Einfach nicht hinfallen

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Z serii: Verhasst #2
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„Das klingt nach einer guten Idee. Chris schien wirklich dringend jemanden zum Reden zu brauchen und so wie es aussieht, hat er dich dafür vorgesehen.“ Alex klopfte mir aufmunternd auf die Schultern. Meine Gewissensgrille war also mit dieser Entscheidung zufrieden. Ob meine Nase irgendwann auch länger würde, wenn ich log?

Ich musste bei diesem Gedanken ein wenig schmunzeln und innerlich den Kopf schütteln. Dieser Film zählte nicht unbedingt zu meinen Lieblingen. Ich mochte nur die Katze darin, aber dennoch musste ich im Moment immer wieder an dieses Beispiel denken. Vielleicht war er auch eher wie Sebastian die Krabbe. Aber dafür verpetzte er zu wenig. Er ließ mich meine Entscheidungen selbst treffen und redete mir lieber ins Gewissen.

„Das freut mich, Jiminy.“ Ein Grinsen zauberte sich auf meine Lippen, welches sogar noch breiter wurden, als ich Alex verwirrten Blick erkannte und selbst Leon musste leise kichern, worauf sich der Schwächere zu ihm umdrehte und ihn noch verwirrter musterte.

„Das ist ein guter Vergleich, Felix.“ Leon hatte Mühe sich wieder einzukriegen und langsam wurde aus dem Kichern ein lautstarkes Lachen, was mich sogar ein wenig ansteckte. Alex selbst verstand noch weniger und langsam verwandelte sich seine Verwirrung in Ärger um, worauf ich sanft seine Schulter berührte.

„Das ist nicht böse gemeint, Alex, aber manchmal wirkst du auf mich, wie mein Gewissen, das mich von schlechten Entscheidungen abhalten will. Vor allem in der Sache Chris hast du es wirklich stark raushängen lassen.“ Ich hoffte, dass ich ihn so ein wenig besänftigen konnte und tatsächlich entspannten sich seine Züge. Er lächelte nun ebenfalls und langsam fing sich auch Leon wieder.

„Lust auf ein Eis, um euren Sieg zu feiern?“, schlug ich eine nächste Unternehmung vor, die mit Einstimmigkeit angenommen wurde. Der einstige Unmut, den Chris über uns gelegt hatte, war nun verschwunden und ich hatte mir vorgenommen, dass ich am Abend mal bei ihm Zuhause vorbeigehen würde. Vielleicht brauchte er ja wirklich meine Hilfe und auch wenn ich ihm seine Zurückhaltung von damals noch nicht gänzlich verziehen hatte. So wollte ich ihm zumindest die Chance geben sich zu erklären. Jeder hatte es verdient, sich erklären zu dürfen. Auch Chris…

Kapitel 3

„Tau“, las ich in Gedanken das Namensschild über der Türklingel. Ein kurzer und knapper Familienname, bei dem ich weder an die Mafia noch an eine andere Verbrecherorganisation denken musste und der in mir auch sonst keine negativen Verknüpfungen hervorrief. Dennoch zitterte mein ganzer Körper, als es darum ging, auf die Klingel zu drücken.

Alex und Leon hatten sich bei dem Gartentor von mir verabschiedet aber erst, nachdem ich ihnen mehrmals versichert hatte, dass es für mich okay war, wenn sich unsere Wege für heute hier trennen würden. Ich wollte mit Chris alleine sprechen. Schließlich schien ihn jeder andere nervös zu machen. Er sollte frei sprechen können.

Ich atmete tief ein und aus, bevor ich dann all meinen Mut zusammennahm und auf die Klingel drückte. Es dauerte nur wenige Atemzüge und im nächsten Moment sah ich in das fragende Gesicht von Chris. Zumindest dachte ich das im ersten Augenblick, weil sie sich so ähnlich sahen, doch dann sprangen mir ihre Brüste förmlich ins Gesicht und auch das längere Haar wurde mir bewusst, welches über ihre Schultern fiel.

„Ja?“ Sie wirkte genervt, als sie sich möglichst cool an den Türrahmen lehnte und ich spürte erneut dieses Unbehagen in mir. War es wirklich in Ordnung hier zu sein? Vielleicht war Chris ja auch noch gar nicht Zuhause? Sollte ich vielleicht später wiederkommen oder jetzt einfach mit der Tür ins Haus fallen? Mir kam es vorhin gar nicht in den Sinn, dass jemand anderes als Chris die Tür öffnen könnte, doch jetzt sah ich mich genau in der ungeplanten Möglichkeit gefangen. Aber wenn ich genauer darüber nachgedacht hätte, wäre mir bewusst geworden, dass die Chancen, Chris an der Tür anzutreffen, eher schlecht gestanden hatten.

