Einfach nicht hinfallen

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Z serii: Verhasst #2
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Kapitel 2

Das Rauschen von Wasser drang an mein Ohr und ich spürte den Wind auf meiner Haut. Es fühlte sich alles vertraut an und als ich meine Augen öffnete, erblickte ich die Regenbogen-Brücke. Der Mond stand hoch am Firmament und ein Schatten beugte sich leicht über das Geländer, um in die Tiefen des Flusses zu sehen.

Ich sah den Menschen an, der dort einsam stand, als plötzlich hinter mir das Lachen von Kindern erklang. Kaum hatte ich mich zu ihnen umgedreht, liefen sie auch schon an mir vorbei, sodass ich mich im Endeffekt einmal um die eigene Achse drehte. Die Kinder schlugen mit Stöcken auf sich ein und lachten dabei freudig. Der Schreck traf mich wie ein Blitz, als ich das Gesicht des einen erblickte und zu erkennen glaubte. Sein blondes Haar wehte unter seinen Bewegungen, während seine grünen Augen den Spielgefährten fixierten.

„Du wirst mich nicht besiegen, Felix. Niemals!“ Der andere Junge hob siegessicher seinen Stock, als er weiter auf die Brücke zueilte und jetzt bewegte sich auch der Schatten auf ihr, doch die Kinder schienen ihn genauso wenig zu bemerken wie mich.

„Das glaubst auch nur du, Robert! Dieses Mal werde ich gewinnen!“ Mein jüngeres Ebenbild ging wieder mit einem Lachen in den Angriff über und trieb den jungen Robert weiter auf die Brücke zu.

„Das ist lächerlich, Felix. Ich war schon immer der Stärkere von uns beiden! Daran wird sich niemals etwas ändern.“ Mit einem gezielten Hieb schlug Robert Felix den Stock aus der Hand und sprang dann triumphierend empor, während sich Felix seine schmerzende Hand rieb.

„Gewonnen!“, jubelte Robert und Felix wandte sich von ihm ab. Ich sah die Tränen in seinen Augen und griff instinktiv nach meiner gebrochenen Hand. Der Sieger schien nicht zu sehen, wie stark er den Verlierer verletzt hatte, denn er war immer noch mit Jubeln beschäftigt, während der andere mit den Tränen kämpfte und verzweifelt die verletzte Hand an seine Brust drückte.

Wieder schien sich der Schatten von seiner Position zu entfernen, doch er blieb nach wenigen Schritten stehen und sah ebenfalls auf die zwei Kinder. Das Jubeln stoppte erst als ein leises Wimmern zu hören war und Felix sich zusammen krümmte.

„Felix? Was? Was ist los?“ Es war Angst in der Stimme von Robert zu hören, als er zu seinem Freund eilte und besorgt über dessen Schulter sah. Ich konnte nicht verhindern, dass ich ebenfalls meine gebrochene Hand an meine Brust zog und mein Blick erneut zu dem Schatten wanderte. Auch wenn ich ihn nicht erkannte, wusste ich, wer dort stand und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Es tut weh! Es tut so weh! Mach das es aufhört!“ Immer wieder wurde er von einem Schluchzen unterbrochen und ich spürte, dass ich selbst diesen Wunsch oft hatte. So oft hatte ich Robert um Hilfe gebeten, wo er nicht helfen konnte. Wie sollte er mir die Schmerzen nehmen? Er war genauso jung wie ich und wusste auch nicht mehr als ich. In dieser Nacht war es das erste Mal, dass ich diese Hilflosigkeit in seinen jungen Augen sah, dennoch schaute er sich panisch um.

„Keine Sorge, Felix. Ich helfe dir. Warte, hier ist bestimmt etwas.“ Er behielt einen klaren Kopf, obwohl der Glanz in seinen Augen etwas anderes sagte. Seine Füße trugen ihn zum Wegesrand und er begann einige Pflanzen zu pflücken. Jetzt erkannte ich, dass es Sauerampfer war, die er meinem jüngeren Ich zum Essen gab.

„Darauf musst du herumkauen und dann geht es dir gleich wieder besser. Los, wir gehen zu unseren Eltern. Die können uns bestimmt helfen.“ Wieso benahm er sich umso vieles reifer als ich? Das war doch nicht möglich. Niemals wirklich möglich. Wir waren gleich alt und dennoch war er umso vieles reifer.

