Schweizerische Demokratie

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3. Der Jura – die Ausnahme der Integration einer kulturellen Minderheit

Der Jura stellt einen wichtigen Fall der jüngeren Geschichte dar, bei dem die politische Integration misslang. Der nördliche Jura fühlte sich als ethnische, sprachliche, religiöse und wirtschaftliche Minderheit des Kantons Bern benachteiligt. Die Region verlangte in einem über vierzigjährigen politischen Kampf, der von zivilem Ungehorsam und Gewalt gekennzeichnet war, die Trennung vom alten Kanton und politische Autonomie. Die Sezessionsbewegung hatte Erfolg: 1978 wurde der Jura zum eigenen Kanton.

Angesichts der Häufigkeit von ungelösten ethnischen, Sprachen- und Religionskonflikten in vielen Staaten erscheint es erstaunlich, dass die Schweiz bei der Integration ihrer sprachlich-kulturellen Minderheiten übers Ganze gesehen erfolgreich war. Man kann sich aber auch fragen, warum diese Integration in dem einen Ausnahmefall des Juras nicht gelang. Oberflächliche Erklärungen reichen nicht weit: Es gibt schliesslich keine Hinweise dafür, dass Schweizer von Natur aus friedfertiger wären als Nichtschweizer, oder der Jura weniger als die übrige Schweiz. Während die Geschichtswissenschaft eher die Besonderheiten einzelner Integrationsprozesse aufzeigt, glaubt die vergleichende Politikwissenschaft an die Möglichkeit, bestimmte Regelmässigkeiten für deren Gelingen oder Scheitern aufzeigen zu können.

Zu den wichtigen Faktoren für das Gelingen oder Misslingen sprachlich-kultureller Integrationsprozesse zählt z. B. Steiner (1998:268 ff.):

Aussenpolitischer Druck: Druck von aussen auf die staatliche Unabhängigkeit begünstigt die innergesellschaftliche Integration – allerdings nur dann, wenn Drittmächte nicht ein Direktinteresse mit einer der Minderheiten verfolgen. Ist die staatliche Unabhängigkeit nicht gefährdet, so kann innergesellschaftlicher Konflikt eher zur Desintegration führen.

Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der kulturellen, sozialen und ökonomischen Konfliktlinien: Fühlt sich eine kulturelle Minderheit nicht nur sprachlich-kulturell benachteiligt, sondern auch religiös und wirtschaftlich, so sind das wegen des Zusammenfallens mehrerer Konfliktlinien ungünstige Bedingungen für die Integration. Nicht übereinstimmende Konfliktlinien dagegen erleichtern die Integration, denn sie verhindern die gegenseitige Verstärkung von sprachlichen, religiösen und wirtschaftlichen Konflikten.

Mehrheitspolitik oder Machtteilung: Mehrheitspolitik ist eine ungünstige Voraussetzung für die Integration religiös-kultureller Minderheiten, während die Beteiligung dieser Minderheiten an der staatlich-politischen Macht (z. B. mittels Proporz) ihre Integration begünstigt.

Diese Hypothesen Steiners scheinen recht gut geeignet, sowohl die Regel wie auch die Ausnahme des Erfolgs schweizerischer Integrationsbemühungen zu erklären.

Für die gesamtschweizerische Integration lagen insgesamt günstige Bedingungen vor.13 Als unmittelbarer Nachbar von kriegführenden Mächten war die nationale Unabhängigkeit der Schweiz bis 1945 unsicher; unter diesem Druck war das Gemeinsame wichtiger als das Trennende. Ein glücklicher Umstand war dabei, dass keiner der Nachbarn daran interessiert war, die innerschweizerischen Minderheitsprobleme für sich auszunützen. Dann stimmten, wie bereits angedeutet, die geografischen Grenzen der religiösen, sprachlichen und sozioökonomischen Segmentierung nicht überein. Unter den Romands finden wir protestantische Kantone wie die Waadt und Neuenburg oder katholische wie das Wallis. Reiche und arme Kantone gibt es in beiden Sprachgebieten. Ein kumulativer Konflikt – z. B. der armen, katholischen Romands gegen die reichen, protestantischen Deutschschweizer – konnte sich deshalb nie entwickeln. Vielmehr bilden sich in der Politik Mehrheiten aus unterschiedlichen Koalitionen, die für jedes Problem anders zusammengesetzt sind. Jede Gruppe macht die Erfahrung, in bestimmten Situationen in der Minderheit zu verbleiben. Das fördert neben den institutionellen Einrichtungen des Föderalismus und der proportionalen Machtteilung eine Kultur politischer Rücksichtnahme und Nichtdiskriminierung.

