Nur Ja! heißt ja

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1.1Mehr als zwei Geschlechter

Menschen wollen einander verstehen. Wenn wir mit einer anderen Person in Beziehung treten, können wir manchmal etwas über unseren eigenen winzigen Platz in dieser riesigen Welt lernen. Es ist also kein Wunder, dass uns das intensiv beschäftigt. Um es uns zu erleichtern, das eigene Menschsein zu verstehen, haben wir Schubladen geschaffen: Wenn du bist, kreuze dieses Kästchen an; wenn du hingegen bist, kreuze jenes Kästchen an. Dieses System beruft sich auf die Denkweise des »entweder oder«, denn es ist nicht erlaubt, beide Kästchen anzukreuzen. Ein weiteres Kästchen irgendwo dazwischen zu zeichnen, käme nicht in den Sinn und wäre unerhört. Dieses strenge System, diese Ordnung, wird als Binarität – als Zweiteilung – bezeichnet, weil es nur zwei Optionen gibt, zwischen denen wir uns entscheiden müssen.


Theoretisch hat eine Person, die in eine bestimmte Schublade gehört, bestimmte Eigenschaften zu erfüllen. Eine Person ist anfällig für eine bestimmte Krankheit; eine Person denkt auf dieses Weise; Personen lieben Personen. Diese vier Lücken beruhen auf einer Reihe gesellschaftlicher Vorannahmen, die als soziale Konstruktionen – als gesellschaftlich hergestellt – bezeichnet werden. Im Wesentlichen hat hier eine Gruppe von Menschen Entscheidungen darüber getroffen, wie eine Person sein sollte oder nicht sein sollte; und weil das für einige Leute in der Gesellschaft Vorteile brachte, stellten sie sicher, dass diese sozialen Konstruktionen in Kraft blieben. Im Ergebnis wird die Persönlichkeit und Identität von Menschen anhand dieser Kästchen bemessen und von ihnen geprägt, anstatt dass sie diese selbst formen (können).


Es ist logisch, dass ein einzelnes Kästchen nicht die Komplexität eines Menschen enthalten kann. Glücklicherweise zieht die Wissenschaft langsam nach und je mehr wir lernen, desto deutlicher wird, dass wir unendlich viele Kästchen brauchen würden, um Menschen darin zu erfassen. Um einander verstehen zu können, ist es tatsächlich am klügsten, wenn wir uns von der Vorstellung der Kästchen einfach komplett verabschieden. Die Forschung zeigt nicht nur, dass es kein ›normal‹ gibt, sondern dass die Starrheit dieses Systems verhindert, dass das lebendige Spektrum der menschlichen Existenz als solches wahrgenommen wird. Trotz der erdrückenden Beweislast beruhen angloeuropäische Gesellschaften auf diesen unangemessenen und vereinfachten Verallgemeinerungen. Sie verweigern sich weitgehend einer entsprechenden Verschiebung und haben vielleicht sogar ein bisschen Angst davor.

Diese Übervereinfachung durchzieht jeden Aspekt unseres Lebens. Eine besondere Rolle spielt sie in Bezug auf unser Geschlecht und unsere Sexualität. Je nachdem, welches Geschlecht einer Person zugewiesen wird, werden von ihr bestimmte Verhaltensweisen erwartet – von der Partner*innenwahl über sexuelle Praktiken bis hin zu Kleidung und Haarentfernung. Sogar wenn eine Person außerhalb dieser Schubladen lebt, ist es wahrscheinlich, dass die Welt sie weiterhin auf ein Stereotyp reduzieren will. Um uns von diesen Beschränkungen zu befreien, müssen wir diese Vereinfachungen zunächst verstehen: Wie sind sie entstanden und zu welchem Zweck wurden sie geschaffen?

Daher bietet ein Verständnis von Geschlecht – wie es bei der Geburt zugewiesen wird (engl. sex) und wie wir es leben (engl. gender) – sowie von sexueller Orientierung, von rassistischen Körpernormen usw. eine gute Grundlage, um nachvollziehen zu können, wie die gegenwärtige kulturelle Gemengelage entstanden ist. Diese Vorstellungen stellen aber weder die Zukunft noch unveränderliche Tatsachen dar.


1.2Geschlecht – sozial und biologisch?

