Verhasst

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Z serii: Verhasst #1
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Wie gerne hätte ich diese Worte geglaubt, doch ich kannte Robert. Er gab nicht so schnell auf. Jetzt war er alleine, doch er hatte fast die ganze Klasse hinter sich und gegen die hatte Alex keine Chance, wodurch ich bedrückt meinen Kopf hängen ließ.

„Was ist los?“ Ich hörte erneut die Sorge in seiner Stimme, was mich kurz seufzen ließ. „Ich weiß es nicht. Aber irgendwie glaube ich, dass dies nur der Anfang war.“ Ich wünschte mir, dass es nun endlich vorbei war, doch irgendwie konnte ich es einfach nicht glauben. „Ich mache mir Sorgen, dass du nun auch von ihnen angegriffen wirst. Einer gegen einen ist ja noch in Ordnung, aber wenn es dann plötzlich mehr werden, hast du auch keine Chance mehr.“

„Kann schon sein. Aber ich will nicht wegsehen, denn das lässt Menschen sterben.“ Ich hörte die Trauer in seiner Stimme, doch ich traute mich nicht nachzufragen. Schließlich kannten wir uns noch nicht lange und irgendwie wollte ich nur endlich wieder akzeptiert werden, einen Freund haben. Konnte Alex das für mich werden?

„Danke.“ Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, das von dem Braunschopf erwiderte wurde, bevor er mir dann deutete, auf einer Bank Platz zu nehmen, wo wir uns noch ein wenig unterhalten konnten, bevor der Gong das Ende der Pause bekannt gab und sich unsere Weg erneut trennten…

Es tat gut endlich einmal wieder mit jemanden normal zu reden, wodurch ich mit einem leichten Lächeln nach der Pause zurück ins Klassenzimmer ging. Ich spürte wie die stechenden Blicke auf mir ruhten und mein Lächeln erlosch. Hier war ich der Feind und alle waren gegen mich.

Dennoch taten sie nichts und ließen mich auf meinen Platz gehen. Doch kaum saß ich, kamen Robert und zwei weitere Jungen auf mich zu und bauten sich vor mir auf. Ich fühlte mich klein und hilflos, wodurch ich fast automatisch tiefer in dem Stuhl versank.

„Du fühlst dich stark. Jetzt da du einen Freund hast. Aber er wird mit dir untergehen. Ich hoffe, dass du das verkraften kannst. All das Leid, was diesem Kerl jetzt widerfährt, ist deine Schuld, Felix. Deine ganz alleine.“ Ich spürte erneut, wie mein Körper leicht unter den Worten zitterte, doch ich krallte mich nur an dem Saum meiner Ärmel fest und versuchte den Blick meines ehemaligen besten Freundes stand zu halten. Doch es ging nicht, weshalb ich bald mein Haupt demütig senkte.

„Ich… ich… er wollte das selbst. Ich habe ihn nicht darum gebeten und er hat keine Angst vor euch“, begehrte ich leicht auf und Robert lachte nur finster, als sein Blick sich in meinen fraß und ich nur trocken schlucken konnte: „Noch nicht. Aber glaub mir, Felix, er wird sie noch bekommen und dann stehst du wieder ganz alleine auf weiter Flur.“

Er schlug demonstrativ vor mir auf den Tisch, was mich zusammenzucken ließ, bevor er sich mit einem dunklen Lachen von mir entfernte. Seine Freunde folgten ihm und ich spürte erneut die Verzweiflung in meinem Herzen, die mir Tränen in die Augen trieb.

Ich durfte hier nicht weinen. Nein, das durfte ich nicht. Es würde sie nur bestätigen und sie würden noch mehr auf mir herumhacken. Ich musste stark sein und durchhalten. Nur noch eineinhalb Stunden. Das würde doch gehen, oder?

Ich schluckte hart und atmete tief ein und aus, wodurch die Tränen langsam wieder verschwanden und ich diese Katastrophe gerade noch einmal abwenden hatte können. Aber was tat ich nun? Alex wollte sich nicht raushalten und ich wollte ihn auch nicht von mir stoßen. Ich brauchte jemanden, der mir durch diese Zeit half. Sonst tat es doch niemand. Allen anderen war ich nur egal.