Felix nickte und kaute brav auf den Kräutern. Seine Tränen versiegten Stück für Stück und er folgte seinem besten Freund schließlich. Sie gingen an mir vorbei, doch sahen sie mich auch jetzt nicht. Ich blickte ihnen hinterher und spürte diesen Stich in meinem Herzen. Wieso mussten diese Zeiten enden?

„Du warst schon immer eine Heulsuse.“ Die Stimme von Robert riss mich herum. Er stand plötzlich neben mir und lächelte mich nur kurz an. Wieso war er plötzlich bei mir? Warum habe ich ihn nicht kommen hören? Das war doch nicht möglich.

Ich ging einen Schritt zurück und spürte das Holz unter meinen Füßen, bevor ich das Geländer hinter Robert erkannte. Wir standen auf der Brücke, aber das war nicht möglich. Ich hatte mich doch keinen Schritt bewegt.

„Aber weißt du was? Es war mir schon immer egal gewesen. Denn auch wenn du leicht zu weinen angefangen hattest, so konnte man dich auch ganz einfach wieder beruhigen. Ich hab dir immer nur Sauerampfer zum Essen gegeben. Das hat dich meistens schon soweit abgelenkt, dass du den Schmerz vergessen hast. Wahrscheinlich hast du wirklich geglaubt, dass es heilende Kräfte hat.“

„Wieso bist du hier, Robert?“, fragte ich dann ruhig und spürte, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte und mit einem Seufzer drehte er sich um. Er sah über das Gelände in das Wasser und ich trat zu ihm. Es war ein komisches Gefühl neben ihm zu stehen und in den fließenden Fluss zu blicken.

„Das weiß ich nicht. Warum stehst du neben mir, Felix?“ Er sah mich ruhig an und sein Blick erkannte den Gips. Sanft griff er nach meiner Hand und hob sie leicht hoch. Ich konnte Trauer in seinen Augen sehen und tiefes Bereuen.

„Wo soll ich sonst stehen?“, gab ich die Frage zurück und im nächsten Moment veränderte sich das Lächeln auf seinen Lippen zu etwas, was ich dort nie wieder sehen wollte. Ich verstand nicht, was gerade passierte, als er mich plötzlich mit einem Stoß über das Geländer beförderte.

Die Luft rauschte kalt an mir vorbei und ich sah in das Gesicht von Robert, als ich seine letzten Worte hörte: „Wirklich neben mir.“ Das eisige Wasser umschloss mich und ich schreckte hoch.

Die Dunkelheit um mich herum blieb, doch anstatt des Wassers spürte ich die warme Decke um meinen Körper. Ich hörte das leichte Schnarchen von Leon und erkannte den ruhigen Körper von Alex nicht einmal eine Armlänge von mir entfernt. Das Display der digitalen Uhr zeigte mir, dass es gerade einmal drei Uhr morgens und alles nur ein Traum gewesen war. Ein einfacher Traum.

Ich ließ mich nach hinten sinken und starrte an die dunkle Decke, während ich dem Atem meiner Freunde lauschte. Sie waren da und sie nahmen mir den Schmerz ohne der Hilfe irgendwelcher Tricks. Ist es wahr? Hatte mich Robert immer nur getäuscht? Waren wir überhaupt richtige Freunde gewesen? Hatte ich ihm jemals vertrauen können?

Ich seufzte schwer und schloss meine Augen, als ich erneut Tränen in ihnen spürte. Nein, ich wollte nicht heulen. Klar, hatte Robert Recht. Ich war eine Heulsuse, aber irgendwann musste es doch aufhören. Irgendwann... Doch er fehlte mir. Er fehlte mir mit jedem Tag, der verging.

Ich rollte mich zur Seite und zog meine Beine enger an meinen Körper. Die Nacht war noch lange und ich wollte schlafen. Nur noch schlafen und auch wenn er mich das letzte Mal in den Tod gestoßen hatte, so hoffte ich dennoch, dass ich ihn noch einmal sah. Nur noch ein einziges Mal…

Der Geruch von frischen Semmeln und Kaffee drang in meine Nase und führte mich sanft aus der Dunkelheit des Schlafes. Ich musste gähnen und streckte mich kurz, bevor ich mich dann langsam aufrichtete und bemerkte, dass Leon und Alex schon wach waren. Wenn ich mich konzentriere, dann konnte ich ihre Stimmen sogar aus der Küche hören.