In welchem Buch, das du gelesen hast, in welchem Film, den du gesehen hast, spielte Geschlecht keine Rolle für die Handlung? Ob in Sachtexten, Romanen, Dokumentar- oder Spielfilmen: Wir finden darin immer Spuren dieses Konzepts. So vieles in der – wenn nicht die gesamte – Geschichte der Menschheit wird entlang von Geschlecht erzählt. Die Theorien zum – ›biologischen‹ und sozialen – Geschlecht würden ein ganzes Bücherregal füllen, doch um es kurz zu halten, erklären wir hier im Schnelldurchlauf, wie wir zu unserem aktuellen Verständnis von Geschlecht gekommen sind. Vielleicht ist besonders interessant, wo wir es falsch verstanden haben.

Erinnere dich an deinen frühen Biologieunterricht. Da gab es vollkommene, nackte Personen, die zu vollkommen geformten Chromosomen passten. Das Konzept des ›biologischen Geschlechts‹, das bei der Geburt zugewiesen wird, wurde fast immer als wissenschaftliche Tatsache dargestellt und somit als etwas Eindeutiges und Wahres verstanden. Wir lieben die Wissenschaft, weil sie uns vermeintlich genau das liefert: etwas Stabiles. Aber diese Stabilität kann auch zu einer Starrheit führen, in der wenig Raum für Entwicklung bleibt.

So wie die Wissenschaft sich von der Theorie, die Erde sei eine Scheibe, weiterentwickelt hat, haben sich auch Vorstellungen vom bei der Geburt zugewiesenen ›biologischen Geschlecht‹ weiterentwickelt. Traditionell wurde das ›biologische Geschlecht‹ – oder vielmehr, das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht – als etwas Objektives und Unveränderliches erachtet. Die Wörter »männlich« und »weiblich« wurden hier direkt in Bezug auf Genitalien und Chromosomen benutzt. Mittlerweile haben wir gelernt, dass diese anfänglichen Vorstellungen von Genitalien, Fortpflanzungsorganen und Chromosomen faktisch nicht richtig sind. Das ›biologische Geschlecht‹ ist ein Spektrum; es ist beweglich und es kann sich verändern. Das menschliche Denken wollte etwas vereinfachen, das die Natur aber eher als Mosaik entworfen hat.

Um die Beweglichkeit des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts zu verstehen, müssen wir ein bisschen tiefer in die Biologie eintauchen – insbesondere hinsichtlich der Frage, inwiefern Genitalien und Chromosomen unveränderlich und miteinander verknüpft sind.

Lasst uns mit den Genitalien beginnen. Wenn ein Mensch geboren wird, oder bereits bei vorgeburtlichen Ultraschalluntersuchungen, schaut sich die medizinische Fachkraft die Genitalien an und weist dem Kind ein ›biologisches Geschlecht‹ zu (deshalb sprechen wir auch vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht): »männlich«, wenn es einen Penis hat; »weiblich«, wenn es eine Vagina hat; und »intergeschlechtlich«, wenn es so genannte »uneindeutige Genitalien« hat – ein Überbegriff, der für alle Genitalien genutzt wird, die außerhalb der begrenzten Definitionen der westlichen Medizin von ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Genitalien liegt. Hierin liegt das erste Problem: Es hat immer Menschen gegeben, deren Genitalien nicht zu den Konstrukten der westlichen Medizin passten. Viele Menschen werden mit inneren oder äußeren Genitalien aller möglichen Formen, Größen und Kombinationen geboren. Expert*innen schätzen, dass 1,7 Prozent der Menschen mit ›intergeschlechtlichen‹ Merkmalen geboren werden, was etwa dem Prozentsatz der Menschen entspricht, die mit rotem Haar zur Welt kommen.1 Das ist eine enorme Zahl vollkommener Körper, denen nur zwei Optionen zur Auswahl gegeben wurden. Sie belegen die Notwendigkeit, die bisherigen Vorstellungen dessen zu hinterfragen, was einen ›männlichen‹ und/oder ›weiblichen‹ Körper ausmacht. Zudem sind die eindeutigen Vorstellungen von ›Penis‹ und ›Vagina‹ selbst Konstrukte. Die Genitalien eines jeden Menschen sind einzigartig – es gibt keine ›normale‹ oder durchschnittliche Form. Abgesehen von der unendlichen Bandbreite an Größen, Formen, Farben usw. hat jede Person das Recht, selbst frei zu benennen, was sie zwischen den Beinen hat – mit allen Wörtern, die dazu gewählt werden mögen. Was wie ein bloßer Akt der Zuweisung eines ›biologischen Geschlechts‹ eines Menschen erscheinen mag, ist jedoch eine folgenschwere Festlegung für das gesamte Leben dieser Person: Es beeinflusst beispielsweise, welche Chancen sie haben wird, wie sie von der Gesellschaft gesehen wird, wie sie medizinisch behandelt wird. Wenn es um so vieles geht, könnte man annehmen, dass die Zuweisung von Geschlecht ein genauer Prozess sei. Doch das Konzept der Zuweisung eines Geschlechts als männlich, weiblich oder intergeschlechtlich bezüglich bestimmter Genitalien ist keineswegs objektiv, denn innere und äußere Genitalien sind überaus vielfältig.