„Ähm…“ Ich strich mir nervös über den Nacken und zupfte dann noch einmal an meinem Gips, bevor ich ihr genervtes Stöhnen wahrnahm und mir einen Ruck gab. „Ich möchte kurz Chris sprechen. Mein Name ist Felix und ich bin ein Klassenkamerad von ihm.“

„Muss das jetzt sein? Hättest du ihm das nicht in der Schule sagen können? Ach, meinetwegen. Ich hol ihn dir kurz.“ Sie knallte mir die Tür vor der Nase zu und ich überlegte kurz, ob sie ihre Worte wirklich ernst meinte oder ob sie mich jetzt einfach hier draußen stehen lassen würde. Gerade als ich mich dazu entschlossen hatte, dass sie mich wohl verarscht hatte, öffnete sich die Tür und ich sah in das schüchterne Gesicht von Chris.

Wie hatte ich seine Schwester für ihn halten können? Er hatte ausgeprägtere Wangen und einen schmaleren Mund als sie. Auch waren seine Augen dunkler als ihre und sie entführten einen in eine Unendlichkeit, die einen vielleicht nie wieder hergeben würde.

„Felix?“ Chris schien meine Anwesenheit nicht glauben zu können, denn seine Augen wurden ganz groß und auch richtete er sich aus seiner zu Anfang kauernden Haltung auf, bevor er sogar leicht lächelte. Dies erstarb jedoch nur wenige Sekunden wieder und er wich meinem Blick aus. „Was? Warum bist du hier? Ich dachte, dass du nicht mehr mit mir reden willst.“

„Kann ich kurz reinkommen? Ich hatte ein Gespräch mit meinem Gewissen und na ja, ich sollte dir wohl doch zuhören, sonst würde die lästige Grille wohl niemals Ruhe geben.“ Ich musste bei der Vorstellung von Alex als Grille ein wenig grinsen, was Chris wohl irritierte, doch er trat schließlich zurück um mich in das Haus zu lassen.

„Mein Zimmer ist gleich hier.“ Er deutete auf eine der vier Türen, die aus dem Flur führten und ich nickte ihm kurz zu, bevor ich meine Schuhe auszog und meine Jacke an einen Haken hängte. „Ich hoffe, dass ich dich nicht allzu sehr störe, aber ich wollte das relativ schnell über die Bühne bringen.“

„Nein, wir sind gerade fertig mit dem Essen. Ist also in Ordnung.“ Er lächelte kurz schüchtern, bevor er dann voraus in sein Zimmer ging. Es wirkte auf mich schon fast voll gestopft. Die Wände standen voller Regale und Möbel. Wo man mal glaubte eine Tapete zu sehen, hing ein Bild an der Wand. DVDs türmten sich auf dem Boden, genauso wie Bücher. Figuren standen in den verschiedensten Bereichen des Zimmers und ich musste wirklich aufpassen, wo ich hintrat. Es war jetzt nicht so, dass Chris sie nicht aufräumte, aber er hatte einfach keinen Platz mehr in den Regalen dafür.

Dieser ging zielstrebig und sicher durch das Chaos, bevor er sich auf dem Bett niederließ und mir den Schreibtischstuhl zeigte. Zumindest glaubte ich das. Ich konnte zu Beginn nämlich nichts erkennen, als ich mich in die gezeigte Richtung bewegte. Mit jedem Schritt hatte ich wirklich Angst, dass ich einen der Türme umwarf oder eine Figur zertrat. Wie konnte man nur so leben?

„Leg sie einfach auf den Boden“, wies er mich an, als ich bei besagtem Stuhl, der natürlich auch schon zur Buch- und DVD-Ablage mutiert war, ankam. Vorsichtig versuchte ich die Sachen irgendwo in dem Chaos zu platzieren. Auch wenn ich danach nicht mehr sagen konnte, wo genau das war. Sie verschmolzen einfach mit dem umliegenden Stapeln.

