, während wir versuchen, nach außen hin ein makelloses, cooles Bild abzugeben.

Es ist absolut notwendig, Männer zu Achtsamkeit und Empathie zu erziehen. Aber solange die Emanzipation noch nicht abgeschlossen ist, werden wir frauenspezifische Fragen aufwerfen und behandeln müssen. Die amerikanische Aktivistin, Autorin, Schauspielerin und Vloggerin Franchesca Ramsey erklärte es einmal anhand eines Benefizlaufs gegen Brustkrebs. Wenn sie laufe, um Gelder für die Brustkrebsforschung zu sammeln, wolle sie damit nicht sagen, andere Krebsarten müssten weniger bekämpft werden. Aber dieses Mal habe sie sich eben entschieden, auf das Problem Brustkrebs aufmerksam zu machen. Punkt. Es sei keine Entweder-oder-Frage. Das Thema Female Empowerment durch Achtsamkeit ist es auch nicht.

Studien ergaben, dass Frauen fast doppelt so häufig Gefahr laufen, unter Angstgefühlen und den Auswirkungen von Stress zu leiden, wie Männer.1 Wir Frauen verwenden viel Anstrengung darauf, unser Leben besser zu organisieren. Aber angesichts einer Überfülle an Aufgaben und Pflichten wissen wir oft nicht, wie wir das bewerkstelligen können, ja, wo wir überhaupt anfangen sollen. Obwohl Achtsamkeit in unserer Gesellschaft ein großes Thema ist, scheinen wir uns von dem Ziel, ein achtsames Leben zu führen, immer weiter zu entfernen. Je stärker wir versuchen, das Tempo herunterzufahren und zur Ruhe zu kommen, desto lauter ruft uns die Gesellschaft zu: Nur wer etwas tut, ist produktiv. Wir arbeiten nicht nur am Arbeitsplatz, sondern führen gleichzeitig einen Haushalt. Ständig jonglieren wir mit zahllosen Erledigungen, müssen an dies denken, dürfen jenes nicht vergessen. Kein Wunder, dass uns diese geballte Ladung an Herausforderungen aller Art manchmal über den Kopf wächst. Und für diese Momente, liebe Freundin, habe ich die kurzen, aber intensiven Pausen der Achtsamkeit erfunden, mit denen wir den Reset-Knopf drücken und uns bewusst auf die aktuelle Situation und Aufgabe konzentrieren können.

In ihrem Buch Drop the Ball. Achieving More by Doing Less (dt. Den Ball weiterspielen: Warum Frauen weniger von sich und mehr von anderen erwarten sollten) beschreibt Tiffany Dufu den Mythos vom perfekten Arbeitsalltag, der uns in TV-Serien wie Mad Men oder Leave it to Beaver (dt. Erwachsen müsste man sein) vorgespiegelt wird. Die Berufswelt geht davon aus, dass jeder, der Vollzeit arbeitet, irgendjemanden hat, der sein Zuhause organisiert. Doch eine McKinsey-Studie über Frauen am Arbeitsplatz von 2017 zeigt eine ganz andere Realität: „Bei Frauen, die einen Partner und Kinder haben, ist es 5,5-mal wahrscheinlicher, dass sie die Hausarbeit zum überwiegenden Teil oder sogar ganz übernehmen und nicht ihr männlicher Partner. Selbst wenn sie die Hauptverdiener sind, erledigen sie mehr Hausarbeit. Bei Frauen, die über die Hälfte des Familieneinkommens bestreiten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Hausarbeit übernehmen, 3,5-mal so hoch wie bei Männern in der gleichen Situation.“2 Unter diesen Umständen sind Überforderung und Erschöpfung vorprogrammiert. Und genau da kommen dir die Pausen der Achtsamkeit zu Hilfe.