Doch was ist dann mit den Chromosomen? Auf die können wir uns doch sicherlich verlassen, um aus ihnen zwei fein säuberliche Schubladen abzuleiten? Vielleicht hast du in deinem Biologieschulbuch gelesen, dass 1923 das X- und das Y-Chromosom – bloß ein Haufen verschwommener Flecken in der Form von Kidneybohnen unter einem Mikroskop – entdeckt und als »Geschlechtschromosomen« bezeichnet wurden. Die grundlegendste Behauptung dieser Forschung war, dass Menschen, die XX-Chromosomen tragen, eine Vagina haben und Menschen, die XY-Chromosomen tragen, einen Penis haben. Ende der 1970er Jahre hatte die DNA-Revolution begonnen – im Vorlauf des Humangenomprojekts, das die Gesamtheit des menschlichen Genoms entschlüsseln wollte. Hierbei kamen weitere Forschungen zu dem Ergebnis, dass es viele Ausnahmen von der Theorie der zweiteiligen ›Geschlechtschromosomen‹ gibt. In Tests wurde gezeigt, dass es auch ›Frauen‹ gab, die XY-Chromosomen trugen, und Menschen mit Penis und Hoden, die XX-Chromosomen trugen – sowie eine endlose Zahl weiterer Kombinationen.

 

1990 wurde dann ein einzelnes Gen entdeckt, das nun tatsächlich für die Bestimmung der Genitalien verantwortlich sein sollte, die sich in einem Körper herausbilden. Das bedeutete, dass nicht das X- oder Y-Chromosom, sondern ein winziges Gen namens SRY auf dem Y-Chromosom das bestimmt, was als ›biologisches Geschlecht‹ bezeichnet wurde. Das SRY-Gen, oder die geschlechtsbestimmende Region auf dem Y-Protein, funktioniert wie ein Schalter, der die Erzeugung ›männlicher‹ Genitalien anregt. In ihrer frühen Entwicklung sind alle Föten ›weiblich‹, das ›Standard‹-Geschlecht eines jeden Menschen ist also ›weiblich‹. Wenn jedoch das SRY-Gen aktiviert ist, wird die Entwicklung der Hoden ausgelöst. SRY muss aktiviert sein, damit ›männliche‹ Genitalien entstehen können, aber wir verstehen noch immer nicht gänzlich, wie SRY aktiviert wird und welche Ereigniskette genau auf seine Aktivierung folgt, die zur Bildung von Hoden führt. Wir wissen aber, dass eine Person mit XY-Chromosomen, der das SRY-Gen fehlt, keine ›männlichen‹ Genitalien ausbildet, sondern ›weibliche‹.

2011 veröffentlichten Dr. David Zarkower und Dr. Vivian Bardwell in der Fachzeitschrift »Nature« eine Studie mit ziemlich verblüffenden Ergebnissen über ein weiteres Gen namens DMRT1, die Abkürzung für »Doublesex And Mab-3 Related Transcription Factor 1«.2 Bei Menschen und anderen Tieren drückt sich dieses Gen in Form von Hoden aus. In Versuchen mit Labormäusen werden erstaunlicherweise die Hodenzellen zu Gebärmutterzellen, wenn das DMRT1-Gen entfernt wird. Im Wesentlichen hatten die Zellen ihr Geschlecht geändert und die zuvor ›männliche‹ Maus bildete nun Uterus-Zellen. Diese Gene, die in Mäusen, Menschen und vielen anderen Tieren zugegen sind, scheinen die Fähigkeit zu haben, das ›biologische Geschlecht‹ eines Wesens zu verändern, indem sie die Entwicklung der Gonadenzellen beeinflussen.