Ich musste leicht grinsen, als ich an das Lächeln von Alex dachte. Er begegnete mir ohne Vorurteil und verteidigte mich sogar. Ihm war egal, wen oder was ich liebte. Es tat so gut, wenn man mich mal nicht als Monster bezeichnete. So verdammt gut.

Als der Lehrer ins Zimmer kam, lauschte ich seinem Unterricht nur mit halbem Ohr und versuchte, immer noch irgendeinen Weg zu finden, Alex zu beschützen. Allein der Gedanke war eigentlich lächerlich. Ich konnte mich ja nicht einmal selbst verteidigen, wie sollte ich dann überhaupt noch einen Zweiten in Schutz nehmen.

Vielleicht sollte ich noch einmal mit ihm reden. Nein, das war auch nicht möglich. Alex würde nicht weichen. Ich hatte seinen Ernst gesehen. Er würde mich nicht im Stich lassen, egal, wie sehr ich ihn darum bitten würde.

Der einzige Weg wäre, ihn von mir zu stoßen. Doch das konnte ich nicht. Das war für mich keine Lösung, denn dafür genoss ich die Gesellschaft von ihm viel zu sehr. Ich wollte nicht mehr alleine sein.

Ein tonloser Seufzer entwich meiner Kehle, als der Schlussgong erklang und ich meine Sachen zusammenpackte. Jeder Kerl, der an meinem Platz vorbeiging, schmiss irgendetwas von meinen Sachen runter, sodass ich mich bücken musste und erst als Letzter das Zimmer verließ. Der Lehrer bekam es jedoch nicht mit, weil er selbst mit Packen beschäftigt war und ich hatte nicht vor zu petzen.

Schließlich war alles in meiner Tasche verstaut und ich konnte sie schultern, bevor ich dann das Zimmer verließ und nach Hause gehen wollte, doch als ich den Schulhof überquerte, wurde ich erneut umzingelt.

Robert sah mich wieder eiskalt an und ich konnte sein Verhalten immer noch nicht verstehen. Wie war es für ihn so einfach, mich zu hassen? Schließlich waren wir Sandkastenfreunde gewesen. Wir hatten unseren ersten Schmetterling zusammen gefangen, Sandburgen gebaut und Mädchen geärgert. So oft gelacht und einander immer wieder getröstet. Wie konnte er das alles nur vergessen und mich so stark verachten? Ich begriff es nicht...

„Na, wo ist dein Wachhund jetzt?“ Der Spott in seiner Stimme tat mir weh, doch ich zuckte nur mit den Schultern: „Keine Ahnung. Vielleicht schon auf den Weg nach Hause.“

Er stieß mir grob gegen den Brustkorb, was mich kurz nach hinten taumeln ließ. Direkt in die Arme eines anderen Kerls, der mich gnadenlos festhielt. Und bevor ich verstand, was für ein Spiel das jetzt wieder wurde, spürte ich einen steinernen Schmerz in meiner Magengrube. Ich wollte mich zusammenkrümmen, doch der Junge hinter mir ließ mich nicht, wodurch Robert immer wieder zuschlug.

Die anderen feuerten ihn an und ich spürte neben dem Schmerz wieder diese Verzweiflung in mir. Warum taten sie das? Was versprachen sie sich davon? Welches Ziel verfolgten sie?

Dieses Mal beschränkte sich Robert aber nicht nur auf meinen Oberkörper, sondern schlug mir auch ins Gesicht. Ich wusste nicht mehr, woher der Schmerz genau kam und wo man mich traf, doch irgendwann ließ man mich los. Irgendwie glaubte ich auch, dass man mich anspuckte, doch das war mir egal, als ich endlich in mich zusammenfallen konnte und sie mit einem schadenfrohen Lachen davongingen.

Ich begriff es nicht und durch diese Hoffnungslosigkeit spürte ich erneut die Tränen auf meiner Wange. Nein, ich durfte nicht weinen. Ich wollte nicht weinen. Warum hörten sie nicht auf zu fließen? Sie sollten verschwinden. Dadurch würde alles nur schlimmer werden.

Plötzlich berührte man mich sanft an der Schulter, wodurch ich zusammenzuckte und mich auf einen weiteren Schlag gefasst machte, doch er kam nicht. Stattdessen hörte ich die besorgte Stimme von Alex: „Felix? Ist alles in Ordnung? Es tut mir Leid, dass ich zu spät komme.“

Ich konnte ihm nicht böse sein. Es ging einfach nicht. Schließlich hatte er ein eigenes Leben und selbst Unterricht, den er besuchen musste. Er konnte nicht immer bei mir sein, wodurch ich ihm antworten wollte, doch aus meiner Kehle drang nur ein leises Schluchzen.