Ich fuhr mir schläfrig durch die Haare und sah kurz aus dem Fenster, das begierig das Licht in den Raum ließ. Es war ein seltsames Gefühl, nicht im eigenen Zimmer aufzuwachen und doch fühlte ich mich hier geborgen. Kurzerhand schlug ich die Decke zur Seite und stand dann auf, um mich schnell anzuziehen und dann zu den anderen Beiden in die Küche zu gehen.

„Morgen“, begrüßten sie mich sofort, als sie mich erblickten. Leon stand am Herd und schien Speck und Rührei zu machen. Da hatte jemand vor, uns rundum zu verwöhnen. Alex hingegen deckte gerade den Tisch zu Ende und wandte sich mir dann mit einem Lächeln zu.

„Na? Hat das Dornröschen endlich ausgeschlafen?“, neckte mich Leon und ich spürte, wie ich leicht rot wurde. Solange waren sie bestimmt noch nicht wach und außerdem wurde das Dornröschen auch einmal in der Nacht im Schlaf gestört.

„Schon, aber vor allem riecht es hier so gut. Das hat mich geweckt.“ Meine Erklärung klang erbärmlich und ich musste kurz trocken schlucken, bevor ich dann zu Alex trat und unsicher an meinem Gipsverband zupfte. „Kann… kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein, wir sind schon so gut wie fertig. Setz dich einfach hin und lass dich bedienen, Prinzesschen.“ Er lächelte mich an und wuschelte mir kurz durch die Haare, als er zurück zu Leon ging und diesem dabei half das Essen auf Teller zu verteilen, um dann gemeinsam mit ihm und diesen zum Tisch zurückzukehren.

„So, lasst es euch schmecken. Ich hoffe, dass ich alles richtig gemacht habe, denn ich stehe nicht so oft in der Küche.“ Leon nahm Platz und machte eine einladende Geste über den Tisch, dennoch zögerte ich und ließ Alex den Vortritt. Es war ein komisches Gefühl, hier mit ihnen zu sitzen. Sie unterhielten sich und ich fühlte mich außen vor. Ja, ich wusste, dass dieses Gefühl falsch war, trotzdem konnte ich es nicht verhindern.

Als Letzter nahm ich mir nun ebenfalls etwas Essen und begann den Hunger zu stillen, während ich den Worten von Leon und Alex lauschte, die sich über die Pläne für den heutigen Tag unterhielten.

„Kino klingt schon nicht schlecht, aber wir haben gerade erst so viele Filme gesehen, deswegen würde ich gerne etwas mit mehr Bewegung machen.“

„Dann lass uns doch auf den Sportplatz gehen. Vielleicht können wir dort sogar ein wenig Fußball spielen oder so was. Du hast ja einen Ball hier oder Leon?“

 

„Ja, irgendwo hab ich bestimmt einen. Aber na ja. Was ist mit Felix? Bei unserem Glück passiert was und seine Hand bricht noch mal oder so.“

„Er kann ja nur zuschauen oder so. Hast du sonst eine besser Idee? Du wolltest dich bewegen. Ich hab schon was vorgeschlagen, was Felix’ Hand schonen würde.“

„Ja, aber dauernd nur irgendwelche Filme anschauen macht mich aggressiv. Ich weiß, dass du das nicht verstehst, Alex, aber ich brauche ein wenig Bewegung und muss mich hin und wieder an meine Grenzen treiben, sonst schlägt das auf meine Laune. Warum muss er auch noch den beschissenen Verband tragen?“

„Ähm… es macht mir nichts aus euch beim Spielen zuzusehen.“ Ich wusste nicht, ob es gut war, dass ich mich jetzt einmischte, aber schließlich betraf es ja auch mich und ich wollte nicht, dass sie sich wegen mir stritten. Klar, war es blöd, dass ich eine gebrochene Hand hatte, aber das würde nicht mehr allzu lange dauern und es beruhigte mich schon, dass sie auf mich Rücksicht nahmen. Da konnte ich dann auch mal ein Opfer bringen.

„Siehste, er hat kein Problem damit. Also gehen wir in den Park und bewegen uns ein wenig. Das ist doch das, was du willst, oder Leon?“

„Ja, schon. Aber…“ Er sah zu mir hinüber und musterte mich kurz besorgt, bevor er dann mit den Schultern zuckte und sich wieder an Alex wandte. „Wenn er es sagt, geht es wohl in Ordnung. Aber Felix, du sagst, wenn es dir zu langweilig wird, okay? Dann finden wir schon was anderes, ja?“

Es war ein seltsames Gefühl, dass sich in diesem Moment Leon mehr um mein Wohlergehen kümmerte als Alex, aber anscheinend schien in dem Riesen wirklich ein Herz aus Gold zu schlagen. „Okay.“ Mehr brachte ich nicht über meine Lippen, denn plötzlich wurde Alex aggressiv.