Entscheidend für ein Verständnis der Fluidität – der Veränderlichkeit – des ›biologischen Geschlechts‹ ist die Tatsache, dass wir alle unser Leben lang die SRY- und DMRT1-Gene in uns tragen und dass diese Gene entweder aktiviert (exprimiert) oder deaktiviert (supprimiert) werden können. Stellen wir uns die Gene zum Beispiel als ein Auto vor, dessen Motor läuft und das bergab steht. Entweder musst du den Fuß auf’s Gas setzen (Genaktivierung und -expression) oder du trittst die Bremse (Geninaktivierung und -suppression). Wie beim Umgang mit dem Auto ist die Aktivierung oder Inaktivierung eines Gens ein aktiver Prozess; es gibt keinen Standardzustand. Wenn du den Fuß von der Bremse nimmst, wird der Wagen losfahren und so ähnlich ist es mit einem Gen. Somit haben alle ›weiblichen‹ Tiere das SRY- und DMRT1-Gen, aber sie werden dauerhaft supprimiert. Hört die Suppression auf – wie wenn du den Fuß von der Bremse nimmst –, wird der Genausdruck ermöglicht. Das bedeutet, dass der Zustand des Gens immer offen für Veränderung ist. Im Falle von DMRT1 ist es bei ›Männern‹ aktiv und bei ›Frauen‹ supprimiert. Hinzu kommt die Tatsache, dass Gene üblicherweise nicht zu 0 oder zu 100 Prozent exprimiert werden, sondern irgendwo dazwischen, wodurch ein endloses Spektrum an ›biologischen Geschlechtern‹ bei Menschen entsteht.

Ich schreibe hier von diesen ganzen wissenschaftlichen Erkenntnissen, um festzustellen, dass Menschen immer die Fähigkeit in sich tragen, ihr ›biologisches Geschlecht‹ zu verändern; wir alle tragen in unserer biologischen Verfasstheit ein viel breiteres und komplexeres Spektrum als ›männlich‹ oder ›weiblich‹. Die Fähigkeit, das ›biologische Geschlecht‹, z.B. Genitalien, zu verändern, ist nicht einzigartig, sondern tatsächlich bei Hunderten von Tierarten auffindbar. Die Theorie von zwei Geschlechtern, der Zweigeschlechtlichkeit, hat noch nie Sinn ergeben, denn auf der grundlegendsten Ebene hat es immer körperliche Ausnahmen von dieser Regel gegeben. Mittlerweile ist die Wissenschaft weit genug fortgeschritten, um auf molekularer Ebene zu erkennen, dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht aus objektiven Kategorien hervorgeht, sondern vielmehr aus einer gesellschaftlichen Entscheidung darüber, wie Menschen aussehen und sich verhalten sollen.

Neben den Genitalien werden auch viele weitere Eigenschaften mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht verknüpft. Von Frauen wurde aufgrund eines vermeintlich größeren Hippocampus – der Hirnregion, die für Emotionen und Sinne zuständig ist – angenommen, dass sie ein breiteres Gefühlsspektrum hätten und diese Gefühle besser ausdrücken könnten (d.h. Frauen seien emotionaler, weinten mehr, seien eifersüchtiger oder gehässiger). Eine Analyse von 76 publizierten Fachtexten mit einer Gesamtzahl von 6000 Testpersonen, die unter Leitung der Neurowissenschaftlerin Lise Eliot an der Rosalind Franklin University of Medicine and Science durchgeführt wurde, entlarvte diese Theorie und fand heraus, dass der Hippocampus bei Männern und Frauen gleich groß ist.3 Ähnliche Forschung zu Hirnfunktionen haben immer wieder dasselbe herausgefunden: Es gibt keinen merklichen Unterschied zwischen den Gehirnen von Menschen, die nach dem ›biologischen Geschlecht‹ in Männer und Frauen eingeteilt werden. Eliot sagt in einer Pressemitteilung zu den Ergebnissen der Studie:

»Geschlechtliche Unterschiede im Gehirn sind unwiderstehlich für jene, die stereotype Unterschiede zwischen Männern und Frauen nachweisen wollen. (…) Unsere Untersuchung verschiedener Datenreihen, wobei wir sehr große männliche und weibliche Testgruppen zusammenfügen können, ergibt, dass diese Unterschiede oft verschwinden oder gehaltlos sind.«4

Das heißt, Mathe, Naturwissenschaften, Kunst, Sport, Sprache, Logik, Mut, Leidenschaft, Freundschaft und alles andere, was unser Gehirn verarbeitet, sind nicht vom bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht einer Person abhängig. Mit der Widerlegung der Theorie von tatsächlichen körperlichen Unterschieden im Gehirn ist die Erzählung davon, dass Männer und Frauen ›von Natur aus‹ zu bestimmten Verhaltensweisen neigen, ein Märchen, das durch gesellschaftliche Erwartungen und Zwänge geschaffen und durchgesetzt wurde.


Wohin gehört nun die Frage der Geschlechtsidentität?

Auf Grundlage anglo-europäischer Definitionen wird das biologische Geschlecht (engl. sex) bei der Geburt zugewiesen und das soziale Geschlecht (engl. gender) als selbstbestimmter verstanden. Wir verstehen heute, dass die beiden eigentlich dasselbe sind. Beide beschreiben Menschen auf der Grundlage gesellschaftlicher Konstrukte.

Gender ist im Englischen sowohl ein Nomen als auch ein Verb. Als Verb, »to gender«, bedeutet es, einer Person oder einem Gegenstand männlich oder weiblich konzipierte Eigenschaften zuzuschreiben. Zum Beispiel, wenn du das falsche Pronomen [z.B. »er« oder »sie«] für eine Person benutzt (das ist nie in Ordnung!), hast du diese Person falsch gegendert, ihr das falsche Geschlecht zugeschrieben. Als Nomen bezeichnet Gender, wie eine jede Person sich geschlechtlich selbst definiert. Dein Geschlecht ist eine Identität, die im Verhältnis dazu steht, wie du dich selbst siehst und wie du von anderen gesehen werden möchtest. Geschlechtsidentitäten und die Möglichkeiten, wie wir sie ausdrücken, sind im wörtlichen Sinne unendlich, weil sie so vielfältig sind wie die Menschen selbst. Eine Person kann ein Mann oder eine Frau sein, sie kann sich jenseits der Zweigeschlechterordnung verorten oder das Geschlecht wechseln, sie kann Geschlechtervorstellungen erweitern, bewegen und untergraben, mehrere Geschlechter haben, Weiblichkeit zelebrieren und vieles mehr. Du kannst eine Geschlechtsidentität haben oder eine Million. Dein Geschlecht kann dein ganzes Leben lang gleich bleiben oder sich verändern.


Es folgt eine kurze Liste mit einigen Geschlechtsidentitäten. Da die englischsprachigen Bezeichnungen auch im deutschsprachigen Kontext recht weit verbreitet sind, orientiert sich die Liste an den englischen Begriffen. Darüber hinaus gibt es weltweit zahllose weitere Geschlechtsidentitäten, die alle – wie auch die hier gelisteten – in bestimmten Kontexten verortet sind und überall unterschiedlich gelebt werden.

gender expansive/wörtlich: Geschlecht erweiternd, hier: geschlechtlich nicht-konformEine Person, die über die, in ihrer Gesellschaft vorausgesetzten, meist zweigeschlechtlichen, Konzepte von Geschlecht hinausweist, ihnen nicht entspricht. Unter diesen Menschen sind transgeschlechtliche, nicht-binäre, gender queere, androgyne Menschen sowie alle anderen, die die verallgemeinerten Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit (Frau/Mann) erweitern.

gender queerEine Person, die nicht einem bestimmten Geschlecht entspricht und damit Geschlechternormen überschreitet.

gender questioning/wörtlich: Geschlecht hinterfragendEine Person, die auf dem Weg ist, ihr Geschlecht zu finden oder eine Person, die dauerhaft das Konzept von Geschlecht infrage stellt, die keinem bestimmten Geschlecht entspricht und/oder mit Geschlecht nichts zu tun haben will.