Zu den Stressfaktoren im Alltag kommen die oft subtilen geschlechtsbedingten Ungerechtigkeiten, mit denen wir uns am Arbeitsplatz herumschlagen müssen. Weil sie kaum Chancen auf Führungspositionen in ihrem meist von Männern dominierten beruflichen Umfeld sehen, entwickeln viele von Natur aus kontaktfreudige und teamfähige Frauen ein ungutes Konkurrenzverhalten. Das ist wirklich schade. Um dem vorzubeugen, sollten wir auf erste Anzeichen achten, uns gegenseitig Anerkennung dafür zollen, dass wir alle diese Situation zu bewältigen haben, und gezieltes Networking betreiben, um einander die notwendige Unterstützung zu geben. Wenn wir ehrlich versuchen, uns gegenseitig zu verstehen und zu respektieren, anstatt uns als Konkurrentinnen zu betrachten, können wir voneinander lernen und ein Energiefeld generieren, das uns alle pusht. Um zu diesem kooperativen Miteinander zu finden, ist es notwendig, dass jede Einzelne von uns sich ihrer Person und ihrer Stärken bewusst ist. Die in Kapitel 2 beschriebenen Pausen der Achtsamkeit sind eine wertvolle Hilfe, wenn es darum geht, dieses Bewusstsein zu erlangen. Wann immer du eine Injektion Selbstvertrauen brauchst, sind die Empower-Übungen genau das Richtige.

In einer von Männern dominierten Arbeitswelt finden wir Frauen es oft schwierig, zu einer rücksichtsvollen und einfühlsamen Kommunikationsweise zu finden. Wir haben das Gefühl, permanent Druck aufbauen zu müssen, und haben Angst, Schwächen zu zeigen, die dann womöglich gegen uns verwendet werden. Wer Achtsamkeit praktiziert, hat es leichter, solche Anflüge von Selbstzweifel und Selbstkritik zu entdecken und zu bemerken, wann sie ihre Persönlichkeit unterdrückt, aus Angst, nicht akzeptiert oder nicht ernst genommen zu werden. Und wir müssen solche Verhaltensweisen erkennen, um sie zu ändern. Denn nicht Angst oder andere negative Gefühle sollten unser Handeln bestimmen, sondern das Bewusstsein, genau das zu tun, was die Situation erfordert. Unsere Träume und Ziele zu analysieren und in sinnvolle Häppchen zu teilen ist einer von vielen praktischen Tipps dazu, die du im Kapitel 3 findest.

In den Jahren meiner Achtsamkeitsarbeit mit Frauen – ob Mütter von anstrengenden Teenagern, Führungskräfte aus der Wirtschaft oder talentierte Künstlerinnen – habe ich gelernt, dass wir alle ähnliche Kämpfe durchstehen, egal, in welcher Lebensphase oder Berufssparte wir uns befinden. Auch wenn ich hier ein beinahe entmutigend düsteres Bild von der Situation der Frau gezeichnet habe, kann ich dir versichern, dass ich voller Hoffnung bin. Langsam, aber stetig ändern sich die Verhältnisse.

Der Wandel ist im Gange. Aber wir müssen etwas dafür tun. Das beginnt damit, dass jede für sich selbst versucht, ihre innere Stärke zu mobilisieren. Genau zu diesem Zweck habe ich dieses Buch geschrieben. Für dich. Für mich. Für uns Frauen, damit wir erkennen, was wir brauchen, um uns zu heilen, um stark und selbstsicher zu werden. Um zu einem Vorbild für nachfolgende Generationen wie auch für uns untereinander zu werden. Um mich herum sehe ich zahllose strahlende, kluge, mutige Frauen jeglichen Alters. Indem wir das Gute in uns selbst entdecken, sehen wir auch das Gute in den anderen. Wir alle profitieren von Achtsamkeit. Wir lernen, authentisch zu sein, selbstsicher zu sein, unsere Stimme zu erheben und unsere innere Stärke zu mobilisieren, um uns zu verwirklichen. Egal, ob wir eine Firma oder einen Haushalt managen, mit Achtsamkeit tun wir es auf die bestmögliche Art und Weise. Davon profitieren unsere Familien, unsere Kollegen und der Rest der Welt – Männer eingeschlossen.

 

Meine Generation hat die Aufgabe, die Macht und die Freiheit, die [von Generationen von Frauen vor uns] erkämpft wurden, zu nutzen, um die Welt besser und sicherer zu machen.

Kirsten Gillibrand, Politikerin

Achtsamkeit – was ist das überhaupt?

Fast alles funktioniert wieder, wenn man es für ein paar Minuten vom Netz nimmt – auch du.

