Unser Haus dem Himmel so nah

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Z serii: Alawi Bibliothek #11
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»Als sie kamen, um das Haus der Bayraqdars zu durchsuchen, versteckte der Hausherr seine Pistole im Heizofen, der von den Wintertagen her noch dastand. Der Offizier und seine Männer betraten das Haus, stellten es auf den Kopf und fragten den Hausherrn nach Waffen. Er verneinte, aber sein kleiner, vierjähriger Sohn, der gesehen hatte, wie sein Vater die Pistole versteckt hatte, plapperte los: ›Onkel, die Pistole ist da!‹, und zeigte auf den Ofen. Augenblicklich verhaftete man den Vater, der für immer verschwunden blieb.« Nana Umm Baschar murmelte noch etwas, seufzte und schloss mit den Worten: »Nun, ja, Gott verschone seine Diener mit solchen Dingen!« Nachdem sie ihr tägliches Füllhorn voller Geschichten geleert hatte, verließ sie die Wohnung meiner Großmutter und ging rüber zu Frau Schahira, Nassers Mutter, die inzwischen ebenfalls aufgewacht war und in Erwartung Ra’ifa Hanims den Kaffee aufs Feuer gestellt hatte.

Nana Umm Baschar hatte zwei Söhne, Baschar und Fatih. Baschar war praktischer Arzt ohne Facharztausbildung und wurde, als langgedienter Baathist, zum Hygienebeauftragten für die Restaurants in Aleppo ernannt. Dies war ein sehr angesehenes Amt, denn Aleppo war berühmt für seine Küche, die den türkischen Mittelmeergeschmack mit der arabischen Tradition verband. Doktor Baschar hatte viel zu tun und besaß großen Einfluss, schließlich war er für die Lizenzen verantwortlich und ahndete Verstöße gegen die Reinheits- und Hygienevorschriften. Vom mobilen Händler für Lakritz und Sahlab über die Sandwichläden bis hin zu den luxuriösesten Hotels gab man sich die größte Mühe, ihn zufriedenzustellen. So kochte Nana Umm Baschar fast gar nicht mehr, sondern bezog all ihre Mahlzeiten reihum von den verschiedenen Restaurants. Vor ihrer Wohnung parkten stets die unterschiedlichsten Fahrzeuge: Fahrräder, deren Fahrer mit Zellophan verpackte Schüsseln auf der Hand balancierten, Motorroller mit in Papiertüten gestapelten Tellern auf dem Gepäckträger und Autos, die bestimmten Restaurants gehörten und aus denen man Speisen und Getränke in mannigfaltigen Farben entlud. Zum Mittagessen gab es bei ihr immer Gegrilltes und Kibbeh Nayyeh, zum Abendessen Wurst- und Schawarma-Sandwiches. Ihr Frühstück aber bestand aus syrischem Grießpudding und Puddingteilchen mit Sahne und Haselnüssen. Zu den Abendveranstaltungen im Aleppo-Club, im Jalaa Sporting Club oder im Restaurant Sirubian war immer ein Tisch reserviert, und auch ihre Angehörigen und Gäste kamen in den Genuss dieser Vorzugsbehandlung.

Fatih hingegen, ihr zweiter Sohn, war schon in jungen Jahren bei ihr ausgezogen, weil er von all dem sündhaften Essen, Geld und Einfluss seines Bruders nicht profitieren wollte. »Doch wenn dich deine Eltern drängen, dass du mir etwas beigesellst, wovon du gar kein Wissen hast – gehorche ihnen nicht!«, hatte er damals zu seiner Mutter gesagt. Seit seiner Pubertät stand Fatih unter dem Einfluss seiner Cousins, der Söhne seiner Tante Sumayya, die in der Organisation der Muslimbrüder Rang und Namen besaßen. Sie hatten ständig über den Bruder hergezogen und ihm die Augen für dessen Sünden geöffnet. Eine subtile Mischung aus Einschüchterung und Versprechen bewirkte, dass er sich ihnen anschloss und später zu einem aktiven Mitglied ihrer Vereinigung wurde.