Waren damit die theoretischen Voraussetzungen für den schweizerischen Integrationsprozess allesamt günstig, so galt dies gerade nicht für den heutigen Kanton Jura. Sein Gebiet repräsentierte eine katholische, Französisch sprechende Minderheit im protestantischen, deutschsprachigen Kanton Bern. Wie bereits erwähnt, ist die Gleichberechtigung der Sprachen und ihr Schutz durch den Föderalismus nur im gesamtschweizerischen Verhältnis gewährleistet. Zwar praktizierte der Kanton Bern kein Assimilationsmodell, sondern anerkannte die Minderheitssprache und räumte dem jurassischen Teil in späterer Zeit auch politische Teilhaberechte ein. Aber wie kaum in einem anderen Gebiet fielen hier konfliktträchtige Segmentierungen zusammen: Der Jura war nicht bloss Französisch sprechend, er war auch katholisch und ein Armutsgebiet an der Peripherie des Kantons. Diese zusammentreffenden Konfliktlinien führten zur ständigen Kumulation von Konflikten unter gleichen Koalitionen, in denen sich der jurassische Kantonsteil benachteiligt fühlen musste. Schliesslich geht der Jurakonflikt auf historische Wurzeln zurück, die weit ins 19. Jahrhundert und früher zurückreichen. Bezeichnenderweise artikulierte er sich als starke Sezessionsbewegung aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Unabhängigkeit der Schweiz von aussen nicht mehr bedroht war und staatliche (Wohlfahrts-)Leistungen wichtiger wurden. Die theoretischen Voraussetzungen der Integration waren also allesamt ungünstig. Die Hypothesen Steiners scheinen demnach recht gut zu erklären, warum der schweizerische Integrationsprozess insgesamt erfolgreich war – aber auch in einem Ausnahmefall misslang.

Der Jura ist noch in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert: Er ist einer der seltenen Fälle, in denen sich auch in der Schweiz eine Ethnisierung der Politik entwickelte. Ein kleiner Teil der jurassischen Separatistenbewegung berief sich nämlich auf die andersartige Ethnie des jurassischen Volkes – in krassem Widerspruch zur «nicht völkischen» Verfassungstradition der Schweiz. Und der Jura, den wir hier als Einheit behandelt haben, war in sich selbst gespalten: Sein südlicher Teil war wirtschaftlich stärker, mehrheitlich protestantisch und somit auch kulturell stärker nach Süden (Bern) als Norden (Frankreich) ausgerichtet. Wie die schweizerische Politik mit diesen Problemen umging und bis heute umgeht, wird in Kapitel 7 (Föderalismus) ausführlich behandelt.

D. Kapital und Arbeit: Vom Klassenkampf zu Sozialpartnerschaft und Konkordanz

Der sozioökonomische Gegensatz zwischen Kapitaleigentümern und Arbeiterschaft bildet die dritte historische Konfliktlinie in der schweizerischen Gesellschaft. Der Grundkonflikt liegt in der Produktion von gesellschaftlicher Ungleichheit als Kehrseite des wirtschaftlichen Wettbewerbs sowie im Interessengegensatz um Lohn und Arbeitsbedingungen. Dieser Konflikt prägt den Industrialisierungsprozess und die Gesellschaft aller liberalen Demokratien. Auf politischer Ebene hat er als «soziale Frage» in den westeuropäischen Ländern zu einem rechten bürgerlichen und zu einem linken nicht bürgerlichen Lager geführt. Allerdings unterscheidet sich die schweizerische Lösung dieses gesellschaftlichen Konflikts von jener der meisten anderen Länder Europas: Es gab nie einen Machtwechsel zwischen bürgerlichen und nicht bürgerlichen Regierungen wie in vielen Mehrheitsdemokratien, sondern zunächst eine lange Periode des Ausschlusses der politischen Linken aus dem bürgerlichen Staat. Erst spät – nach dem Zweiten Weltkrieg – wurde auch die wirtschaftlich-soziale Spaltung der Schweiz auf demselben Weg wie die kulturell-sprachlichen Spaltungen gelöst: durch politische Integration. Im Unterschied zu den konfessionellen und sprachlichen Spaltungen gab es im wirtschaftlich-sozialen Konflikt allerdings kaum14 räumliche Segmentierungen – weshalb z. B. der Föderalismus nichts zu seiner Lösung beitragen konnte. Industrialisierung und Leistungsgesellschaft führten jedoch zu neuen sozialen Schichten, die sich hinsichtlich Beruf, Einkommen, Bildung und anderer Statusmerkmale unterscheiden. Von grösserer Bedeutung ist daher die Art und Weise, wie sich diese Schichten sowie die beiden Seiten von Kapital und Arbeit organisierten. Weiter unterscheidet sich der wirtschaftlich-soziale von den konfessionellen und sprachlichen Konflikten dadurch, dass er sich sehr viel stärker mit der wirtschaftlichen Dynamik selbst verändert. Somit ist dieser Konflikt auch volatiler als die eher längerfristig ausgerichteten kulturellen Gegensätze. Seine Entwicklung wird im Folgenden kurz nachgezeichnet.