„Komm, lass uns gehen.“ Er half mir aufzustehen, wobei mir fast sofort schlecht wurde und ich mich übergeben musste. Das Blut darin ignorierte ich, denn so wie es schmeckte, kam es aus meinem Mund. Bestimmt fehlte mir irgendein Zahn. Oh ja, da schwamm er auch.

„Du musst es jemanden sagen“, drang seine Stimme zu mir durch, wodurch ich nur den Kopf schüttelte: „Nein, das würde nichts bringen. Niemand kann mich beschützen. Solange ich hier bin, werden sie es tun und nicht damit aufhören.“

„Dann zeig sie an“, drängte er weiter und ich sah ihn geschockt an. Das konnte ich doch nicht tun. Sie waren meine Klassenkameraden und wahrscheinlich meinten sie es auch gar nicht so. Eigentlich waren sie doch nur mit der Situation überfordert. Sie wollten mir nicht wirklich schaden und bestimmt nicht meinen Tod. Irgendwann würde es schon aufhören.

„Nein, das kann ich nicht tun. Sie sind meine Klassenkameraden.“ Energisch schüttelte ich den Kopf, aber Alex sah mich nur besorgt an: „Sie schlagen dich zusammen, bespucken und hassen dich. Willst du wirklich darauf warten, dass dir einer von ihnen ein Messer in den Leib rammt und du daran verreckst?“

Ich verstand die Ekstase in der Stimme von Alex nicht, doch ein unangenehmer Schauer glitt bei seinen Worten über meinen Rücken. Würden sie wirklich so weit gehen? Wäre Robert dazu in der Lage? Ich wusste es nicht, denn es schien für mich, als würde ich ihn nicht mehr kennen.

„Ich kann nicht“, meinte ich leise und wandte mich dann ab, um in Richtung Heimat zu gehen. Ich spürte, wie Alex hinter mir blieb und mich einfach nur ansah. Hoffentlich verstand er es. Aber es ging einfach nicht. Sie waren meine Klassenkameraden. Ich hatte so oft mit ihnen gelacht und gespaßt. So viele Erinnerungen mit ihnen. Sie mussten sich einfach nur an meine Sexualität gewöhnen, lernen damit umzugehen und dann würde alles wieder wie früher. Bestimmt…

„Oh Gott, Felix! Was ist passiert?!“ Meine Mutter war sofort bei mir, als sie meine Verfassung sah. Sie berührte meine Wange und ich zuckte zurück, weil ein gleißender Schmerz durch meinen Körper raste. „Nichts Schlimmes.“

„Nichts Schlimmes?! Bist du des Wahnsinns? Hast du schon einmal in den Spiegel geschaut? Schatz, du siehst furchtbar aus. Wer hat dir das angetan?“ Ihre Stimme war voller Sorge und ich versuchte zu verstehen, warum sie so mit mir redete, doch ich lächelte nur kurz, bevor ich dann mit den Schultern zuckte. „Irgendwelche Fremden. Ich weiß nicht, was ich ihnen getan habe.“

 

Ich musste lügen. Immer wieder lügen. Solange hatte ich schon mit einer Lüge gelebt. Jetzt sah sie nur anders aus. Früher hatte ich so getan, als würden mich Mädchen interessieren. Jetzt tat ich so, als würden es nicht meine Klassenkameraden und mein bester Freund sein, die versuchten mich zu zerstören.

„Das… das kann doch nicht sein. Dir ist doch früher nie etwas passiert. Was hat Robert denn gemacht? Hat es ihn auch erwischt?“ Ein Dolch raste in mein Herz, als sie mich auf meinen ehemals besten Freund ansprach, doch ich schluckte nur trocken und versuchte mich zu beruhigen. Sie wusste ja noch nicht, dass diese Beziehung beendet war.

„Nein, er war nicht dabei gewesen.“ Es tat weh, zu lügen und falsch zu lächeln. Doch ich konnte es nicht verhindern. Es musste sein, um noch Schlimmeres zu verhindern. Was würde meine Familie tun, wenn sie wusste, wie ich empfand und warum man mir das antat? Sie würden mich bestimmt auch verachten.