gender fluid/geschlechtlich veränderlichEine Person, deren Geschlechtsidentität an eine Ebbe und Flut sozial konstruierter männlicher und weiblicher Eigenschaften erinnert. Ihr Geschlecht kann sich ständig ändern oder gleich bleiben. Eine geschlechtlich veränderliche Person beschränkt sich nicht auf die Zweiteilung von Frau und Mann.

nonbinary/nicht-binär, nichtbinärEine Person, die sich außerhalb der Zweiteilung von Mann/Frau bewegt, die sich keiner der beiden gegenüberstehenden Geschlechteroptionen zugehörig fühlt.

transgender/transgeschlechtlich5 bzw. trans oder trans*Eine Person, die ein anderes Geschlecht lebt, als ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Zum Beispiel wurde einer trans Frau bei der Geburt das Geschlecht »männlich« zugewiesen, ihre Identität ist aber die einer Frau/weiblich. Beachte, dass Transgeschlechtlichkeit bzw. trans zu sein nichts mit der sexuellen Orientierung, also dem sexuellen Begehren, einer Person zu tun hat.

cisgender/cisgeschlechtlich bzw. cisEine Person, die das Geschlecht lebt, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Zum Beispiel wurde einer cis Frau bei der Geburt das Geschlecht »weiblich« zugewiesen und ihre Identität ist die einer Frau/weiblich. Beachte, dass Cisgeschlechtlichkeit bzw. cis zu sein nichts mit der sexuellen Orientierung einer Person zu tun hat.

intersex/intergeschlechtlich bzw. inter oder inter*Es handelt sich um einen Überbegriff für Menschen, die mit einem Körper auf die Welt kommen, der Eigenschaften außerhalb der strengen Zweiteilung von männlich und weiblich aufweist. [Intergeschlechtliche Menschen können sich selbst als inter* identifizieren oder weibliche, männliche oder queere Geschlechtsidentitäten haben.]

MannEine Person, die typischerweise mit dem ›männlichen‹ Geschlecht verknüpft wird. Beachte: Sowohl trans als auch cis Männer können männlichen Geschlechts/Männer sein.

FrauEine Person, die typischerweise mit dem ›weiblichen‹ Geschlecht verknüpft wird. Beachte: Sowohl trans als auch cis Frauen können weiblichen Geschlechts/Frauen sein.

Mehr als zwei Optionen der Geschlechtsidentität zu haben, ist weder ein vorübergehender Trend oder eine neue Mode noch ist es kompliziert. Jenseits westlicher anglo-europäischer Gesellschaften hat es immer mehr als zwei Geschlechter gegeben. In Südasien sind »Hijras« seit Jahrhunderten als drittes Geschlecht anerkannt. In Indigenen Gesellschaften Nordamerikas bilden »Two-Spirit«-Menschen eine eigene Geschlechtsidentität, die nicht mit den Geschlechterbezeichnungen für Mann und Frau verbunden ist. In den Zapotekischen Kulturen Oaxacas in Mexiko gibt es die »Muxe« (oder »Muxhe«), eine traditionelle und breit akzeptierte dritte Geschlechtsoption. Die »Leitis« in Tonga und die »Fa’afafine« in Samoa sind dritte Geschlechter im südpazifischen Kulturkreis. Darstellungen und Schriften auf antiker Töpferware zeugen schon 2000–1800 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung von drei Geschlechtern. Angesichts der Komplexität von Menschen erscheint es sinnvoll, dass so viele Kulturen es nie für vernünftig hielten, alle Leute in nur zwei kleine Kategorien zu zwängen.

 

Während es stimmt, dass uns diese Kategorisierung potenziell helfen kann, einen kleinen Teil einer Person zu verstehen, stimmt es ebenso, dass diese Ordnung genutzt wurde und wird, um Menschen zu kontrollieren und zu diskriminieren. Das Konzept des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts ist besonders gefährlich, weil es als unveränderlich verstanden wird. Wenn eine Person bei der Geburt als ›männlich› ausgewiesen wird und später feststellt, dass sie ›weiblich‹ ist, ist die Wahrscheinlichkeit dennoch groß, dass sie ihr Leben lang von ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht geplagt wird. Anstatt als Frau medizinische Versorgung zu erhalten, strafverfolgt zu werden oder die öffentliche Toilette zu nutzen, kann es sein, dass sie weiter als männlich wahrgenommen und behandelt wird. Das ist nicht nur diskriminierend, sondern in den meisten Fällen sogar gefährlich. Unsere sozialen, medizinischen und rechtlichen Systeme müssen dem Spektrum unserer Körper und unterschiedlichen Persönlichkeiten endlich gerecht werden, damit unser aller Wohlbefinden gewährleistet werden kann.