„Es tut mir Leid, dass es hier so aussieht, aber ich hab noch keine Lösung für das Platzproblem gefunden. Bin jedoch eifrig auf der Suche“, entschuldigte sich Chris schließlich bei mir und ich rang mich zu einem Lächeln durch. Dieses Chaos war hoffnungslos verloren. Er musste sich von manchen Sachen trennen oder eben ausziehen. Aber Zweiteres kam wohl eher weniger in Frage, da er dafür noch zu jung war.

„Schon in Ordnung.“ Ich winkte ab, weil ich mich jetzt nicht mit Chris über seinen Saustall unterhalten wollte, sondern wegen etwas anderem hier war. Mein Lächeln kehrte zurück und ich ignorierte den Gips an meiner Hand. Ja, er war schuld daran, aber an seinem nervösen Blick, der immer wieder auf meinen Arm huschte, konnte ich erkennen, dass er sich dessen durchaus bewusst war.

„Du wolltest mit mir reden. Schon damals auf dem Nachhauseweg und auch vorhin im Park. Ich bin jetzt hier, damit du das endlich tun kannst. Also, was wolltest du mir so Dringendes sagen?“ Ich kam mir richtig bescheuert vor, aber ich wusste gerade keine bessere Art auf das gewünschte Thema zu kommen, als eiskalt mit der Tür ins Haus zu fallen.

„Nun ja.“ Chris schien erneut überfordert zu sein, denn er begann wieder mit dem Zupfen an seinen Ärmeln und er wich meinem Blick aus. Am liebsten wäre ich jetzt zu ihm gegangen und hätte ihn geschüttelt, dass er einfach mit der Sprache rausrücken sollte, aber ich hatte zu große Angst, dass ich dann nicht mehr hier herausfand.

„Ich bewundere dich für deinen Mut, dass du zu deinen wahren Gefühlen stehst, obwohl Robert dir so stark zugesetzt hat. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich schon nach einer Woche umgebracht. Der Fakt, dass dein bester Freund auf dich losgegangen ist, war schon mehr als hart. Ich habe auch gesehen, als er dir eine Klinge in die Hand gedrückt hatte und ich hatte wirklich Angst, dass du am nächsten Tag nicht in die Schule kommen würdest. Damals schwor ich mir, dass ich dich dann ansprechen würde, aber jedes Mal wenn ich es mir vornahm, dann waren da andere.“

„Ich war naiv. Das ist Alles und ich habe meinen Preis dafür bezahlt. Hätte ich nochmal die Wahl, würde ich es anders machen.“

„Warum? Weil sich Robert das Leben nahm?“

„Ja, selbst dieses Treffen würde ich anders machen. Er hätte nicht sterben brauchen.“

„Ich glaube nicht, dass er tot ist.“

Diese Worte von Chris überraschten mich und ich sah ihn eine Weile an, bevor ich meiner Stimme wieder vertraute und ihn die entscheidende Frage stellte: „Wieso tust du das nicht? Er ist in den Fluss gesprungen und bis heute noch nicht aufgetaucht. Wir wissen alle, wie stark die Strömung ist und erst die Strudel. Da kommt niemand lebend raus.“

 

„Ich kann es einfach nicht glauben. Robert war doch immer so stark. Er hat selbst die Kraft gefunden, sich gegen seinen besten Freund zu stellen und ihm die Hölle heiß zu machen. So jemand stirbt nicht einfach in einem Fluss.“

„Du bist verrückt…“

„Ja, vielleicht bin ich das, aber ich kann es einfach nicht glauben, dass er weg ist. Einfach so weg. Das kann nicht wahr sein. Es darf nicht wahr sein.“

Das Zupfen an seinen Ärmeln wurde stärker und ich sah, wie seine Schultern leicht bebten. In diesem Moment fühlte ich mich erneut schuldig, weil ich Robert nicht hatte aufhalten können. Ich fürchtete mich vor diesem Anblick. Das war auch der Grund, warum ich bis heute noch nicht bei seinen Eltern war, um ihnen alles zu erzählen, was ich wusste. Ich wollte sie nicht weinen sehen, denn ich war an dieser Trauer schuld.