Fatih hielt sich lange von der Wohnung seiner Mutter fern, erst vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Aleppo im Jahr 1980 erschütterten, bekam sie ihn wieder zu Gesicht. An jenem Abend, an dem eine Ausgangssperre verhängt worden war – im Juni hatten sich die Tore der Hölle aufgetan –, hatte er den Befehl, zehn Maschinengewehre und zusätzlich eine hölzerne Kiste mit zehn Handgranaten, vom Haus eines hohen Funktionärs der Organisation im Viertel Hulluk fünfundzwanzig Kilometer weit nach Süden zu transportieren. Dafür kam er nach Hause zurück und nahm dort den Schlüssel des Doktor Baschar zugewiesenen Landrovers an sich, der als Staatseigentum ein grünes Kennzeichen trug. Das garantierte, dass man ihn nicht durchsuchen würde. Fatih stellte die Kisten in den Kofferraum und brachte seine Aufgabe unbehelligt zu Ende. Stunden später gab es einen Angriff auf die Artillerieschule in Aleppo, bei der etwa hundert alawitische Offiziere ihr Leben ließen. Nach diesem Vorfall reiste Fatih in die Türkei aus und begann an der Universität in Istanbul Chemie zu studieren. Er promovierte, heiratete eine Tochter seiner Tante Sumayya und wurde so zum Schwager seiner Cousins, die ihn in die Organisation gedrängt hatten. Später zog er mit seiner Familie weiter nach Saudi-Arabien und lüftete dort das Geheimnis der Mumifizierung, an dem er schon lange geforscht hatte. Eines Tages hatte er eine spezielle chemische Verbindung hergestellt, die er mit nach Hause nahm, damit sie niemand stehlen konnte. Dort goss er sie in eine Dose, in der ursprünglich Fußbodenreiniger gewesen war, und stellte sie kurz auf dem Küchentisch ab. Die Putzfrau, die gerade dabei war, die Böden zu wischen, hielt besagte Flüssigkeit für ein Reinigungsmittel, goss ein wenig davon in den Putzeimer – und ihre Hand wurde plötzlich steif.

Doch bevor Fatih wegen dieser Erfindung zu Ruhm gelangen konnte, traf Scheich Ammar für ihn ein Arrangement mit der Obrigkeit. Scheich Ammar war weit und breit die einzige Anlaufstelle für alle, die ausgewiesen, auf die Fahndungsliste gesetzt oder zu hohen, möglicherweise bis zur Exekution reichenden Strafen verurteilt worden waren. Nachdem eine im Hinblick auf seine schwere Schuld angemessene Summe bezahlt hatte, war er rehabilitiert und sein Heimatland konnte in der Folge von seinem Wissen profitieren.

Fatih hatte zwei Söhne, die ich erst Jahre später, als der Familie wieder Ein- und Ausreise gestattet waren, im Haus meines Großvaters kennenlernte. Nachdem sie in Saudi-Arabien den Bachelor gemacht hatten, wollten die beiden Jungen ihr Studium an der Universität Aleppo fortsetzen. Sie sahen befremdlich aus mit ihrem langen, ungekämmten Haar und Gesichtern voller zum großen Teil entzündeter Pickel. Ihre Jeans hatten sie bis zur Brust hochgezogen, sodass sie über den Knöcheln endeten, damit sie, wie meine Großmutter sagte, rein blieben für das Gebet. Vom Leben der Nachbarn hielten sie sich fern. Meine Großmutter bestand jedoch darauf, sie zu allen Gelegenheiten, bei denen gemeinsam gegessen wurde, nämlich im Ramadan und an Festtagen, einzuladen, schließlich waren sie die Enkel ihrer Schwester und noch dazu fremd in der Stadt. Wenn sie dann ins Haus kamen, versteckte ich mich immer oder verließ die Wohnung, denn meine Großmutter meinte, sie sähen Frauen ohne Kopftuch nicht gerne und wollten auch nicht mit Frauen zusammensitzen. Jahre später, im Dezember 2009, lief auf CNN ein Video über ein Trainingslager für al-Qaida-Mitglieder im Jemen. Die Kamera zeigte eine Rundumsicht, war aber auf unendlich eingestellt, sodass ich die Aknenarben im Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte, der irgendwo in der Wüste hinter einem Felsen stand und schreiend befahl, die Kalaschnikows abzufeuern. Doch es war ganz bestimmt der jüngere von Fatihs Söhnen, da war kein Irrtum möglich. Er gemahnte mich an all die Überzeugungen über das Leben, die ich nicht teilte. Jedes Mal, wenn ich ihn zufällig unterwegs, in der Universität oder gar bei einem Verwandten meiner Großmutter getroffen hatte, hatte er mich streng und vorwurfsvoll angesehen, sodass ich mich stets gedrängt gefühlt hatte, mein Pflichtbewusstsein gegenüber Gott, der Religion, der Familie und meiner Weiblichkeit unter Beweis zu stellen – die Liste endete eigentlich nie.