Anne Lamott, Schriftstellerin

Wir alle kennen das: Wir steigen ins Auto, fahren eine uns gut bekannte Strecke – und merken plötzlich, dass wir uns nicht mehr erinnern können, eine bestimmte Kurve genommen oder ein auffälliges Objekt passiert zu haben. Wir laufen auf Automatik und nehmen unsere Umgebung gar nicht richtig wahr. Da stellt sich die Frage: Wo um Himmels willen waren wir? In Gedanken. Entweder in der Zukunft (Was-wäre-wenn-Szenarios entwerfen, unsere To-do-Liste durchgehen) oder in der Vergangenheit (mit einer kürzlich geführten Unterhaltung oder einem lange zurückliegenden Erlebnis beschäftigt), aber ganz offensichtlich nicht im Hier und Jetzt. Matthew Killingsworth hat festgestellt, dass unser viel beschäftigter Geist fast die Hälfte unserer wachen Zeit auf Wanderschaft geht.3 Achtsamkeit ist das exakte Gegenteil von Leben auf Autopilot. Sie richtet unsere Aufmerksamkeit auf das, was im Moment passiert, und lehrt uns, dem mit wohlwollender Akzeptanz zu begegnen.

Ein anderer Weg, das Prinzip der Achtsamkeit zu begreifen, ist das Dreieck des Bewusstseins. Stell dir ein Dreieck vor: Die drei Spitzen repräsentieren unsere körperlichen Wahrnehmungen, unsere Gedanken und unsere Gefühle. Sie sind miteinander verbunden und interagieren, meistens ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Ein Beispiel:

Jane ist Marketing-Koordinatorin in einem großen Krankenhaus. Sie schätzt die interaktiven, dynamischen Seiten ihrer Tätigkeit. Sie liebt die Vielfältigkeit der Aufgaben, die Flexibilität bei der Arbeitsgestaltung und die Mischung aus individuellen Projekten und Arbeiten im Team. Ein Manko ist ihre Vorgesetzte Susan, ein launischer Typ. Sie kann großzügig und liebenswürdig sein, aber im nächsten Moment zornig, impulsiv und verletzend. Diese Unberechenbarkeit macht Jane zu schaffen. Sie arbeitet lange genug mit Susan zusammen (um genau zu sein: drei Jahre, sieben Monate und 23 Tage), um zu wissen, dass diese aggressiven Ausbrüche nie lange dauern. Früher oder später wird Susan wieder auf normal schalten. Aber jedes Mal hinterlässt sie Angst, gekränkte Egos und Ärger, der sich immer weiter aufstaut. Eines Morgens, als Jane sich auf eine wichtige Gruppensitzung später am Tag vorbereitet, stürmt Susan in ihr Büro. Sie ist hochrot im Gesicht und stößt zwischen zusammengebissenen Zähnen Bösartigkeiten hervor: „Tara hat ein Dokument verschickt, das gravierende Fehler enthält! Das geht nicht! Es setzt uns alle in ein schlechtes Licht! Eine Katastrophe!“

Peng. Was passiert jetzt in Janes Dreieck des Bewusstseins? Sie denkt: Oh nein, was ist da los? Sie spürt: Herzrasen, angespannte Muskeln, ihr bleibt die Luft weg. Sie fühlt: totale Überraschung, Verwirrung. Sie denkt: Was, wenn ich diesen Job verliere? Wie bezahle ich dann meine Miete? Ihr Körper reagiert mit Druck auf der Brust, hochgezogenen Schultern und Hitze, die ihr zu Kopf steigt. Ein Gefühl von Angst und Panik ergreift sie.

Während Janes Dreieck des Bewusstseins an allen Ecken lodert und sie dem Chaos hilflos ausgeliefert ist, laufen unzählige Kampf-oder-Flucht-Reaktionen ab, die sich in unserem Körper automatisch in Gang setzen, wenn er sich einer Gefahr gegenübersieht. Gut so, wenn es sich um eine reale Bedrohung handelt. Wenn du zum Beispiel auf einer belebten Straße stehst und plötzlich siehst, wie ein Auto mit hoher Geschwindigkeit auf dich zurast: Adrenalin wird ausgeschüttet, das Herz pumpt Blut in die Muskeln, dein Körper ist bereit, schnell zur Seite zu springen. Auch dein Gehirn geht in den Überlebensmodus. Der präfrontale Cortex, zuständig für Aufmerksamkeit, Organisation und die Fähigkeit, eine Situation mit Abstand zu betrachten, drosselt seine Aktivität, während die Amygdala, die den emotionalen Gehalt einer Situation bewertet und besonders auf Bedrohung reagiert, auf Hochtouren läuft. Leider ist es in unserem heutigen überaktiven Leben so, dass wir ständig und überall Gefahr wittern, auch wenn keine reale Bedrohung besteht.