„Robert hat diesen Weg gewählt, weil er eben nicht so stark ist, wie alle anderen behaupten! Er hat sich verpisst wie ein Feigling! Einfach so den Schwanz eingezogen, anstatt sich der Realität und den Konsequenzen seines Handelns zu stellen! Er lässt uns einfach alle zurück mit so vielen Fragen im Kopf und du glaubst, dass er wirklich noch irgendwo sitzt und sich wahrscheinlich ins Fäustchen lacht!? Weißt du, dass du ihn dadurch nur noch mehr in den Dreck ziehst?!“

„Warum wirst du jetzt so wütend, Felix? Ich glaube einfach nicht daran, dass er schon tot sein soll. Robert ist ein Kämpfer-“

Ich unterbrach Chris mit einem abfälligen Laut und verstand selbst gerade nicht, warum ich so zornig wurde. Schließlich wünschte ich mir selbst nichts mehr, als dass Robert noch irgendwo lebte, aber es von einem anderen zu hören, der nicht einmal eine Sekunde trauerte, weil er aus tiefsten Herzen daran glaubte, verletzte meinen Stolz. Ich war sein bester Freund gewesen. Wenn jemand an sein Überleben festhalten sollte, wäre ich das aber doch nicht Chris. Der Schatten unserer Klasse. Dieser Chaot und Freak!

„Weil du nichts verstehst! Du reißt mit deinem naiven Glauben Wunden auf, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst! Außerdem war das wirklich alles?! Wolltest du über Robert mit mir reden? Mir unter die Nase reiben, dass du mehr an ihn glaubst, als ich?!“

„Felix? Ich… ich wollte doch nicht, aber… aber für mich ist es halt so und nein. Nein, ich wollte nicht nur über Robert mit dir sprechen. Damals schon nicht. Ich wollte meine Bewunderung für dich aussprechen. An deiner Stelle wäre ich schon längst eingeknickt.“

„Du musst ja nicht an meiner Stelle sein und wirst du wohl auch nie. Also, mach dir da mal keine Sorgen.“

„Ja, wahrscheinlich.“ Er rutschte nervös auf seinem Bett hin und her. Das Zupfen hatte er immer noch nicht aufgehört und er sah nervös auf seine Finger. Ich spürte, dass ihm noch etwas auf dem Herzen lag, doch ich wusste nicht, ob ich es wirklich aus ihm herauskitzeln wollte.

Gerade wollte ich mich innerlich zum Gehen aufmachen, als Chris noch einmal die Stille durchbrach: „Du bist mein Idol, Felix. Ich wünschte mir, dass ich so viel Mut hätte wie du und es tut mir Leid, dass ich dir in der schwierigen Zeit nicht beistehen konnte, aber du hast ja eh wieder gute Freunde gefunden, nicht wahr?“

Die Trauer in seiner Stimme konnte ich mir nicht einbilden und als ich mir gerade sicher war, dass ich eine Träne über seine Wange laufen sah, senkte er wieder seinen Blick und versteckte so sein Gesicht vor mir. Das war nicht möglich. Wieso sollte Chris jetzt weinen? Das ergab einfach keinen Sinn!

„Ja, Alex und Leon sind schon spitze. Ich wüsste nicht, wo ich ohne sie wäre.“ Ich konnte das Lächeln nicht verhindern, denn ich war wirklich froh darüber, dass sie bei mir waren. Sie waren einfach die besten Freunde, die man sich wünschen konnte. Vor allem Alex stand mir treu zur Seite und hatte mich bisher niemals aufgegeben, obwohl ich zeitweise wirklich ekelhaft zu ihm gewesen war.

Chris nickte nur kurz und seine Schultern bebten, bevor er dann weiter schwieg und ich in diesem Chaos alleine dasaß. Zumindest kam es mir so vor. Nur die schwere Atmung von Chris durchdrang die Stille und ich wusste nicht, was ich nun tun sollte. Erwartete er nun irgendetwas von mir? War das Alles, was er mir sagen wollte? Konnte ich jetzt gehen oder gab es dann etwas auf die Finger von Jiminy?

„Chris? Ich, ähm, werde jetzt wohl wieder gehen, oder willst du noch etwas loswerden?“ Ich fühlte mich unsicher und spürte selbst, wie ich an meinen Gips zu zupfen begann. Chris schüttelte darauf nur den Kopf: „Ist schon in Ordnung. Man sieht sich in der Schule.“

Er schniefte kurz und hob dann den Blick, um mich anzulächeln, bevor er Anstalten machte aufzustehen und ich ihn sofort stoppte. „Nicht nötig! Du brauchst mich nicht raus zubringen. Ich finde den Ausgang selbst und ja, wir sehen uns in der Schule. Bis Montag also, ja?“

Er nickte mir zu, als er sich wieder auf das Bett sinken ließ und ich konnte endlich dem Chaos entkommen. Im Flur angekommen, musste ich erst einmal tief ein- und ausatmen, bevor ich dann meine Sachen wieder anziehen konnte.