„Komm mit in die Küche. Wir kühlen deine Prellungen.“ Sie führte mich in den besagten Raum und ich nahm am Esstisch Platz, wobei ich ihr dabei zusah, wie sie eine Kältekompresse in ein Handtuch wickelte und zu mir kam.

Ich zog scharf die Luft ein, als sie erneut einen kurzen Schmerz entfachte, bevor die lindernde Wirkung einsetzte und ich mich langsam wieder entspannte.

„Du siehst furchtbar aus. Gibt es vielleicht irgendwelche Zeugen?“, durchbrach sie schließlich die Stille, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste nicht, ob es neben Alex noch jemand gesehen hatte, aber es war auch egal. Ich wollte meine Klassenkameraden nicht anzeigen.

„Ich habe zumindest keine gesehen“, meinte ich ruhig und die Sorge in den Augen meiner Mutter wuchs noch einmal, weshalb ich versuchte zu lächeln. Doch ich spürte, dass es nicht funktionierte und ich glaubte, mittlerweile Tränen bei ihr zu sehen.

„Wir müssen Anzeige erstatten, Felix. Und wenn auch nur gegen Unbekannt. Vielleicht hat ja doch jemand etwas gesehen“, sprach sie wieder das Thema an, das ich nicht wollte, woraufhin ich den Kopf schüttelte: „Nein, das bringt doch nichts. Du weißt doch, wie die Menschen sind. In solchen Momenten hat niemand etwas gesehen. Das ist reine Zeitverschwendung.“

Ich bemerkte, dass es ihr nicht gefiel, doch sie gab schließlich nach: „Wenn du meinst. Pass bitte besser auf dich auf. Du bist mein einziger Sohn und ich will dich nicht verlieren.“

Ihr einziger Sohn… ihr schwuler Sohn…

Ob sie mich noch so liebevoll behandelte, wenn ich ihr sagte, wie ich mich fühlte und was wirklich geschehen war? Wenn ich ihr sagte, was für Menschen ich liebte und attraktiv fand? Könnte sie mich dann noch lieben oder hasste sie mich dann auch?

Im nächsten Moment ging die Wohnungstür auf und mein Vater meldete sich zurück: „Hallo, Schatz. Ich bin heute ein wenig früher weg, weil die Arbeit nicht genug war.“

Er trat in die Küche und sah mich überrascht an, bevor er dann auch zu mir eilte. „Felix?! Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?“

„Irgendwelche Fremden. Ich weiß es nicht“, log ich weiter und er sah mich noch einmal an, bevor er dann breit grinste: „Aber du hast hoffentlich auch ein wenig zurückgeschlagen. Bist ja schließlich keine schwächliche Tunte, oder?“

Die Bezeichnung tat weh und ich zwang mich zu einem Nicken durch. Ja, vielleicht würde es meine Mutter verstehen, doch für Vater wäre ich gestorben. Er hasste Menschen wie mich und war der Meinung, dass dies keine richtigen Männer wären sondern alles nur Waschlappen. Ich musste lügen. Weiter lügen.

„Oh, du hast einen Zahn verloren. Ich hoffe, dass dein Gegner auch nicht mehr alle hat, oder?“ Er wirkte stolz auf mich. Als wäre man nur ein richtiger Mann, wenn man sich geprügelt hatte und ich nickte erneut. Ich konnte nicht sprechen, denn die Verzweiflung schnürte mir meine Kehle zu.

Niemand würde mich akzeptieren, so wie ich war. Nur Alex. Ja, nur für Alex war ich immer noch ein normaler Junge. Aber für alle anderen musste ich entweder lügen oder das Monster sein, dass sie hassten und vernichten wollten…

Der nächste Tag kam. Die Torturen gingen weiter. Immer wieder wurde ich gehänselt, geschubst, geschlagen und bespuckt. Ab und an stellte man mir ein Bein, doch ab den zweiten Mal konnte ich mich jedes Mal wieder selbst fangen und einen Sturz verhindern.

Ich ignorierte es so gut es ging. Den Schmerz in meinem Körper und auf meiner Seele. Vermied den Kontakt zu Alex, damit er nicht auch noch in diese Situation mit hineingezogen wurde. Wich ihm immer wieder aus, wenn er mich sah und auf mich zu gerannt kam. Nein, ich könnte nicht verantworten, wenn er ebenfalls Schläge bekam, weil er in meiner Nähe war. Da musste ich alleine durch.