In ihrem Büro ist Jane relativ sicher. Aber ihr Körper kann nicht zwischen einer realen und einer eingebildeten Gefahr unterscheiden und schaltet in den Kampf-oder-Flucht-Mechanismus. Je nachdem, wie bewusst Jane die Situation erlebt, sind zwei Reaktionen denkbar: Wenn sie an diesem Morgen von Achtsamkeit weit entfernt ist, wird sie emotional unter Druck geraten und ebenfalls Ärger aufbauen. Die beiden Kolleginnen werden sich in einer nutzlosen Auseinandersetzung aufreiben und dabei viel Zeit und Energie verschwenden, die sie besser verwenden würden, um eine Lösung für das Problem zu finden.

Wenn sich Jane jedoch ihre hochgezogenen Schultern und den Druck auf der Brust bewusst macht, wird sie das Bedürfnis spüren, ein paar Mal tief Luft zu holen – einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen –, und dadurch ihrem Gehirn signalisieren, dass es falscher Alarm war. Der Kampf-oder-Flucht-Mechanismus fährt herunter, der präfrontale Cortex kann wieder normal arbeiten. Jane fühlt keinen emotionalen Druck mehr, richtet ihre Aufmerksamkeit auf ihr Dreieck des Bewusstseins und ist in der Lage, ihre Reaktion auszuwählen, anstatt in blinder Panik zu handeln. Sie hat die körperlichen Symptome der Kampf-oder-Flucht-Reaktion als solche erkannt, hat sich wieder im Griff und kann gelassen zusehen, wie Susan ihren nur allzu vertrauten Zyklus durchläuft. Auch wenn Susan total durchdreht, wird sich Jane nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen und sagen, dass sie die Sache in Ordnung bringen wird. Auf dem Weg zu Taras Büro wird sie weiter tief ein- und ausatmen. Wenn sie die Tür erreicht, wird sie fähig sein, sachlich über das Missgeschick zu reden, Lösungsvorschläge zu machen und den Schaden zu begrenzen. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie die Sache ohne die Hilfe von Achtsamkeit ausgegangen wäre. Egal, auf welche Spitze des Dreiecks des Bewusstseins wir unsere Aufmerksamkeit richten, wir können dadurch auf jeden Fall unsere Reaktion auf negative Impulse besser kontrollieren, egal, ob es sich um den Stau in der Rushhour, um eine immer länger werdende To-do-Liste oder um nervende Kollegen handelt.

Die Achtsamkeitslehre geht zwar auf den Buddhismus zurück, ist jedoch eine ganz und gar weltliche Methode, Gehirn und Gemüt zu trainieren. Was nicht heißt, dass nicht auch Gläubige davon profitieren. Trotz des Hypes in den Massenmedien ist Achtsamkeit keine Modeerscheinung. Achtsamkeit ist eine praxiserprobte Methode, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist. Große Unternehmen wie Google, Aetna, General Mills, Intel, Goldman Sachs oder Dow Chemical bieten ihren Angestellten Achtsamkeitstraining an. Arbeitswissenschaftler*innen bestätigen, dass regelmäßig praktizierte Achtsamkeit zu weniger Krankheitstagen und vermindertem Stress führt, das allgemeine Wohlbefinden fördert und die Menschen kreativer, innovativer und kooperativer macht. Das Ergebnis sind eine positive Arbeitsatmosphäre und zufriedenere, motivierte Mitarbeiter*innen. Eine in Zusammenarbeit mit Hausarztpraxen durchgeführte Studie zum Thema achtsame Kommunikation in Familien ergab, dass Stress und Burn-out abnehmen, während sich das Klima verbessert und die Belastbarkeit zunimmt.4 Die Forschung zeigt, dass Achtsamkeit nicht nur Stress reduziert, sondern auch geistige Kräfte freisetzt, die wir normalerweise nicht oder nur in Ausnahmefällen mobilisieren können. Viele sprechen deshalb von Achtsamkeit als Superpower. Hunderte von Studien beweisen die positiven Effekte von Achtsamkeit im Team, bei Führungskräften und in Organisationen. Sie fördert die Gesundheit und das Wohlergehen aller.