1. Arbeiterklasse ohne Heimat

Die frühe schweizerische Industrialisierung entlang den Flüssen und ihrer nutzbaren Wasserkraft verlief dezentral. Dies verhinderte die plötzliche Entstehung eines Massenproletariats in den Städten, führte aber wie in anderen kapitalistischen Ländern zu sozialen Spannungen und zur Verarmung einer unterbezahlten, neuen Schicht der Fabrikarbeiter. Die Demokratie verhinderte weder die wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeiter noch unmenschliche Arbeitsbedingungen. Der St. Galler Freisinnige Friedrich Bernet meinte dazu: «Die Verfassung von 1848 hat grosse Gewalt, finanzielle und politische, in die Hände weniger gelegt …, aber nur, um die Grossen noch grösser zu machen», während die «bäuerlichen, handwerklichen und Arbeiterschichten in ein gleichförmiges Proletariat absinken.»15

Zu dieser Zeit existierten weder eine sozialistische Partei noch eine starke Gewerkschaft. Es war ein Flügel des Freisinns, von Gruner (1964:40) als «Staatssozialisten» bezeichnet, welche die Interessen der Arbeiterschichten verteidigten. Sie waren besorgt über die wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten, die in ihren Augen einer modernen Demokratie unwürdig waren. Sie initiierten die ersten Arbeitsschutzbestimmungen und das Verbot der Kinderarbeit. Diese Politik stand in krassem Gegensatz zum Flügel der «Manchester-Liberalen», die jeglichen Eingriff des Staates in den freien Markt unterbinden wollten.

 

Diese Auseinandersetzung um die Rolle des Staates bekam schnell eine Wende, die von der Sozialpolitik weg auf die unterschiedlichen Interessen im Unternehmerlager selbst führte. Die exportorientierten Industrieunternehmen forderten Freihandel und wirtschaftspolitische Abstinenz des Staates, das binnenorientierte Gewerbe und die Landwirtschaft dagegen Schutzzölle vor ausländischer Konkurrenz und die Freiheit zur Begrenzung des einheimischen Wettbewerbs. Pragmatisch wurde gegen aussen Freihandel für die Exportwirtschaft und im Innern Schutzpolitik für Bauernschaft und Gewerbe betrieben. Diese Mischung zwischen Liberalismus und Staatsinterventionismus des Unternehmertums blieb kennzeichnend bis in die jüngste Zeit. Sie bildete die Basis für eine wirtschaftspolitische Interessengemeinschaft, die später das bürgerliche Lager von FDP, CVP und SVP zusammenhielt. Im Übrigen stützte sich der Staatsinterventionismus von allem Anfang an auf die Selbstorganisation der Unternehmerschaft. Gewerbe, Handel, Industrie und Landwirtschaft hatten sich früh auf Bundesebene zu starken Verbänden organisiert, die den politischen Parteien und dem Parlament in der Wirtschaftspolitik schon um die Jahrhundertwende das Heft aus der Hand nahmen. Sie prägten die Gesetzgebung und wirkten mit im Vollzug.16 Mit diesem verbandsstaatlichen Muster waren sie in der Lage, ihre Interessen zum Ausgleich zu bringen und den Staat punktuell für ihre Anliegen einzuspannen.