„Was soll das, Leon!? Erst redest du mit mir, dass du keine Lust mehr darauf hast und ich schlage etwas anderes vor, aber du stellst mich dann so hin, als wäre mir Felix total egal! Das ist echt scheiße von dir! Boah ey! Ich glaube, ich spinn jetzt! Was soll das?!“

„Ich hab gar nichts gemacht, aber einer muss an Felix denken, oder nicht? Er ist doch der Freund von uns beiden. Da ist es egal, wer wann woran denkt. Hauptsache niemand wird vergessen, oder?“

„Ha! Nein! Nein! So läuft das nicht! Nicht so, Leon!“

Ich verstand nur noch Bahnhof und der Fakt, dass Alex mittlerweile aufgestanden war und sich vor dem sitzenden Leon aufbaute, machte die Situation nicht besser. Wörter steckten in meiner Kehle, doch ich konnte sie nicht in die Freiheit entlassen. Es sperrte sich etwas in mir und so krallte ich mich mit meiner gesunden Hand nur in das Holz des Tisches.

„Was hat dich jetzt gestochen, Alex?“ Leon stand auf und baute sich vor seinem besten Freund auf, doch dieser wich nicht einen Zentimeter zurück, sondern sah ihn entschlossen und zornig in die Augen.

„Es ist meine Aufgabe für Felix zu sorgen. Ich habe ihn damals aus der Einsamkeit geholt und Schläge für ihn kassiert. Du stellst mich vor ihm nicht wie den totalen Arsch da, ist das klar?“

Leon lachte hart auf und schüttelte dann den Kopf. „Jetzt weiß ich, wo der Hase lang läuft. Oh Gott, Alex, wirklich? Wieso bist du eifersüchtig auf mich? Ich dachte, dass wir beide Freunde von Felix sind. Da ist es doch egal, wer an ihn denkt und wer ihn mal vergisst. Das passiert jedem einmal. So ist das Leben nun einmal. Wir können nicht immer an alles denken. Setz dich, beruhige dich und iss auf, Alex. Felix ist bestimmt nicht der Meinung, dass du ein schlechter Freund bist, nur weil du seine Verletzung für einen Moment vergessen hast.“

„Das habe ich nicht“, grummelte Alex und nahm dann aber wieder Platz, jedoch nicht ohne zu schmollen. Leon selbst musste darauf nur erneut lachen, bevor er den Kopf schüttelte und mir deutete weiter zu essen. Es wäre mir selbst nicht einmal aufgefallen, dass ich damit aufgehört hatte. Dieser kurze Ausraster von Alex war völlig ungewöhnlich für ihn und dennoch menschlich.

„Es ist in Ordnung, Alex. Ich bin dir nicht böse.“ Ich versuchte die Situation noch einmal zusätzlich zu entschärfen und erntete darauf ein sanftes Lächeln von Alex, bevor wir alle weiter aßen und auch wenn es niemand aussprach. Der Plan des heutigen Tages stand fest: Auf den Sportplatz Fußball spielen…

Das Zwitschern der Vögel drang an mein Ohr und der Duft von frisch gemähtem Gras stieg in meine Nase. Ich saß im Schatten eines Baumes und beobachtete Alex und Leon auf dem Sportplatz. Sie hatten noch vier weitere Jungs gefunden, sodass sie ein kleines Spiel veranstalten konnten.

Alex und Leon waren in einem Team und während einer der vier Jungs in ihrem Tor stand, traten die anderen Drei als andere Mannschaft gegen sie an. Es war ein komisches Gefühl und ich verstand nicht, wie sie diesem Fremden einfach vertrauen konnten, dass er die Bälle seiner Freunde auch hielt und sie nicht von hinten heraus angriff.

Ich musste den Kopf schütteln und mich zu einer anderen Denkweise zwingen. Es war nicht gut, wenn ich in jedem Menschen erst einmal einen Verräter sah. Sie waren nicht alle so und Alex und Leon hatten es mir gezeigt. Genauso wie Marc.

Marc.