Meditation – ganz anders, als du denkst

Ich denke 99 Mal nach und finde nichts. Ich höre auf zu denken, schwimme in der Stille, und die Erkenntnis kommt zu mir.

Albert Einstein, Wissenschaftler

Ich bin kein Sportfan. Aber mein sechsjähriger Sohn hat neuerdings seine Liebe zu Basketball und allem, was dazugehört, entdeckt. Das schließt auch unser lokales Team, die Philadelphia 76ers, mit ein. Als ich kürzlich dazukam, wie er und mein Mann ein Spiel ansahen, kam die Rede auf Starspieler Ben Simmons. Meine Jungs schwärmten von Simmons’ Geschicklichkeit, Präsenz und Fähigkeiten als Teamplayer. Ich schaute zu, wie er hoch konzentriert und elegant über das Feld stürmte. „Ich wette, er meditiert“, sagte ich spontan. Mein Mann lächelte über diese – wie er meinte – unsinnige Bemerkung. Aber mir war es ernst. Simmons strahlt diese ruhige, konzentrierte Aufmerksamkeit aus, die ein Ergebnis langjähriger Meditationspraxis ist. Und wie jede vernünftige Person, die beweisen will, dass sie recht hat, sprintete ich zu meinem Laptop und googelte: Meditiert Ben Simmons? Mein Achtsamkeits-Radar ist offenbar gut eingestellt: Meditation gehört zu Ben Simmons’ Trainingsprogramm – er meditiert „seit seinem elften Lebensjahr“. Sag ich doch! Ich sonnte mich einen Augenblick in meinem Triumph und freute mich über meine Intuition, muss aber einräumen, dass es nicht wirklich eine Überraschung war. Seit Jahren studiere und lehre ich Achtsamkeit. Ich weiß, dass Spieler von den Chicago Bulls, den Seattle Seahawks, den San Francisco 49ers, den Atlanta Falcons und auch viele Athleten anderer Disziplinen meditieren. Doch zu meiner – schwachen – Verteidigung kann ich sagen, dass ich daran in dem Moment nicht dachte. Ich sah nur einen jungen Mann, der mit unbeirrbarer, konzentrierter Leichtigkeit Regie in einem Basketballspiel führte. Noch mal: Sag ich doch!

Jeder Mensch hat ein individuelles Level an Gelassenheit und Emotionalität. Vielleicht war Ben schon als Kind „supergechillt“. Manche von uns bleiben selbst im größten Chaos ungerührt, während andere bei jeder kleinsten Störung aus dem Häuschen geraten. Wie auch immer, die gute Nachricht ist: Wir können uns Achtsamkeit und Gelassenheit aneignen, unabhängig von unserer natürlichen Veranlagung, unserem Alter und unserer Lebenssituation. Und zum Glück müssen wir weder Profisportler sein noch mit zehn Jahren begonnen haben, um von den weitreichenden Auswirkungen zu profitieren. Wer Achtsamkeitsmeditation regelmäßig praktiziert, kann die erworbene Eigenschaft in allen Bereichen seines Lebens anwenden, in jeder Situation und bei der Verwirklichung jedes Ziels oder Traums. Wenn wir ruhig, fokussiert und gut gelaunt sind, können wir unsere Leistungsfähigkeit besser ausschöpfen.

Achtsamkeit bedeutet, sich bei jeder beliebigen Tätigkeit bewusst auf den Moment zu konzentrieren und ihn zu akzeptieren, ohne ihn zu bewerten. Meditation bedeutet, sich eine Zeit zuzugestehen, in der wir nichts als unsere Achtsamkeit praktizieren. Wir suchen uns etwas, auf das wir uns konzentrieren (zum Beispiel das natürliche Heben und Senken unserer Bauchdecke beim Atmen). Wir achten darauf, dass unsere Gedanken nicht wandern (was jedem immer wieder passiert), und wenn sie es tun, bringen wir sie jedes Mal sanft zu dem gewählten Fokus (die Atmung) zurück.