Anders die Lage der Arbeiterschaft. Zwar hatte sie ein gemeinsames Anliegen: die Verbesserung ihrer wirtschaftlich-sozialen Lage. Die Organisation der Arbeiterschaft stiess zu Beginn allerdings auf Schwierigkeiten, zumal in ländlichen Verhältnissen, wo der Paternalismus die Auswirkungen sozialer Ungleichheit linderte, gleichzeitig aber die eigene Identitätsbildung und Organisation der Arbeiter zu behindern vermochte. Immerhin, nach ihrer Gründung 1888 konnte die Sozialdemokratische Partei (SP) ansehnliche Erfolge verzeichnen. 1894 lancierte sie eine der ersten Volksinitiativen: ein Begehren um «Recht auf Arbeit», das vierzig Jahre vor Keynes ein wirtschaftspolitisches Programm zur Ankurbelung der privaten Nachfrage forderte. Aber die Hoffnungen, mittels der direkten Demokratie soziale Reformen zu erreichen, verflüchtigten sich schnell. In der Volksabstimmung wurde die Vorlage in einem Verhältnis von 4:1 verworfen.

In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verschlechterte sich die Lage der Arbeiterschaft. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stellen Historiker das Entstehen einer konservativen, nationalistischen, oft auch reaktionären und antidemokratischen Rechten fest, die mit einem «Klassenkampf von oben» zur Radikalisierung der Sozialdemokratie beitrug.17 Politisch marginalisiert durch das Zusammenspannen der bürgerlichen Kräfte, konnten Sozialdemokraten und Gewerkschaften nicht verhindern, dass die Arbeiterschaft den grössten Teil der Last der wirtschaftlichen Rückschläge während und nach dem Ersten Weltkrieg tragen musste. Daran änderte auch der landesweite Generalstreik von 1918 nichts: Auf ein Truppenaufgebot und ein Ultimatum des Bundesrats hin kapitulierte das Oltener Aktionskomitee. Es erreichte zwar den Achtstundentag, ging aber in seinen übrigen Forderungen leer aus.

In der Folge kam es zur verstärkten Spaltung der schweizerischen Arbeiterbewegung. Während katholische Teile der Arbeiterschaft schon längst in der christlich-sozialen Bewegung mitgingen und sich damit politisch eher ins bürgerliche Lager eingliederten, trennte sich der linke Flügel der SP von der Mutterpartei und schloss sich 1921 mit den Altkommunisten zur Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) zusammen. Die KPS sah sich als revolutionäre Partei und Teil der internationalen kommunistischen Bewegung. Sie zielte auf die Entmachtung der Bourgeoisie, sah in der bürgerlichen Demokratie ein blosses Instrument kapitalistischer Interessen und bekämpfte darum auch den Weg der «reformistischen» Sozialdemokratie. Sie setzte auf einen Klassenkampf, der die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionär umgestalten und die Arbeiterklasse an die politische und gesellschaftliche Macht bringen sollte. Neben häufigen Zwisten kam es indessen auch zu Zweckbündnissen mit den Sozialdemokraten. In Genf und Zürich sowie weiteren Städten konnten Sozialdemokraten und Kommunisten durch gegenseitige Unterstützung regierungsfähige Mehrheiten bilden. Auf Bundesebene erreichten die Kommunisten während der ganzen Zwischenkriegszeit allerdings nie die Stärke und Bedeutung der SP.18 Zunächst schwankend zwischen Integration und Klassenkampf, kamen die Sozialdemokraten ab den dreissiger Jahren auf ihre traditionelle Linie zurück: Ablehnung des Kapitalismus, Bejahung der Demokratie. Die SP verlangte darum proportionale Beteiligung in allen politischen Institutionen und setzte auf demokratische Reformen. Sie strebte eine Mischwirtschaft mit einem starken öffentlichen Sektor an, in welcher der Staat die sozialen Unterschiede ausgleichen sollte. Alles mit wenig Erfolg: Die Bürgerlichen verweigerten der SP trotz vergleichbarer Wahlstärke wie FDP oder CVP den Einsitz im Bundesrat. Das Wirtschafts- und Beschäftigungsprogramm der Sozialdemokraten von 193419 fand beim Volk keine Mehrheit. Stattdessen erliess die bürgerliche Regierung protektionistische Massnahmen zum Schutz von Gewerbe und Landwirtschaft. Sie waren wenig wirksam. Die Weltwirtschaftskrise brachte Massenarbeitslosigkeit, die 1936 mit 100 000 Stellensuchenden ihren Höhepunkt erreichte. Eine Sozialpolitik gab es kaum. Das soziale Klima war gespannt. Mehrere Streiks von aufgebrachten Arbeitern wurden mit militärischen Mitteln niedergeschlagen.