Die einzige Person, die entscheiden kann, ob du dich als männlich, weiblich, Mann, Frau, nicht-binär, gender queer, androgyn oder auf eine andere Art und Weise definierst, bist du selbst – in all deiner Schönheit und Vollkommenheit. Die Vorstellung, dass Menschen ›im falschen Körper geboren‹ sind, ist fehlleitend, denn es gibt keine richtigen oder falschen Körper. Wenn eine Person entscheidet, ihren Körper zu verändern oder ihn zu ergänzen, bedeutet das nicht, dass der Körper an sich richtig oder falsch ist. Beispielsweise entscheiden manche trans Menschen, ihren Körper zu verändern und andere entscheiden, das nicht zu tun (beide Entscheidungen gehen niemand anders etwas an!). Ob eine Person den Körper und die Genitalien behält, mit denen sie geboren ist, oder sich für eine chirurgische Veränderung entscheidet, nimmt oder gibt ihrem selbstbestimmten Geschlecht nicht mehr oder weniger Berechtigung. Wir alle verändern unser Äußeres, um uns mehr wie wir selbst zu fühlen: sei es durch Schminke, plastische Chirurgie, das Färben unserer Haare, eine Tätowierung, die Rasur, das Tragen von Strap-Ons oder von bestimmter Kleidung usw. Die Philosophin und Geschlechtertheoretikerin Judith Butler sagt in einem von Christan Williams geführten Interview:

»Es ist immer mutig, auf Transformationen zu beharren, die sich notwendig anfühlen. Wir alle – als Körper – sind in der aktiven Position, herauszufinden, wie wir mit und gegen die Normen leben können, die uns formen (…). Jede Person sollte die Freiheit haben, den Lauf des eigenen vergeschlechtlichten Lebens zu bestimmen.«6

Während sich die Geschlechtsidentität bei manchen Menschen verändert und bei manchen nicht, ist es ein Gebot der Höflichkeit, Menschen mit ihrem richtigen Geschlecht anzusprechen und mit den richtigen Pronomen über sie zu sprechen. Das bedeutet, niemanden »Frau/Herr«, »sie/er«, »Lady«, »Mann« o.ä. zu nennen, bevor wir das gewünschte Pronomen der Person erfahren haben. Es ist einfacher und höflicher, eine Person nach ihrem Pronomen zu fragen als es zu erraten und vorauszusetzen. Ein einfaches, »Hallo, ich heiße und mein/e Pronomen ist/sind . Und du?« funktioniert prima, besonders wenn du mit den Ich-Botschaften beginnst. Wenn du eine Antwort erhalten hast, stehen diese Pronomen nicht zur Debatte, sondern sollten respektiert und immer benutzt werden. Eine Person hat auch jedes Recht, dir ihr/e Pronomen nicht mitzuteilen – sei es, weil sie sich nicht sicher fühlt oder weil es etwas ist, das sie eher im Privaten hält.


Wenn es dich stresst, das Geschlecht einer Person nicht zu kennen, ist das eine gute Gelegenheit, dich zu fragen, warum das so ist. Was soll dir das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht oder die Geschlechtsidentität einer Person über ihre Persönlichkeit verraten? Was würde passieren, wenn das Kennenlernen nicht über vorgefertigte Annahmen und Konzepte von Geschlecht abliefe, sondern etwa anhand der Lieblingsfußballer*innen der Person, ihres politischen Engagements, ihrer phänomenalen Backkunst, ihrer unglaublichen Fähigkeiten im Kopfrechnen oder beim Schlagzeugspielen (oder auch anhand all dieser Dinge zusammen)? Ja, Geschlecht ist daran beteiligt, zu welcher Person wir werden, aber es muss keine wichtigere Information sein als andere. Und es muss keinen Einfluss oder Auswirkungen auf alle anderen Aspekte haben, die dich zu dem Menschen machen, der du bist.

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