Als Nana Umm Baschar starb, wussten wir nicht, auf wessen Seite sie war, auf Fatihs oder Baschars. Sie hatte um beide geweint, für beide gebetet und einen korrekten Lebenswandel, Erfolg und den Sieg über ihre Feinde für sie erfleht. Zur Zeit meines Studiums, als ich bei meiner Großmutter in Aleppo lebte, bemerkte Nana Umm Baschar die vielen großen Nachschlagwerke auf meinem Schreibtisch und wollte wissen, was dort eigentlich drinstehe. Also las ich ihr zum Spaß eine Seite vor, auf der es um Sexualität ging und lauter verbotene Wörter vorkamen. Sie war zunächst erstaunt, lachte dann aber laut auf und rief:

»Oh Gott, oh Gott, zeig mal her, steht das wirklich da? Sowas studiert ihr? Und das soll Kultur sein? Muss gute Literatur pornografisch sein?«

Danach kam sie öfter und fragte mich, ob ich ihr Seite 59 des Buches »Gipfel der Genüsse bei der Schilderung der Weine« in der Ausgabe der Wissenschaftlichen Akademie in Damaskus aufschlagen könne, damit sie den Text mit eigenen Augen nachlesen und sich an ihren Neuentdeckungen ergötzen konnte. Manchmal trug sie schwer am Gewicht der Welt, weil sie von ihren beiden Söhnen getrennt war. Baschar hatte man wegen einer Korruptionsaffäre ins Gefängnis geworfen, und Fatih war wieder in Saudi-Arabien. »Spiel mir einen irakischen Mawwal vor!«, sagte sie dann. Ich schaltete den Kassettenrekorder an, und wir hörten Nazim al-Ghazali eine der Rumiyyat von Abu Firas al-Hamdani singen:

»Ich sagte, als neben mir eine Taube gurrte – o Nachbarin, fühlst du wie ich …«

Daraufhin senkte sie den Kopf, brach in Tränen aus und zitterte am ganzen Körper.

Ein paar Tage vor Nana Umm Baschars Tod wachte meine Großmutter morgens wütend auf. Sie sprach kein Wort und brachte mir nicht einmal eine Tasse Kaffee, wie sonst, ans Bett. Ich fragte sie, was los sei, aber sie schwieg. Als ich jedoch insistierte, weinte sie und sagte, sie habe geträumt, mein Großvater, der bereits seit zehn Jahren tot war, habe sie verlassen und ihre Schwester Umm Baschar geheiratet. Sie war sehr aufgebracht und regelrecht eifersüchtig. Als Nana Umm Baschar zum Kaffeetrinken kam, war der Zorn meiner Großmutter noch nicht verraucht, ihre Augen sprühten Funken. In der Nacht darauf erlitt Nana Umm Baschar einen Schlaganfall, und wenige Tage später starb sie. Großmutter vergoss, genau wie ich, viele Tränen. »Welch ein Glück«, meinte sie dann aber, »dass dein Opa sie geheiratet und mitgenommen hat und nicht mich!«

 