Ich holte das Handy aus meiner Tasche und starrte auf das Display. Keine Reaktion. Ich hatte ihm erneut heimlich eine SMS geschickt, weil ich nicht wollte, dass Alex und Leon mitbekamen, wie verzweifelt ich wegen seines Schweigens war. Wieso meldete er sich nicht? Sollte ein Paar nicht jede Krise gemeinsam bewältigen? Glaubte er nicht daran, dass ich ihm auch helfen konnte? Vertraute er mir nicht? War er der Meinung, dass ich ihn zerstören würde, wenn ich eine Waffe gegen ihn in der Hand halten würde? Das war doch lächerlich.

Ich umschloss das Mobiltelefon fester und spürte, wie das Plastik sogar leicht nachgab, doch es war mir egal. Er sollte sich endlich wieder melden. Nur einmal kurz sagen, dass er mich nicht vergessen hatte. Ich dachte, er liebte mich. Hatte ich falsch gedacht?

Ich spürte, wie meine Hände erneut zu zittern begannen. Wieso entglitt mir mein Leben schon wieder so? Robert war doch weg und auch wenn es einige in meiner Klasse gab, die mir die Schuld an seinem Tod gaben, so hatten die Schikanen zum größten Teil aufgehört. Mein Leben konnte endlich wieder mir gehören. Warum tat es das nicht?

„Felix?“ Die Stimme irritierte mich, denn ich hatte sie schon lange nicht mehr gehörte. Mein Blick folgte ihrem Laut und ich war überrascht, als ich in besorgte, braune Augen sah, die mich schon einmal so angesehen hatte. Erneut spielte er nervös mit dem Saum seines Hemdes und strich sich dann eine der kurzen braunen Strähnen aus dem Gesicht. Wieso war er hier? Was wollte er von mir?

Ich schnellte in die Höhe und wich einen Schritt zurück. Aus seiner Reichweite, während sich mein Körper anspannte und ich instinktiv die gebrochene Hand schützend an meinen Körper drückte.

„Chris? Was willst du hier?“ Ich konnte die Angst nicht aus meiner Stimme verdrängen. Auch konnte ich nicht verhindern, dass meine Augen nervös die Gegend absuchten, ob irgendwo wieder Leute waren, die mir wehtun wollten. War es vielleicht doch noch nicht vorbei? Musste ich immer noch kämpfen für das, was ich war?

„Ich… wir… Es tut mir Leid.“ Er wich meinem Blick aus und ich nahm nur am Rande wahr, dass der Spiellärm aufhörte, während ich weiter auf meinen Gegenüber starrte. Wie gerne hätte ich ihm diese Worte geglaubt, doch ich konnte es nicht. Wegen ihm hatte ich eine gebrochene Hand und konnte nicht mit meinen Freunden spielen. Er war schuld daran, dass sich Alex und Leon gestritten hatten und auch daran, dass die Schikanen soweit geführt hatten, dass sich Robert das Leben genommen hatte. Ja, er war der Mörder von Robert.

„Ich hab dir damals gesagt, dass du mich nie wieder ansprechen sollst. Warum bist du jetzt hier? Es gibt nichts mehr, was wir uns zu sagen hätten. Dein Schweigen hat erst alles zugelassen. Egal, ob du für oder gegen mich bist. Du machst alles nur schlimmer. Verschwinde einfach, Chris.“ Ich wandte mich von ihm ab und erkannte, dass Alex und Leon zu mir sahen. Sie waren bereit zu kommen und Alex näherte sich auch langsam uns, wobei er schließlich von Leon gestoppt wurde.

„Ich… ich… das weiß ich und es tut mir Leid, dass sie dich wegen mir erwischt haben. Das wollte ich nicht. Felix, ich bin auf deiner Seite. Glaub mir bitte. Ich… bitte… glaub mir.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme konnte nicht gespielt sein, dennoch verschloss sich mein Herz dafür und ich spürte, wie meine Hände zu zittern begannen, doch dieses Mal aus Zorn.

Chris nahm sich einfach das Recht heraus, hier vor mir zu stehen und mich um Verzeihung zu bitten. Ich wollte ihm nicht verzeihen. Keinem meiner Peiniger wollte ich jemals vergeben. Sie sollten ihre gerechte Strafe bekommen und dann. Ja, vielleicht dann wäre ich bereit sie zu begnadigen. Aber nicht jetzt und vor allem nicht ihm. Er tat auf Freund und hatte mich verraten. Man konnte ihm nicht trauen.