„Bereust es schon zu meinen Bruder gekommen zu sein, hm?“ Die Stimme von Chris Schwester stoppte mich und ich sah über meine Schulter zu ihr, als ich gerade nach der Türklinke greifen wollte. Sie wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern lehnte sich wieder an den Türrahmen, sah mich gelangweilt an und sprach weiter:

„Bei dem Freak hält es nie jemand lange aus. Alle laufen sie weg. Selbst du, der so lange von der Schule gehasst wurde, wählst die Flucht. Er wird niemals Freunde finden. Geschieht ihm nur Recht. Wer will so nen Freak schon bei sich haben?“ Sie lachte trocken auf und wechselte dann die Seite des Türrahmens, an der sie sich anlehnte, wobei ich ihre Worte kaum glauben konnte. Wie sprach sie von ihrem Bruder? Das passierte doch gerade nicht wirklich? Ich war vorhin auf dem Weg hierher ausgerutscht und hatte mir den Kopf gestoßen. Bestimmt war das gerade ein echt mieser Traum.

„Warum sagst du das?“, hauchte ich ungläubig doch mehr zu mir selbst als zu Chris Schwester. „Weil es wahr ist! Sieh dir doch sein Zimmer an! Hast du es etwa bei ihm ausgehalten? So schnell wie du gerade in deine Schuhe und Jacke geschlüpft bist, schreit das förmlich nach einem lauten Nein! Also wirst du genau das Gleiche dort drinnen gedacht haben! Ich hab nur die Eier in der Hose es auch zu sagen!“

„Er ist dein Bruder. Wie kannst du ihn nur so behandeln?“

„Er hat es nicht besser verdient! Aber hey, wolltest du nicht gehen?“

„Doch, aber…“ Sie lachte erneut auf und beugte sich vor, sodass ich schon fast Angst hatte, dass ihre Brüste aus dem viel zu engen und weit ausgeschnittenen Top fallen könnten. Was war das nur für ein Mensch?

„Haste Lust?“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung zu der Tür, aus der sie vorhin gekommen war und hinter der sich vermutlich ihr Zimmer verbarg. Ein eisiger Schauer glitt über meinen Rücken und ich presste mich an die Tür hinter mir, bevor ich dann panisch den Kopf schüttelte. Das war der endgültige Beweis: Die Frau hatte sie nicht mehr alle. Von wegen Chris war hier der Freak. Sie hatte einen viel größeren Dachschaden als ihr Bruder.

„Was? Sag bloß, dass de auch umgedreht bist?“ Sie verzog ein wenig beleidigt ihre vollen Lippen und bestimmt wäre sie hübsch, wenn man auf Frauen stand und ihre Reize immer mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen bekommen wollte. Aber für mich war sie gerade nur ein laufendes Monster.

„Es… es tut mir Leid. Aber ich muss jetzt wirklich los. Es gibt bald Abendessen bei uns.“ Ohne noch auf eine Antwort zu warten schlüpfte ich durch die Tür und rannte von dem Grundstück. Meine Beine trugen mich panisch weiter. Ich wollte nur so weit wie möglich von diesem Irrenhaus weg. Das war doch echt nicht normal dort und auch wenn sie ihren Bruder als Freak betitelt hatte, war ich mir nicht sicher, wer der größere Freak von den Beiden war. Aber herausfinden wollte ich es auch nicht, denn als meine Lungen zu schmerzen begannen, schwor ich mir selbst eines: Nie wieder in dieses Haus zu gehen…

Mit einem Seufzer ließ ich mich in meinen Schreibtischstuhl sinken und startete den PC. Noch einmal sah ich auf das Display meines Handys, doch es war immer noch keine Nachricht von Marc darauf. Wieso meldete er sich nicht? War ich ihm wirklich so egal? Stand seine Welt komplett Kopf, sodass er alles um sich herum vergaß?