*

Als ich Aleppo verließ, hatte Nadjwan gerade ihren dritten Sohn bekommen. Sie war mit einem Ingenieur für Lebensmitteltechnologie verheiratet. Er war Teilhaber einer Konservenfabrik an der Straße nach Kafr Hamrah, die weiter bis zur Stadt Azaz an der türkischen Grenze führte. Im Januar 2012, nachdem die Angriffe der bewaffneten Gruppierungen auf das nördliche Umland von Aleppo sich zugespitzt hatten, wurde die Fabrik überfallen, in ihre Einzelteile zerlegt und in die Türkei transportiert, um dort zum Schrottpreis verkauft oder von sogenannten Fabrikpiraten wieder zusammengesetzt zu werden. Das gleiche Schicksal ereilte dutzende Fabriken, und wie einige Medien berichteten, arbeiteten manche Geschäftsleute aus Aleppo mit diesen Gruppierungen zusammen und forderten sie von sich aus auf, ihre Werke zu zerlegen, damit sie sie in der Türkei wiedereröffnen konnten. Nadjwans Mann allerdings verlor sämtliche Ersparnisse und begann 2014, mit einem Wagen vor dem Haus Hummus und Bohnensuppe zu verkaufen, die Nadjwan zubereitet hatte. Ich war immer gespannt Nadjwans politische Einschätzungen zu hören, denn sie überraschte mich oft mit unerwarteten Positionen. Seit meinem ersten Studienjahr war sie an meiner Seite. Vier Jahre zuvor war sie aus den Emiraten gekommen, hatte die Sekundarschule in Aleppo besucht und sich dann an der Universität eingeschrieben. Ihre Familie stammte ursprünglich vom Land. Bei den Vorfällen in den Achtzigern, genauer gesagt in ihrem achten Lebensjahr, war ihr Vater wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung festgenommen worden. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Leute in Zivil mit Pistolen in ihr Haus eingedrungen waren. Im Morgengrauen hatten sie ihren Vater, ohne dass er Widerstand geleistet hätte, vor den Augen seiner Frau, seiner Eltern und all ihrer Geschwister abgeführt. Danach hörte niemand mehr etwas von ihm. Fünf Jahre lang schaltete man alle möglichen Leute als Vermittler ein, ob sie ihn nun gekannt hatten oder nicht, bezahlte hohe Summen, und die Frauen gaben ihr Gold, nur um Gewissheit zu erlangen, ob er noch lebte. Dann erhielten sie die Nachricht, man habe ihn liquidiert. Sie kam von einem anderen Häftling, der ihn im Tadmur-Gefängnis getroffen hatte. Nadjwans Mutter heiratete daraufhin den ledigen Bruder ihres Mannes, der mit ihnen in ihrem Haus im Bezirk Bustan al-Qasr lebte. Die Familie mit den drei Kindern und der schönen, noch keine dreißig Jahre alten Mutter sollte schließlich eine Zukunft haben.

Nachdem der Großvater und die Großmutter bereits gestorben waren, hörte man es an einem Septemberabend im Jahr 1995 an die Tür klopfen. Nach fünfzehn Jahren war der Häftling aus dem Gefängnis zurückgekehrt und suchte nun im Hause seines Vaters nach seiner Frau und seinen Kindern. Es war eine harte Zeit, jeder von ihnen, einschließlich der beiden Kinder, die Nadjwans Mutter von ihrem Onkel bekommen hatte, litt schrecklich unter der Situation. Letztendlich jedoch entschieden sie sich alle dafür, bei ihrem Onkel zu bleiben. Sie reisten in die Emirate aus und ließen ihren Vater allein im Haus zurück, der es daraufhin in eine Koranschule umwandelte. Nadjwan war so mutig, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, zu überwinden, sie war gutherzig, fleißig und wissbegierig. Ihr Studium setzte sie bis zum Abschluss fort und ließ sich auch von ihrem Kopftuch nie davon abhalten, sich unter ihre Kommilitonen und Professoren zu mischen, zu reisen oder zu feiern. Genauso wenig stand ihre Vergangenheit ihrer Zukunft im Weg. »Als ich in meinen Erinnerungen keine Ordnung schaffen konnte«, sagte sie einmal zu mir, »habe ich es einfach seinlassen. Genau wie man es sich verkneift, ein schmutziges Zimmer aufzuräumen, wo Chaos herrscht und Reisekoffer herumliegen, sodass man gar nicht mehr weiß, wo man anfangen soll. Da geht man dann lieber hinaus, schlägt die Tür hinter sich zu und verschwindet.«

*

Nasser führte mich zurück in lieb gewonnene Regionen meiner Erinnerung, die ich irgendwann verlassen hatte und von denen ich nie gedacht hätte, dass sie noch da waren. Er versetzte mich in eine Zeit zurück, in der mir die Zukunft nicht schnell genug kommen konnte. Jetzt, da sie da war, reiste ich zurück in die Vergangenheit, und Nasser gab den Anstoß dazu.

Er musste einer der gutaussehenden jungen Männer in weißen Shorts und bunten Hemden gewesen sein, die in der Villa der al-Haffar gewohnt hatten. Dieses Haus, mit dem warmen Licht der Kristallleuchter an den hohen Decken hatte ich sehr gemocht. Ich liebte die Gemälde, die sich ordentlich an die Wand reihten, die von der Straße aus sichtbar war. Was ich jedoch am meisten liebte, war der große Chinarindenbaum, dessen Zweige sich bis zu den Fenstern im zweiten Stock reckten, um die Hausbewohner vor den Augen der Neugierigen zu verbergen. An brütend heißen Julitagen, wenn ich von einem ausgedehnten Spaziergang durch den Souk von Azizieh oder von den Hügeln heimkehrte, kaufte ich mir bei Kan ya ma kan ein Glas Tamarindensaft und genoss seinen süßsauren Geschmack im Schatten unter diesem Baum.