„Deine Motive sind mir egal. Du hast mich verraten. Wegen dir habe ich eine gebrochene Hand. Dein Schweigen hat Robert in den Selbstmord getrieben, weil er nur den Hass kannte. Er wusste nicht, dass man es auch akzeptieren kann, weil du geschwiegen hast. Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wie viel Leid dein Schweigen verursacht hat und jetzt stehst du hier und bittest um Vergebung. Das ist lächerlich, Chris. Einfach nur erbärmlich. Ich will dich nicht wiedersehen. Du bist schuld an allem und ich werde es dir nicht verzeihen.“

„Felix… ich… bitte, hör mir nur eine Minute zu.“ Er trat einen Schritt auf mich zu und wollte mich am Arm packen, doch ich entriss ihm ihn und wich vor ihm zurück. „Fass mich nicht an! Als ich das letzte Mal dir zugehört habe, sind Schläger gekommen und haben mir meine Hand gebrochen! Du bist nur dagestanden und dir zu fein gewesen, mir zu helfen! Warum sollte ich dir also glauben, dass du auch nur irgendwo tief in dir den Wunsch hast, dass es mir gut geht? Das glaubst du doch selbst nicht!“

„Bitte… du verstehst das nicht, Felix. Ich…“ Er brach ab, als Alex auf uns zu kam und wich sogar einen Schritt zurück. Wie ein geschlagener Hund senkte er seinen Blick und ich sah auf meinen Freund, der mich besorgt musterte. „Alles okay bei dir, Felix? Wer ist das?“ Er deutete auf Chris, der sich immer unwohler in seiner Haut zu fühlen schien, denn das Zupfen an seiner Kleidung wurde mit jeder Sekunde ausgeprägter. Mein Blick glitt über ihn und ich spürte kurz Mitleid in mir aufkeimen, welches ich aber sofort niederrang. Dieser Mensch hatte solche Gefühle nicht verdient.

„Ja, keine Sorge. Chris wollte gerade eben gehen.“ Meine Stimme war hart und grausam. Etwas, was ich von mir gar nicht gewohnt war, aber dieser Hass, der in mir wütete und der danach schrie, dass ich ihn an Chris ausließ, raubte mir sämtlichen Verstand. Dieser Junge vor mir hatte meine Güte nicht verdient.

Alex sah auf ihn und das Misstrauen in seinen Augen wich der Sorge, als er zu Chris trat und kurzerhand dessen Hände am Zupfen hinderte. „Chris? Warum bist du hier? Was quält dich?“

Ich konnte es nicht fassen. Warum half Alex diesem Jungen? Er hatte es nicht verdient und konnte ruhig ein wenig leiden. Schließlich hatte er immer weggesehen. Auch Chris schien damit überfordert zu sein, denn er sah Alex an, als wäre dieser ein übernatürliches Wesen, bevor sein Blick zu mir glitt und anscheinend nach einer Antwort suchte, bevor er dann den Kopf schüttelte und einen Schritt Abstand zu Alex nahm.

„Nichts. Es geht schon. Ich wollte nur kurz mit Felix reden, aber… Es ist alles in Ordnung. Ich muss auch schon wieder los.“ Das Lächeln, welches er versuchte Alex zu schenken, erinnerte mich an mich selbst, als ich noch versuchte auf heile Welt zu spielen. So voller Trauer und Schmerz und anscheinend hatte es auch Alex bemerkt, denn er versuchte Chris zu stoppen, doch dieser entzog sich seinem Griff. Das Lächeln verschwand nicht, als er nur kurz den Kopf schüttelte und sich dann abwandte, um nach einem kurzen Abschiedswort zu gehen.

„Was? Was war los, Felix?“, wandte sich Alex an mich, doch ich zuckte nur mit den Schultern und ließ mich dann wieder aufs Gras sinken. „Nichts. Chris ist ein Mitschüler. Er ist daran schuld, dass man mir die Hand gebrochen hat, weil er mich mal auf den Nachhauseweg angesprochen und somit lang genug aufgehalten hatte, damit mich Robert mit seinen Schlägern erwischen hatte können. Seitdem will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben.“

„Ich verstehe und warum hat er dich damals angesprochen?“ Alex schien das Thema nicht so leicht fallen lassen zu wollen, doch ich wurde von Leon und den anderen Jugendlichen erlöst. „Alex?! Was ist los? Wir wollen weiterspielen! Komm endlich wieder zurück!“

 

„Ja, ja! Ist ja gut! Ich bin schon unterwegs!“ Ich sah deutlich, dass Alex nur widerwillig von meiner Seite wich, doch sein Blick zeigte mir auch, dass dieses Thema für ihn noch nicht gegessen war. So sehr ich Alex auch mochte, aber er schien viel zu gerne die Rolle meines Gewissens zu spielen. Wie Jiminy die Grille bei Pinocchio. Lästiges, kleines Insekt.