Meine Finger zitterten, als ich mich zu meinen Mails vorarbeitete und mein Herz machte einen Sprung, als man mir anzeigte, dass ich eine ungelesene Nachricht besaß. Sofort klickte ich weiter, doch der Absender irritierte mich. Es lag wohl nur an dem Betreff, dass ich sie nicht löschte: „Aijo gib mir Darkking zurück!“

Es dauerte einen Wimpernschlag bis sich die Nachricht vor meinen Augen öffnete und ich musste trocken schlucken, als ich die ersten Zeilen las:

„Hallo Aijo,

du wunderst dich wahrscheinlich, warum du gerade diese Mail bekommst, aber ich habe das Trauerspiel nun lange genug mit angesehen. Ich habe kein Problem damit, dass du dich aus meinem Forum verpisst, nachdem du anscheinend gefunden hast, was du wolltest: Einen guten Fick und jemanden, wo du dein Herz ausschütten konntest.

Aber es ist nicht in Ordnung, dass du mir einen meiner liebsten User einfach wegnimmst. Ich weiß nicht, was du mit Darkking gemacht hast, aber seit einigen Tagen ist er einfach nur noch wie betäubt. Seine Posts sind fahrig und es tut mir in der Seele weh, wenn ich so etwas lese.

Dieses Forum dient dem Zweck, dass sich Gleichgesinnte finden und einander unterstützen können, aber ganz bestimmt nicht, dass hier der eine den anderen fertig macht. Vor allem nicht meinen Darkking!

Wahrscheinlich wirst du diese Mail lesen und dann in den Papierkorb werfen! Aber ich schwöre dir, dass dieses Spiel noch nicht vorbei ist! Du wirst mir nicht entkommen und du wirst bereuen, was du Darkking angetan hast. Darauf kannst du dich verlassen!

Schönen Tag noch

Mastermind“

Mastermind! Der Name explodierte hinter meiner Stirn und ich spürte, wie mein Körper zu zittern begann, aber warum schrieb er von seinem Darkking. Ich dachte, dass Marc kaum Kontakt zu dem skrupellosen Admin gehabt hatte. Hatte er mich etwa in jenem Moment angelogen? Wieso schrieb mir Mastermind sonst und warum sollte er ihn als sein Eigentum bezeichnen? Das machte alles keinen Sinn.

Plötzlich bekam ich einen Anruf von einem noch nicht angenommen Nutzer in Skype. Ich verstand es nicht und der Name sagte mir im ersten Moment auch nichts: Darknesswithin. Kurz flammte in mir die Hoffnung auf, dass es ja Marc sein könnte. Ich ignorierte die leise Stimme, dass es Unsinn wäre, dass er mich von einem anderem Konto aus anrief, aber wer wusste schon, was er gerade in diesem Moment durchmachte? Laut Mastermind ging es ihm wirklich dreckig, aber warum meldete er sich dann nicht?

Es klingelte schon eine halbe Ewigkeit, bevor ich aus meinen Gedanken zurückfand und hastig das Gespräch annahm. Eilig setzte ich mir mein Headset auf und begrüßte den Anrufer freundlich, doch die Stimme, die den Gruß erwiderte, war nicht von Marc. Sie ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, denn auch wenn sie ebenfalls tief war, so war sie gefährlich dunkel.

„Hallo Aijo, schön, dass ich dich erreiche.“ Ich musste trocken schlucken, als mir bewusst wurde, wen ich mit hoher Wahrscheinlichkeit am anderen Ende der Leitung hatte. Die Vorstellung gefiel mir nicht und alles in mir verkrampfte sich schlagartig. Ich begann zu zittern und konnte nur mit Mühe ebenfalls noch einmal ein „Hi“ herauspressen.

„Hast du Angst, Junge?“ Der Kerl lachte hart auf und ich hörte, wie er sogar ein paar Mal auf einen Tisch schlug, was mich unwillkürlich zusammenzucken ließ. Gott sei Dank war das gerade kein Videochat. Ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte, wenn ich mein Gegenüber auch noch gesehen hätte. Wahrscheinlich hätte ich das Headset von meinen Kopf gerissen und wäre fluchtartig aus dem Zimmer gestürmt.

„Das brauchst du doch nicht, solange du meine Forderung erfüllst.“ Das Lachen stoppte und die Stimme wurde gefährlich süß wie goldener Honig, was mich erneut trocken schlucken ließ. Warum konnte es nicht Marc sein, der mich anrief? Ich wollte den dunklen Bass seiner Stimme hören, der in mir ein angenehmes Kribbeln auslöste. Jetzt fühlte ich mich nur wie ein Kaninchen, das vor einer Schlange saß und sie mit großen Augen anstarrte, während es innerlich tausend Tode starb.