Frau Schahira war in Damaskus aufgewachsen, hatte an der Philosophischen Fakultät Arabisch studiert und Herrn Adham al-Amiri geheiratet, den Sohn eines Freundes der Familie, der im Palästina unter dem britischen Mandat ein bedeutender Ökonom gewesen war. Aus Haifa waren sie später nach Amman gezogen. Er war an der Gründung der Arabischen Bank beteiligt gewesen und hatte ihre wirtschaftliche Strategie mitentworfen. Nassers Vater Adham hatte nach seinem Studienabschluss an der École Polytechnique in Paris die Arbeit seines Vaters im Kollektiv der Bank fortgesetzt. Dann starb er mit Mitte fünfzig an einem Herzinfarkt. Nach seinem Tod kam Schahira oft nach Aleppo, denn sie hatte ihren Geschwistern deren Anteile an der Villa ihres Vaters abgekauft. Und wenn Nassers Schule, das Islamic Educational College in Amman, Ferien hatte, begleitete er sie.

Zum letzten Mal hatte er Aleppo vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen von 1982 zwischen der Baath-Regierung und den Muslimbrüdern besucht, die Aleppo, die Hochburg der Sunniten, als ihre Heimstätte ansah. Danach war Nasser nach Amerika aufgebrochen. Seine Mutter war ihm gefolgt, kehrte nach seiner Heirat aber zurück, um den Rest ihres Lebens in Amman zu verbringen.

Stundenlang unterhielten wir uns und beschworen den Geist der Vergangenheit herauf, den Duft nach Jasmin, Geißblatt, Jujuben und die von Küchendünsten aus den alten Häusern um den Bagdad-Bahnhof geschwängerte Luft. Gemeinsame Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig gemeinsame Gefühle bedeuten, doch Nasser teilte einen sehr wichtigen Schatz mit mir: Aleppo, meine halbe Erinnerung, die zweite Hälfte meiner Identität.

Der Mädchenpalast

Am Morgen des 28. August 1963 strömten die Menschen in der amerikanischen Hauptstadt scharenweise auf die National Mall und versammelten sich vor dem Lincoln Memorial. Diese Vorkämpfer für die Bürgerrechte waren gekommen, um dem gutaussehenden jungen Schwarzen zu lauschen, dessen Augen die Leiden der Propheten widerspiegelten. Es handelte sich um Martin Luther King. In schwarzem Smoking und schneeweißem Hemd hielt er eine Rede vor 250000 Männern, Frauen und Kindern, um mit seiner mitreißenden Rhetorik die Geschichte des mächtigsten Staates der modernen Welt auf neue Bahnen zu führen:

Ich habe einen Traum, dass sich diese Nation eines Tages erheben wird

und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird:

»Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich:

dass alle Menschen gleich erschaffen sind.»

Drei Mikrofone reichten an jenem strahlenden Morgen aus, um alle Welt für viele Jahre mit einem Mut bekannt zu machen, der eng mit einer Utopie verbunden war. Die Sykomoren und Kirschbäume warfen ein Echo der Rede zurück, und man sah ihre Wirkung an den Tränen der Männer und Frauen, die in den Teich gegenüber der Kongresskuppel flossen:

Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia

die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter

miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

Mitten im Gedränge stand ein junger braunhäutiger Syrer mit schwarzem Haar und großen, lebhaften schwarzen Augen. Seinen sportlichen Körper aufgerichtet und angespannt, hörte er voller Begeisterung und in dem Bewusstsein zu, einen historischen Augenblick zu erleben. Es handelte sich um Suhail Badran, der später mein Vater wurde, einen Studenten der Universität Boston, die auch Martin Luther King besucht hatte. Nachdem er sein Vorbereitungsjahr mit Bravour beendet hatte, hatte er sich gerade für das erste Semester seines Architekturstudiums eingeschrieben.

Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht

und jeder Hügel und Berg niedriger werden.

Die unebenen Plätze werden flach

und die gewundenen Plätze gerade,

und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

und alles Fleisch miteinander wird es sehen.