Doch ich schob die Gedanken zur Seite und sah den anderen weiter bei ihrem Spiel zu. Das Verhalten von Chris ignorierte ich. Ich wollte mich nicht mit ihm beschäftigen. Er war ein Mensch, den ich nicht in meinem Leben haben wollte. Schließlich war er doch schuld an allem, oder nicht?

Ich raufte mir die Haare, als ich bemerkte, wie Alex’ Zweifel auch mein Herz langsam erreichten. Mir war klar, dass Chris’ Verhalten irgendeinen Grund haben musste, aber ich wollte diesen gar nicht wissen. Es war doch umso vieles einfacher, wenn man ihn einfach nur hasste.

Ich schnaubte und starrte beleidigt auf Alex, der mittlerweile schon wieder gänzlich in seinem Spiel vertieft war. Er und Leon waren ein perfektes Team. Die anderen kamen kaum dazu auf das Tor zu schießen, denn sie wurden immer wieder ausgespielt. Ich wusste, dass Robert und ich genauso hätten sein können. Wir kannten uns auch schon ewig und wussten von den Gedanken des jeweils anderen. Aber die wichtigsten Empfindungen waren uns unbekannt.

Ich seufzte, als mir erneut bewusst wurde, wie sehr mir Robert fehlte. Niemand kannte mich besser als er. Er schien von meiner Neigung schon vor mir gewusst zu haben und hatte sie hingenommen. Auch wenn er schuld an meinem Leid gewesen war, so konnte ich ihn seit dem Gespräch auf der Brücke nicht mehr hassen. Vielleicht hätte ich das Gespräch damals wirklich anders anfangen sollen, doch daran konnte ich nichts mehr ändern. Wie gerne hätte ich noch einmal mit ihm gesprochen. Nur noch ein letztes Mal, um ihm zu sagen, dass unsere Freundschaft noch lebte. Wir könnten wieder Freunde sein.

Mein Blick glitt zu Chris, der einsam unter einem Baum saß und das Spiel anscheinend auch beobachtete, doch immer mal wieder sah er zu mir herüber. Er zupfte immer noch an seinem Oberteil und ich verstand sein Verhalten nicht. Sollte ich ihm vielleicht doch zuhören?

Plötzlich juckte meine Hand unter dem Gips und mir wurde wieder bewusst, was ich ihm zu verdanken hatte. Ich wollte nicht mit ihm reden. Das hatte er gar nicht verdient, oder doch? Sollte nicht jeder eine zweite Chance bekommen? An diesem Zwiespalt war nur Alex schuld.

Ich schnaubte wütend und wandte mich von Chris ab, um mich krampfhaft auf das Spiel zu konzentrieren und als ich das nächste Mal auf den Baum sah, war er verschwunden und auch wenn es mich kurz überraschte, so war es mir doch egal…

Es war ein seltsames Gefühl als das Ergebnis verkündet wurde und meine Freunde den Sieg errungen hatten. Sie kamen auf mich zu und lächelte mich an. Ich stand auf und lief ihnen ein Stück entgegen, um ihnen dann zu gratulieren: „Ihr habt echt klasse gespielt. Seit wann seid ihr so gut darin? Ich hätte nie vermutet, dass ihr das so gut könnt.“

„Danke für das Kompliment, Felix, und na ja, jeder hat sein Geheimnis.“ Alex lachte auf und sah kurz mit einem breiten Grinsen zu Leon, der ihm dann freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Im nächsten Moment sah sich der Kleinere um und ich wusste, wen er suchte, doch er würde ihn nicht finden.

„Wo ist Chris? Er hat uns doch auch noch zugesehen, oder nicht?“, fragte Alex dann und ich zuckte als Antwort mit den Schultern. „Ja, hat er, aber irgendwann ist er dann einfach verschwunden. Ist auch besser so. Ich will so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben. Schließlich habe ich ihm den Gipsverband zu verdanken.“

Ich wollte den Groll gegen Chris noch nicht fallen lassen. Selbst der strafende Blick meines Freundes konnte ihn nicht vernichten. Schließlich wollte ich es einfach so. Es war erfrischend jemanden zu hassen, ohne seine Beweggründe zu hinterfragen. Schließlich hatte ich in letzter Zeit immer nur nach dem Grund gefragt und das laugte auf Dauer doch aus.