Es ging meistens gut. Langsam bekam ich ein Gefühl dafür, wann sie kamen, um mir zu schaden und konnte ihnen gekonnt ausweichen. Kapselte mich von Mal zu Mal mehr ab. Wurde immer stiller und in mich gekehrt. Die besorgten Blicke meiner Eltern ignorierte ich, genauso wie die Hartnäckigkeit von Alex.

Es vergingen Wochen und ich nahm langsam an Gewicht ab, weil ich keine Ruhe fand, um zu essen oder mir schlichtweg der Appetit fehlte und die Blicke wurden besorgter. Doch sie schienen nicht zu wissen, wie sie es ansprechen sollten. Auf die Frage „wie es mir geht“, bekamen sie nur die Standartantwort „gut“.

Nach und nach hörte auch Alex auf, zu mir kommen zu wollen und ich verkroch mich immer mehr in den dunklen Ecken des Schulgebäudes, um dort meine Ruhe zu haben. Hin und wieder weinte ich stumm für mich alleine. Ich wusste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte und wünschte mir, dass ich irgendwo anders sein könnte. Dass ich den Tag noch einmal erleben könnte und alles zurücknehmen. Ich wollte wieder in der Lüge leben, dass ich Mädchen liebte. Mein Outing war ein riesiger Fehler gewesen.

„Felix?“ Ich saß am Esstisch und stocherte eher lustlos in meiner Mahlzeit herum, die irgendwann vor meiner Sezierung mal ein Schnitzel mit Pommes gewesen sein musste, als mich meine Mutter besorgt ansprach.

Nur träge hob ich den Kopf und sah sie an. Die Sorge in ihren Augen war allgegenwärtig, wodurch ich sie schon gar nicht mehr richtig wahrnahm und wartete darauf dass sie weitersprach.

„Wir haben einen Termin für dich ausgemacht und wir möchten, dass du ihn wahrnimmst“, redete sie weiter und schien auf irgendeine Reaktion von meiner Seite zu hoffen, doch ich blieb regungslos.

Ich fühlte nichts dabei, als sie mir das sagte, wobei ich meinen Blick wieder auf mein zerlegtes Essen gleiten ließ: „Wann und wo?“

„Diesen Freitagnachmittag gleich nach der Schule und zwar bei dem Psychologen Dr. Kreuz“, erklärte sie weiter und ich zuckte zusammen. Sie schickten mich zum Psychologen?! Hatten sie nicht mehr alle? Was sollte mir dieser Seelenklempner schon bringen? Er würde nur herumstochern und noch mehr kaputt machen! Hatten sie nicht mehr alle Tassen im Schrank?

„Warum?“ Meine Stimme war nur ein Krächzen und erneut tauschten sie besorgte Blicke aus, bevor dann mein Vater zu sprechen begann: „Weil wir dir nicht mehr glauben, dass mit dir alles in Ordnung ist und wir wollen nicht, dass du an irgendetwas zerbricht, dass du in dich hineinfrisst. Du willst nicht mit uns reden, also hoffen wir, dass du bei einem Psychologen, der zum Schweigen verpflichtet ist, vielleicht offener wirst.“

Ich verstand ihre Sorge und ich wünschte mir auch, dass ich anders handeln könnte. Doch mit wem sollte ich reden? Alle verachteten mich oder ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen.

Die aktuelle Situation hatte mich einfach zum Schweigen verdammt. Ich kam nicht mehr vor und zurück und daran würde auch ein Psychologe nichts ändern, dennoch nickte ich und seufzte resigniert: „Okay, wenn es euch dann besser geht, werde ich ihn besuchen. Versprecht euch aber nicht zu viel davon.“

„Danke, Schatz.“ Meine Mutter wirkte glücklich und es tat weh. War sie so leicht zufrieden zu stellen oder gar zu beruhigen? Warum sah sie es nicht, dass ich innerlich vor Schmerzen schrie? Könnte sie mich nicht einfach in den Arm nehmen und sagen, dass sie mich liebte?