Mein Großvater väterlicherseits war ein Großgrundbesitzer im Euphrattal gewesen. Auf seinen weitläufigen Ländereien arbeiteten Dutzende von Bauern, die mit ihren Familien im Umkreis wohnten. Mit der Zeit dehnte er den Verkauf seiner reichen Ernten aus auf den Handel mit Landwirtschaftsbedarf wie Sämereien, Werkzeugen und Geräten, und Gottes Land gedieh in seinen Händen. Obwohl ein Feudalherr, hatte mein Großvater mit den Fürsten im zaristischen Russland oder den südamerikanischen Sklavenhaltern nichts gemein, nicht einmal mit den Grundherren in Aleppo oder Latakia, die ihre Bauern auspeitschten, sie für nicht mehr als ihr tägliches Brot und ihre Unterkunft schuften ließen, ihre Töchter entjungferten und sie in Schulden trieben, um sich ihrer Ländereien bemächtigen zu können.

Al-Hadsch Ali Badran war ein Lehnsherr nach lokalem Brauch, nicht nach der sozialistischen Theorie. Er hatte das Land auch nicht von seinen Vorfahren geerbt, denn sie waren Lehrer und Richter für die verschiedenen Stämme der Region gewesen. Er selbst hatte unter dem osmanischen Staat als Dolmetscher für Persisch und Türkisch gearbeitet und auf diese Weise Geld angespart, mit dem er, wie viele andere, mehrere Grundstücke am Euphrat kaufte. Land war dort damals leicht erhältlich, denn es lebten wenige Menschen auf den verfügbaren Flächen und ihnen war nicht klar, wozu sie einen Besitz jenseits der eigenen Grundbedürfnisse nutzen könnten.

Der Grundstock für das Familienvermögen war von der Seite meiner Großmutter gekommen, die Ländereien und Gold-Lira ihres Vaters geerbt hatte und ihren Mann drängte, etwas daraus zu machen. Er wiederum brachte ein risikofreudiges Wesen mit, das ihn bei den ersten erfolgreichen Abenteuern mit ihrem Geld unterstützte.

Zwischen 1915 und 1965 stürzte sich al-Hadsch Ali auf zahlreiche weitgreifende Neuerungen. Er baute die erste Getreidemühle der Gegend, um den Bedarf der Bevölkerung an Mehl und Grütze zu decken, und wandelte sie später in eine industrielle Mühle um. Als sich immer mehr Menschen in Raqqa und Umgebung niederließen, baute er einen Töpferofen zum Brennen von Tonwaren, und später für Ziegel zum Bauen.

Zu jener Zeit wurden in der Folge zweier Weltkriege die Landkarten ständig neu gezeichnet, und Syrien lag genau im Auge des Sturms. Das führte dazu, dass man sich zunächst gegen die Osmanen auflehnte und für Unabhängigkeit eintrat, und anschließend auch die französischen Kolonialherren bekämpfte. Die meisten Landkartengestalter entstammten feudalen Familien und bildeten die herrschende aristokratische Schicht. Wegen des sozialen Ungleichgewichts stand sie in der Geschichte der Kämpfe in Syrien unter ständiger Kritik. Auch al-Hadsch Ali Badran war einer von diesen Männern, gleichzeitig repräsentierte er in Raqqa und Umgebung den Nationalen Block.

Schon vor diesen heftigen politischen Geburtswehen, nämlich im Jahr 1920, hatte meine Großmutter meinen Onkel Yusuf geboren. Er wurde kurz nach der Schlacht von Maysalun geboren, in der Yusuf al-Azmah, Kriegsminister in der Regierung Faisals I., gefallen war. Nach diesem Yusuf wurde mein Onkel benannt, und das sollte sich auf sein Schicksal auswirken, denn mehr als vierzig Jahre später wurde er Minister der Regierung der Arabischen Republik Syrien, die nach der Abspaltung von der Vereinigten Arabischen Republik auf die syrisch-ägyptische Einheitsregierung folgte.

Nach Onkel Yusuf bekam meine Großmutter nur noch meine Tante Laila, denn nachdem mein Großvater zwei weitere Frauen geheiratet hatte, die ihm fünf Jungen und vier Mädchen gebaren, verweigerte sie sich ihm.