„Wieso ist er dir auf die Hand getreten? Er sah mir jetzt nicht wie ein Schläger aus.“ Leon mischte sich nun auch ein und ich hasste ihn für diese Worte. Konnten sie mich nicht einfach damit in Ruhe lassen? Chris brauchte unsere Hilfe nicht und er sollte wie zuvor auch aus meinem Leben verschwinden. Wir waren nur Klassenkameraden und mehr wollte ich nicht zulassen.

„Nein, ist er nicht, aber er hat mich auf den Nachhauseweg angesprochen und aufgehalten, sodass mich Robert mit seinen Schlägern einholen konnte und da ist mir jemand auf die Hand gestiegen. Ich weiß mittlerweile nicht einmal mehr, wer es war. Ist ja auch unwichtig.“ Ich winkte ab und wollte gehen, doch meine Freunde bewegten sich nicht.

„Interessant. Derjenige, der dich verletzt hat, ist dir egal, aber Chris verfluchst du für sein Verhalten. Das klingt nicht besonders fair, Felix.“ Alex versuchte erneut mein schlechtes Gewissen zu wecken und ich spürte, dass er langsam sein Ziel erreichte. Das war einfach nur ein ekelhaftes Gefühl.

„Vielleicht hatte er seine Gründe, dass er dich ansprach. Er wirkt auf mich nicht so, als würde er dein Leid wollen. Eher so, als hätte er Angst das nächste Opfer zu werden“, sprach Alex weiter und ich spürte, wie ich mich anspannte. Ich wollte nicht darüber nachdenken und Chris eine Chance geben. Wenn ich ihm verzieh, dann würde ich doch indirekt zugeben, dass ich ihm Unrecht tat, oder?

„Ich weiß nicht, was er von mir will. Er will dauernd nur reden, aber ich will nicht, okay? Ist das wirklich so schwer zu verstehen?“ Ich wurde lauter als ich beabsichtigte, doch ich konnte es auch nicht unterbinden. Es tat weh, dass mir Alex solch eine Grausamkeit unterstellte und mich deswegen auch noch indirekt verurteilte. Ich wünschte mir, dass ich anders empfand, aber es ging nicht. Dieser Kerl hatte mir nicht geholfen, obwohl er mir gesagt hatte, dass die Schläge nicht in Ordnung waren. Das war nicht okay. Das war nicht gerecht. Er sollte auch leiden.

„Du solltest ihm eine Chance geben, Felix.“ Leons Worte waren warm und sanft. Sie erreichten dadurch einen Bereich in meinem Herzen, den ich für Chris geschlossen halten wollte. Hatten sie vielleicht Recht? Sollte ich ihm die Chance geben, sich zu erklären? Würde ich mir das auch wünschen, wenn ich Chris wäre?

Ich musste zurück denken, wie er vor mir gestanden hatte und so schüchtern und unsicher gewesen war. Das Zupfen an seinen Ärmel und dieses traurige Lächeln. Desto mehr ich über ihn nachdachte, desto ähnlicher wurde er mir. Nach wenigen Atemzügen sah ich mich selbst in Chris. Damals, als ich kurz davor gewesen war, mich zu outen. Diese Last, die auf den Schultern lag, weil man sich selbst verleugnete. Es konnte nicht wahr sein, oder? War Chris schwul?

„Du siehst aus, als hättest du einen Geistesblitz gehabt. Worüber denkst du gerade nach?“ Alex’ Worte drangen zu mir durch und erst jetzt registrierte ich meine beiden Freunde wieder. Ob sie genauso dachten? Wirkte Chris auf sie wie jemand, der ein tiefes Geheimnis hütete, dass ihn zerstören könnte? Wollte er deshalb mit mir sprechen, weil er genauso ein gesellschaftliches Tabu in sich trug? War er sogar wie ich?

„Über Chris. Ich sollte vielleicht doch mal mit ihm reden.“ Diese Entscheidung fiel mir plötzlich einfach, dass ich sogar kurz über meine eigenen Worte erschauderte. Leon sah mich kurz schräg an, während mich Alex sanft anlächelte. Es war ein gutes Gefühl, sie bei mir zu wissen und dennoch wünschte ich mir, dass ich auch Marc zu dieser Lage befragen könnte. Er war wie ich und wusste, wie grausam die Gesellschaft zu Menschen wie uns sein konnte. Sie dagegen sahen es nur vom Rande aus. Niemals könnten sie wirklich verstehen, wie es einen ging.