 

„Kann ich nicht.“ Meine Stimme war nur ein Flüstern und die Hilflosigkeit krallte sich fester in mein Herz, was mich erneut leicht zittern ließ. Verzweifelt klammerte ich mich an meinen Tisch fest und wünschte mir, dass dieser Alptraum aufhören würde. Erst die Sache bei Chris und nun das. Ich dachte, dass es mit dem Tod von Robert endlich aufhören würde. War das Leben ein nie enden wollender Kampf?

„Doch das kannst du. Du willst nur nicht. Darkking leidet und du bist schuld daran. Er geistert nur noch durchs Forum und verunsichert meine User. Das ist nicht gut. Du musst mit ihm reden und was auch immer zwischen euch steht ins Reine bringen, kapiert?“

„Aber woher? Warum sollte ich schuld sein? Ich habe doch gar nichts gemacht. Er will nicht mit mir reden!“ Plötzlich waren dort wieder dieser Mut und diese unbändige Wut in mir. Warum unterstellten mir alle etwas, das ich nie getan hatte? Ich versuchte schon seit Tagen Marc zu erreichen, aber er wollte nicht mit mir reden! Was erlaubte sich Mastermind überhaupt?!

Mastermind lachte erneut auf und schien von meinem Wutausbruch nur amüsiert zu sein. Es dauerte ein paar Atemzüge, bevor er sich wieder fing und auf meine Worte antworten konnte: „Wie putzig. Das Kätzchen hat ja Krallen. Mit so viel Pfeffer hatte ich auf Grund deines Avatars und deiner Beiträge eigentlich nicht gerechnet. Aber es zeigt mir auch, dass ich wohl Recht hatte. Darkking wurde mal wieder ausgenutzt von einem süßen Kätzchen.“

Seine Worte verwirrten mich. Nicht nur, dass er mir einfach einen Spitznamen gab, sondern auch dass er mir weiterhin die Schuld an Marcs Zustand gab. Schließlich wollte ich ihn treffen und mit ihm reden. Ich wollte wieder ins Reine bringen, was an dem Abend, als Robert gestorben war, kaputt gegangen war. Aber er ließ mich nicht.

„Der Kerl ist wirklich zu weich, derweil sind Kätzchen nicht dafür da, dass man sie sich ins Haus holt und dann versucht, sie dazubehalten, sondern einfach für eine schnelle Nummer. Wann er das wohl endlich mal kapiert? Kätzchen gehören in die Freiheit und sind nur fürs Bett gut. Dort ist der einzige Ort, an dem sie sich an dich kuscheln werden. Aber draußen sind sie Einzelgänger und wollen nichts von ihrem Besitzer wissen. Undankbares Pack!“

„Nein… ich… ich habe ihm ja geschrieben und auf die Mailbox gesprochen, aber er meldet sich nicht bei mir.“ Ich wusste, dass es ein Fehler war Mastermind mein Herz zu zeigen, aber es tat weh, wie er über die Beziehung von Marc und mir sprach. Schließlich wollte ich zu ihm stehen. Jeden Tag und jede Nacht. Seine Hand halten und in die Welt hinausschreien, dass er mir gehörte. Marc war derjenige, der es mir verbat und jetzt litt er wegen mir. Das war doch Schwachsinn.

Erneut lachte Mastermind auf und ich hörte, wie er sich anders hinsetzte, bevor er dann einmal mit der Zunge schnalzte und zu überlegen schien. Diese Stille war übermächtig und ich wagte es nicht, sie zu durchbrechen. Ich wusste nicht, woher diese Macht kam, die jedes weitere Wort in meiner Kehle gefangen hielt und mir verbat, auch nur ein Geräusch von mir zu geben.

„Du sagst mir also, dass du noch eine Beziehung mit ihm willst, obwohl ihr miteinander geschlafen habt?“ Ich musste mich erst räuspern, bevor ich ein krächzendes „Ja“ herauspressen konnte. Meine Zukunft existierte in meinen Augen nur mit Marc zusammen. Alles andere ergab für mich keinen Sinn und ich lebte nur dank der Hoffnung, dass sie irgendwann wahr werden würde.