 

Erst im Jahr 1936 wohnte mein Großvater meiner Großmutter nach mehr als zehn Jahren Trennung wieder bei, und sie wurde mit meinem Vater schwanger, und zwar als die französische Artillerie mit noch nie dagewesenem Brutalität Raqqa in Trümmer legte und die Familie für zehn Tage in einen Unterschlupf an der Straße nach Deir al-Zor zog, der sonst als Speicher für Butterschmalz, Olivenöl und Dörrfrüchte diente.

Ende des Zweiten Weltkriegs beendete mein Onkel Yusuf in Damaskus ein Medizinstudium, während seine Halbbrüder auf den ausgedehnten Ländereien ihres Vaters arbeiteten. Meine Großmutter saß in ihrem Zimmer, das auf ihren prächtigen Garten mit Granatapfel- und Quittenbäumen hinausging, vor sich die Blechkanne mit bitterem Kaffee auf einem kupfernen Kohlebecken. Mit der Hand, auf die eine blaue Ähre tätowiert war, drehte sie am Senderwahlknopf des Cambridge-Radios in seinem Holzgehäuse und wartete auf die Nachrichten. Dort würde man später berichten, dass ihr Ältester, Gesundheitsminister Doktor Yusuf Badran, es möglich gemacht habe, eine erste Ladung Polioimpfstoff nach Syrien zu holen, und die Menge würde ausreichen, um zehntausend Kinder in der Ostprovinz zu impfen. Es handelte sich um die Vakzine, die der amerikanische Wissenschaftler Jonas Salk im Jahre 1955 der Öffentlichkeit präsentiert und der Menschheit zur Verfügung gestellt hatte. In der gleichen Nachrichtensendung hörte meine Großmutter den ägyptischen Sprecher der arabischen Abteilung des BBC, Hassan Abu al-Ala, verkünden: »Amerika wird die Herrin der Welt sein und Europa die Sklavin zu ihren Füßen.« Von da an bestand meine Großmutter darauf, Suhail solle in Amerika, und nur in Amerika, studieren.

Suhail Badran, mein Vater, reiste mit den Füßen eines Elefanten, den Flügeln eines Adlers und dem Herzen eines Tigers nach Washington. Denn einerseits verfügte er über ein umfangreiches und altehrwürdiges Erbe sowie den starken Wunsch, erfolgreich zu sein und aufzusteigen, daneben jedoch auch über starke und glühende Leidenschaften. Meine Mutter, die heimlich sein Tagebuch gelesen hatte, sagte einmal: »Er ist ein wahrer Bulldozer an Liebe und Verlangen. Jedes Mal, wenn er einer Schönheit begegnet war, sagte er: ›Ich habe die Liebe meines Lebens gefunden‹!«

Er schloss sein Studium mit zwei Magisterurkunden ab: eine von der Boston University im Fach Restaurierung antiker Städte und eine weitere von der University of California in Stadtplanung. Danach arbeitete er an den Tennessee Valley Projects im Süden des Landes und wurde Zeuge, wie die USA durch den Bau von etwa dreißig Staudämmen das Aussehen der Region nachhaltig veränderten und wie sich Amerika seiner Vorherrschaft in der Welt weiter näherte. Es entstand das größte Wasserkraftwerk der Welt mit einer Leistung von sechzig Millionen Megawatt jährlich. Der bedeutendste Wandel aber, und hier lag das eigentliche Interesse des Ingenieurs Suhail Badran, vollzog sich in den Randregionen rings um die Hauptprojekte, die durch gezielte Entwicklungsplanung neu belebt wurden. Sie boten Menschen einen Wohnort mit Häusern, Schulen, Kliniken, Parks, Klubs, touristischen Anlagen und Kulturzentren, was wiederum zusätzliches Kapital für die weitere Entwicklung anlockte. Ingenieur Suhail war nicht mehr der idealistische Zwanzigjährige, der davon träumte, Unmögliches möglich zu machen. Und in dem Augenblick, in dem meine Existenz ihre ersten Strahlen aussandte, wie er zu sagen pflegte, beziehungsweise im Moment einer historischen Fehlentscheidung, wie meine Schwester Salma beharrlich schimpfte, beschloss er, aus dieser stolzen Welt jenseits des Ozeans in seine Heimatstadt Raqqa – verloren zwischen Feldern und Wüste – zurückzukehren, die ihm jede Karrieremöglichkeit offenhielt. Mein Vater war überzeugt, dass die Geheimnisse immer in den besonders kleinen Dingen liegen, aus denen sich dann die großen ergeben. Eine vollkommene Form, wie der Kreis, sei tot, in ihr sei kein Platz für ein verstecktes Potenzial.