Ich spürte erneut, wie Tränen in meinen Augen brannten, wodurch ich die Gabel niederlegte und mich erhob. „Ich hab keinen Hunger mehr.“

„Aber du hast gar nichts gegessen“, protestierte meine Mutter, doch ich ignorierte es und ging einfach in mein Zimmer zurück, das ich auch sogleich abschloss. Dort ließ ich mich auf mein Bett fallen, um erneut zu weinen.

Sie sahen es alle nicht. Wagten sich nicht an mich heran und sie nahmen mich nicht mehr in den Arm. Keiner mochte mich mehr. Ich fühlte mich alleine und verloren. Die Tatsache, dass man mich nun zu einem Psychologen schickte, machte es nicht gerade leichter für mich.

Was sollte ich diesem Kerl denn sagen? Würde er meine Situation überhaupt verstehen? Was tat ich, wenn er mich dann plötzlich auch hasste?

All diese Fragen rasten durch meinen Kopf und ich wünschte mir, dass ich nicht gehen musste. Ich wollte einfach nur stumm leiden und die Schule irgendwie überleben. Warum verstanden sie das nicht? Es war mein Leben. Mein verfluchtes Leben.

Und nichts würde es wieder kitten können. Auch kein Besuch bei so einem bescheuerten Psychiater.

Warum sahen sie das nicht? Diese Situation war da und sie würde erst verschwinden, wenn ich die Schule beendet hatte. Danach würde ich weit wegziehen. Irgendwohin, wo man mich nicht kannte und dort ein Leben beginnen, in dem man mich wieder lieben könnte.

Bis dahin musste ich nur überleben. Nur irgendwie überleben…

„Hallo, Felix. Setz dich doch bitte.“ Ich betrat den Beratungsraum des Psychiaters und sah ihn kurz unsicher an. Er war gerade einmal knapp über dreißig, hatte braunes, kurzes Haar, das neckisch immer mal wieder in sein Gesicht fiel. Seine blauen Augen sahen mich sanft und verständnisvoll an.

Als ich ihm meine Hand zur Begrüßung gereicht hatte, war der Druck sanft und stark zu gleich gewesen. Er schien ein netter, junger Mann zu sein. Aber er war halt ein Mann und Männer hassten Menschen wie mich.

Unsicher nahm ich schließlich auf der Couch Platz, wobei sich Dr. Kreuz auf einen Sessel in meiner Nähe setzte, um so zu verhindern, dass ich allzu laut sprechen musste. Ich fühlte mich nicht wohl. Er würde mir nicht helfen können. Das wusste ich jetzt schon.

„Deine Eltern haben den Termin ausgemacht. Ist er überhaupt in deinem Interesse?“ Der Anfang des Gespräches überraschte mich doch sehr, wobei ich kurz unsicher lächelte: „Nicht unbedingt. Aber wenn ich sie damit beruhigen kann, dann werde ich es wohl tun.“

„Okay, dann bezweifle ich, dass es irgendetwas gibt, worüber du eigentlich sprechen möchtest, oder?“, fragte er ruhig nach. Seine Stimme war sanft und erweckte in einem das starke Gefühl, geborgen zu sein, wodurch ich mich konzentrieren musste, um dieser Illusion nicht zu verfallen.

„Ich weiß es nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und wich seinem Blick aus, der mich glauben ließ, dass er bis tief in meine Seele sehen konnte und das wollte ich nicht. Niemand sollte in meine Seele sehen können. Dort unten gab es nichts zu entdecken außer Schund und Müll. Zerbrochene Scherben meines früheren Ichs.

„Felix.“ Seine Stimme blieb sanft und ich schrak hoch, wodurch ich wieder in seinen Augen versank. So ein wunderschöner Mann.

„Etwas bedrückt dich. Das riecht man zehn Meter gegen den Wind. Ich kann verstehen, wenn du darüber noch nicht sprechen kannst, weil du vor irgendetwas Angst hast. Aber ich will auch, dass du verstehst, dass ich nicht hier bin, um dich zu verurteilen oder dir deine Fehler aufzuzeigen. Ich bin hier, damit du jemanden hast mit dem du reden kannst. Und vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung für das Problem, das deine Augen so traurig macht.“ Auf seine Worte hin musste ich trocken schlucken und wünschte mir, dass er es anders gesagt hätte.