Wir müssen keine unbequeme Haltung einnehmen, nicht Om singen und keine Räucherstäbchen anzünden, um zu meditieren. Es reicht, auf einem Stuhl oder einem Kissen am Boden Platz zu nehmen. Aber wir müssen regelmäßig praktizieren. Wenn du Klavierspielen oder Basketballspielen lernen willst, reicht es auch nicht aus, darüber zu lesen oder es einmal zu versuchen, um spielen zu können wie Beethoven oder Ben Simmons. Dasselbe gilt für die Meditation. Wir müssen regelmäßig meditieren, um unsere Fähigkeit zur achtsamen Aufmerksamkeit aufzubauen. Wer täglich meditiert, legt damit den Grundstein für ein ruhigeres, entspannteres und achtsameres Leben.

Gewohnheiten schränken die Freiheit nicht ein. Sie schaffen Freiheit.

James Clear, Verhaltens-Coach

Meditation bedeutet nicht (ich wiederhole: nicht), den Geist zu leeren. (Entschuldige, wenn ich das so demonstrativ schreibe. Aber es ist mir wichtig, dass diese Information ankommt, denn es handelt sich hier um eines der größten Missverständnisse, die mir je begegnet sind.) Unser Geist ist dazu geschaffen, zu denken. Die Meditation hat die Aufgabe, uns mit unseren unaufhörlichen Gedanken anzufreunden und ihnen zu erlauben, sich niederzulassen. Eine Schneekugel ist ein hervorragender Vergleich: Wenn wir gestresst und überfordert sind, ähnelt unser Geist einer Schneekugel, nachdem sie ordentlich geschüttelt wurde. Es ist unmöglich, durch die tanzenden Flocken hindurch etwas zu erkennen. Wenn wir ein paar Mal tief durchatmen, können sich unser Geist und unser Körper etwas beruhigen. Die Flocken in der Schneekugel sinken zu Boden. Die Stressfaktoren sind damit nicht verschwunden, aber die Sicht ist besser geworden. Jetzt können wir kreativer denken, Probleme leichter lösen und uns mit dem beschäftigen, was zählt. Wenn nur ein paar bewusste Atemzüge das bewirken können, kannst du dir vorstellen, welche positiven Auswirkungen fünf volle Minuten der Mediation haben können.

 

Die neurowissenschaftliche Forschung hat nachgewiesen, dass regelmäßiges Meditieren Form und Funktion des Gehirns beeinflusst. Der präfrontale Cortex (wo Probleme gelöst, Pläne geschmiedet und Emotionen kontrolliert werden) und der Hippocampus (wo Erinnerungsvermögen und Lernen angelegt sind) nehmen an Größe zu, während die Amygdala (die bei der Kampf-oder-Flucht-Reaktion aktiv wird und die emotionale Reaktivität steuert) allmählich schrumpft.5 Das ist noch nicht alles. Bestimmte Verbindungen zwischen den verschiedenen Bereichen des Gehirns werden schwächer, während andere sich verstärken. Zusammengenommen werden emotionale Reaktionen gedrosselt zugunsten von größerer Aufmerksamkeit und besserer Konzentration.

Wenn wir uns von dem unaufhörlichen Geschwätz um uns herum nicht zukleistern lassen wollen, müssen wir uns bewusst Momente der Stille zugestehen. Für manche ist der Gedanke an Stille beklemmend, während andere sie als eine wohltuende Pause für unsere überlasteten Sinne empfinden. Für viele ist es schon einige Zeit her, dass sie eine längere Phase der Stille erlebt haben. Eine große Rolle spielt dabei, ob wir eher introvertiert oder extrovertiert sind, an welcher Station unseres Lebens wir stehen und in welchem Maße unsere Sinne Tag für Tag stimuliert werden. Wenn wir in unserem Leben keine Zeit für Stille haben, sie uns nicht zugestehen, nehmen wir uns selbst und anderen die Chance, das Beste in uns zu entdecken und zu genießen, was wir als Freundin, Partnerin, Mutter, Kollegin und Frau zu bieten haben. Im Rahmen meines Meditationsunterrichts konnte ich beobachten: Wer einmal Stille erlebt hat, entwickelt ein wachsendes Verlangen danach. Ruhig dazusitzen und die Gedanken zu sortieren, ohne sich von den Gefühlen, die sie auslösen, überwältigen zu lassen, vermittelt uns Klarheit und Einsicht, die unserem Leben einen positiven Antrieb geben.