Damals hatte er gerade die Erinnerungen Ralph Waldo Emersons gelesen, des Mannes, der mit seiner unbezähmbaren Fantasie und seinen selbstentrückten Visionen das geistige Dokument des amerikanischen Traums verfasst hatte. Emerson war im 19. Jahrhundert nach Europa gereist, um die Herrlichkeit der Alten Welt zu erleben. Doch er musste feststellen, dass diese nun, nachdem sie intellektuelle, wissenschaftliche und philosophische Vollkommenheit erreicht hatte, im Sterben lag. Er erkannte die latente Kraft Amerikas, das bereit war in der Stunde null zu explodieren, und so kehrte er eilig dorthin zurück, um von der freien Welt zu berichten. Die USA waren für Suhail Badran auf dem Weg, ihr Versprechen zu erfüllen, während Syrien seinerseits die Stunde null erlebte, woran er große Hoffnungen knüpfte. Raqqa und die Städte des Euphrattals würden jetzt zu neuen Horizonten aufbrechen, wie vorher die Städte des Tennessee-Tals. Die in Syrien im Rahmen der Troika-Bewegung der 70er Jahre vorherrschende politische Atmosphäre stand im Zeichen des Kampfes gegen die Feudalfamilien – Familie Badran eingeschlossen. Sie wurden zwar von der Baath-Partei als reaktionär angesehen, doch Suhail glaubte, dass dies nicht den Bau von Häusern verhindern dürfte, und dass vor allem das Licht der Liebe nötig war, um den Randgruppen der Gesellschaft zu helfen.

*

Ingenieur Suhail stürzte sich in die Projekte am oberen und mittleren Euphrat. Etwa vierzig Kilometer westlich der Stadt al-Tabqa wurde der Euphrat-Staudamm gebaut. Dieser Traum sollte noch das entlegenste Dorf Syriens mit elektrischem Licht und allen seinen Vorzügen versorgen. Es sollte Schulen, Krankenhäuser, Parks, Open-Air-Kinos und Sportklubs geben, und in der syrischen Dschazira würde man tausende Hektar Brachland urbar machen. Suhail überwand alle Hindernisse: bürokratische Vorschriften, Protektionismus und auch die Baath-Funktionäre in den Behörden in Damaskus, die aus der Ferne operierten und die weder von den Einheimischen noch von den lokalen Gegebenheiten eine Vorstellung hatten, aber über Millionen von Dollar bestimmten. Entscheidend dabei war, dass Suhail die Gegend und die dort lebenden Menschen, bestens kannte. Er war mit den Böden und dem Wasser ebenso wie mit den Freuden und Sorgen der Bewohner vertraut. Zum großen Teil handelte es sich nämlich um Ländereien, die die Revolution dem Besitz meines Großvaters entzogen hatte.

Für die meisten Grundbesitzer kam die Verstaatlichung einem Todesstoß gleich. Ihre Ländereien wurden zerstückelt und dem Staat übergeben, der sie gemäß der Devise »Der Boden gehört dem, der ihn pflügt«, an die Bauern verteilte. Zu Hause überschüttete meine Tante Laila den Autor dieses Mottos mit Verwünschungen, weil er ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Erst habe er das Vermögen ihres Vaters eingezogen, sagte sie, um es dann an ein paar Bauern zu verteilen und sie mit ihr gleich zu stellen. Diese hatten ihr immer Butterschmalz und Honig fürs Frühstück gebracht und auf dem Balkon des Sommerhauses mitten in den Feldern am Euphrat serviert, bevor sie sie in ihrem Messingbett aufgeweckt und die Mückenschwärme verjagt hatten.

Im Jahr 1963 starb mein Großvater an der Verstaatlichung. Er erlitt einen Herzanfall, als er sah, wie seine Träume, Ideen und sein Schweiß ins Eigentum anderer übergingen, wobei man sich auf frühere Äußerungen Gamal Abd al-Nassers berief, der sich auf den Rücken von ein paar Hundert Grundbesitzern zum Ritter aufschwingen wollte. Das Revolutionsregime in Syrien folgte Nassers Beispiel: Von denen nehmen, die denken und arbeiten, um jenen zu geben, die sich, wie es Onkel Ibrahim der Landverwalter formulierte, in der Erntezeit über Frauen auf dem Feld herfielen und anschließend im Wasser des Flusses badeten.