Meine Hände krallten sich ohne mein Zutun in meine Hose und ich wünschte mir, dass es einen anderen Weg gäbe. Doch ich sah keinen. Nun war ich hier. Für zwei Stunden und musste mich mit dem Mann unterhalten, wenn ich nicht wollte, dass meine Eltern ihr Geld ganz umsonst ausgaben.

„Alle hassen mich“, kam es leise über meine Lippen. Ich wünschte mir, dass er es nicht verstanden hätte, doch mein Wunsch ging nicht in Erfüllung, denn er antwortete sofort: „Alle? Deine Eltern wirkten nicht so.“

 

„Sie wissen es ja nicht. Darum hassen sie mich noch nicht. Aber sie würden es tun, wenn sie die Wahrheit wüssten.“ Ich spürte, wie ich mich mit jedem Wort, das über meine Lippen kam, freier zu fühlen begann.

„Was ist denn die Wahrheit?“, fragte Dr. Kreuz ruhig nach und ich schluckte trocken. Konnte ich es ihm sagen? Er war ein Mann. Bestimmt würde er mich dann auch hassen und mich sofort aus dem Zimmer jagen.

„Das ist nicht wichtig. Sie alle hassen mich. Schlagen auf mich ein und werfen mir Steine in den Weg. Ich will nur noch weg. Einfach so weit weg wie möglich. Aber es geht nicht. Noch nicht. Ich muss nur aushalten. Nur solange bis ich mit der Schule fertig bin. Dann kann ich wegziehen“, sprach ich meine Gedanken weiter aus, wobei mich der Arzt skeptisch ansah. „Du willst also davonlaufen?“

„Ja, es ist am einfachsten“, stimmte ich ihm zu, wobei er erneut eine Augenbraue hob, bevor er dann schwer seufzte: „Wie viele Jahre hast du auf dieser Schule noch vor dir?“

„Mit diesem Jahr sind es vier“, antwortete ich auch auf diese Frage, wobei er erneut seufzte und den Kopf schüttelte, bevor er etwas auf seinem Blatt Papier notierte und mich dann wieder ansah. „Vier Jahre sind eine lange Zeit. Viel Zeit um die Kraft endgültig zu verlieren und sich selbst das Leben zu nehmen.“

„Nein, das habe ich nicht vor“, widersprach ich sofort, wobei er mich nur traurig anlächelte: „Einen Keks für jeden Patienten, der mir das gesagt hatte und es dann doch tat. Ich bräuchte nichts mehr zum Essen kaufen.“

Ich verstand diese Aussage nicht ganz. Schließlich hatte ich nur einmal solche Gedanken gehabt. Aber ich würde es niemals tun. Denn solange ich lebte, konnte es doch immer noch irgendwann besser werden.

„Warum hassen sie dich? Es muss ja wirklich etwas sehr Gravierendes sein, wenn sie dich so fertig machen. Kannst du es nicht ändern?“, fragte er ruhig weiter nach und ich schluckte erneut trocken, bevor ich dann nur den Kopf schüttelte: „Nein.“

„Wieso nicht?“ Konnte er sich keinen Reim darauf machen oder wollte er die Wahrheit nicht wissen, so wie Robert damals?

„Weil ich es mir nicht aussuchen kann. Es geht einfach nicht. Würde es, hätte ich es schon längst getan.“ Ich wollte mich nicht erneut outen. Die Erinnerungen an das letzte Mal waren noch allzu präsent. Es schmerzte, wenn ich daran zurückdachte, wie Robert auf mein Geständnis reagiert hatte.

„Hat es etwas mit deiner Sexualität zu tun?“, fragte der Therapeut ruhig weiter nach, wodurch ich ihn überrascht ansah und er wartete gar nicht auf eine Antwort: „Anscheinend hab ich Recht. Du bist also schwul. Und daran ist was schlimm? Ich habe mehr als genug Patienten, denen es genauso ergeht wie dir. Es ist mir egal, wer wen liebt. Sie alle sind wunderbare Menschen und durchlebten denselben Schmerz, der dich im Moment ereilt. Aber ich kann dir helfen. Wenn du mich lässt.“

Mein Herz machte einen Sprung. Ich war nicht mehr alleine. Endlich half mir ein Erwachsener und neben Alex der Zweite, der meine Sexualität nicht als schlimm empfand. Es nahm mir eine ungemeine Last von den Schultern und zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen.

Vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass ich schwul war…