„Biste wohl eher ein Welpe, hm? Schon stubenrein, Kleiner?“ Der Themenwechsel irritierte mich und ich wusste nicht, was er genau mit dieser Frage bezweckte, doch ich räusperte mich erneut, bevor ich dann nervös hin und her rutschte und mich zu einer Antwort durchrang: „Ich glaube schon, auch wenn ich nicht weiß, was du mit stubenrein meinst.“

Erneut musste Mastermind lachen und ich fühlte mich immer unwohler. Wie gerne würde ich jetzt einfach auflegen und den Kontakt blockieren? Das war doch die reinste Hölle. Warum hatte mich Marc vor Mastermind verpetzt? Dieses Verhalten sah ihm nicht ähnlich, vor allem weil er doch damals meinte, dass der Admin ihm unsympathisch wäre.

„Scheinst gut erzogen zu sein. Vielleicht kann man doch ein wenig Spaß mit dir haben, auch wenn ich Welpen nicht so gerne mag. Die mutieren zu gerne zu Kletten. Wenn du Darkking so stark den Kopf verdrehst, obwohl du nichts Böses gemacht hast, musst du aber eine ganz besondere Nummer sein. Ich sollte mir dich mal genauer ansehen. Was meinst du, Hündchen?“

Alles in mir schrie, dass ich dieses Treffen ablehnen sollte, aber er wusste etwas über Marc und wie es ihm ging. Vielleicht konnte ich so die eine oder andere Information über ihn bekommen. Konnte ich diesem Kerl wirklich vertrauen?

Ich musste an den Tag denken, als ich Marc das erste Mal gesehen hatte und Alex erzählt hatte, was Alex sein Herz bluten ließ. Daran, was dieser Mann mit Nicknamen Mastermind Farfarello angetan hatte. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, als ich an den Brief dachte, der Alex' Bruder in den Tod getrieben hatte. Würde mir das gleiche passieren, wenn ich mich auf ein Treffen einließ?

„Haste Angst, Hündchen?“ Die Frage machte mir eine Antwort nicht leichter, denn ich könnte sie mit einem lauten JA beantworten, dennoch schwieg ich und versuchte weiter herauszufinden, was mein sehnlichster Wunsch war. Ich wollte wieder die Stimme von Marc hören und seinen Duft wahrnehmen. Mich noch einmal an seine Brust schmiegen und mich in seine Arme fallen lassen.

„Biste überhaupt noch da?“ Langsam machten mich seine Fragen aggressiv. Ich versuchte eine Antwort zu finden und so presste ich ein wütendes „Ja“ heraus. Dies ließ Mastermind erneut auflachen und in mir die Hilflosigkeit zurückkehren. Was sollte ich jetzt tun? Konnte ich wirklich einfach nur hier sitzen und Däumchen drehen, wenn ich wusste, dass es einen Weg gab, an Marc zu kommen.

„Hey, brauchst ned gleich sauer zu werden. Du machst hier grad einen auf schweigendes Grab oder so. Da weiß man ja nie. Vielleicht biste grad in Ohnmacht gefallen und ich sollte einen Krankenwagen oder so zu dir schicken.“

„Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne.“ Ich presste diese Worte immer noch über meine Lippen und langsam formte sich eine deutliche Antwort auf seine Frage in meinem Kopf. Das konnte nicht der richtige Weg sein. Marc mochte Mastermind nicht besonders. Er würde es mir niemals verzeihen, wenn ich mich mit dem Kerl traf, obwohl ich wusste, wozu er fähig war.

„Es tut mir Leid, Mastermind, aber ich will mich nicht mit dir treffen. Die Sache zwischen Darkking und mir wird sich hoffentlich auch anders lösen lassen und es tut mir Leid, dass du dir deswegen Sorgen um ihn machst, aber das ist der falsche Weg. Definitiv.“

„Biste dir sicher, Hündchen?“

„Ja, mehr als sicher.“

„Na, dann… anschauen werde ich mir dich trotzdem mal. Also, bis demnächst.“

Bevor ich ihn fragen konnte, was er damit meinte, hatte er schon aufgelegt und ich starrte auf das Skype-Fenster. Was war gerade geschehen und wie wollte er mich sehen? Er wusste doch nicht, wo ich wohnte. Das war bestimmt nur ein Bluff. Ja, ganz gewiss. Immer wieder redete ich mir das ein und nach der zehnten Wiederholung begann sich mein Körper zu entspannen.

Gerade wollte ich Skype schließen und meinen PC herunterfahren, als plötzlich jemand online kam, den ich glaubte nie wieder dort zu sehen: Darkking.