Während vier Jahrzehnten schwankend zwischen Klassenkampf und Hoffnung auf Integration,20 blieb der politischen Linken verwehrt, was Katholiken, Romands oder Bauern erreicht hatten: Einfluss im Bundesstaat,21 Teilhabe an der Regierung und Mitwirkung am politischen Kompromiss. Bis zum Zweiten Weltkrieg fand in der schweizerischen Demokratie eine Integration kultureller Minderheiten und die wirtschaftspolitische Beteiligung der Unternehmerschaft aller Wirtschaftszweige statt, aber weder die Integration der Arbeiterschaft in den Staat noch ihre Beteiligung am bürgerlichen Regime.

2. Sozialpartnerschaft und Konkordanz

Es waren äussere Bedrohungen, die schliesslich zur Integration von Gewerkschaften und Sozialdemokratie führten.

a. Zur politischen Integration der Linken

Unter dem Eindruck von Hitlers Diktatur und des Faschismus gab die SP ihre antimilitaristische Haltung auf und stimmte für die Kredite zur Modernisierung der Armee vor Kriegsausbruch. Das vordringliche Ziel der Bewahrung der Unabhängigkeit im Zweiten Weltkrieg liess innere Konflikte in den Hintergrund treten. 1943, als die militärische Bedrohung durch Hitlerdeutschland ihren Höhepunkt überschritten hatte, die Probleme wirtschaftlicher und politischer Isolation sich aber eher vergrösserten, wurde mit Ernst Nobs zum ersten Mal ein Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt. Die einigende Wirkung der Kriegsjahre hielt an; die Sozialdemokraten mässigten ihre Kapitalismuskritik und wurden als gemässigte Reformpartei ab 1959 auf Betreiben der CVP zum gleichberechtigten Regierungspartner. Die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Partei, die Partei der Arbeit (PdA), verlor dagegen mit ihrer fortgesetzten Klassenkampf-Politik ihren Anhang und wurde im Klima des Kalten Krieges politisch isoliert und diskriminiert. Das Wirtschaftswachstum machte die Zusammenarbeit zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokratie zusätzlich attraktiv. Es kam zur grossen Koalition von Freisinn, Christdemokraten, Volkspartei und Sozialdemokratie, in der die Bundesratssitze nach proportionaler Wahlstärke verteilt wurden (Zauberformel). Dies strahlte dann wiederum auf die Verfassungs- und Gesetzgebung aus. Ein breiter wirtschafts- und sozialpolitischer Kompromiss erlaubte den Ausbau des Wirtschafts- und Sozialstaats (siehe Kasten 2.4).

Damit entwickelte sich das, was in der Schweiz «Konkordanzdemokratie» genannt wird. Dieses Muster politischer Wirtschafts- und Sozialintegration war in den letzten sechzig Jahren zwar mehreren Krisenmomenten ausgesetzt. Es gab Phasen und Bereiche der Polarisierung, in der die Regierungsbeteiligung der SP umstritten war. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus bröckelte der sozialliberale Konsens. Nach ihren Wahlsiegen in den 1990er-Jahren liebäugelte die SVP mit einer rein bürgerlichen Regierung. Veränderte Wahlstärken führten im folgenden Jahrzehnt zum Parteienstreit über Sitzansprüche und personelle Besetzungen im Bundesrat. Nach acht Jahren der Untervertretung der grössten Partei, der SVP, rang sich die Bundesversammlung 2015 wieder zur Besetzung des Bundesrates nach den Regeln proportionaler Vertretung durch (Näheres siehe Kapitel 9 Die Regierung). Der Konkordanzzwang der Volksrechte, der die grossen Parteien zur Zusammenarbeit in der Regierung veranlasst, war stärker als die erhebliche politische Polarisierung und die parteipolitischen Umwälzungen.

Kasten 2.4: Der Schweizerische Wirtschafts- und Sozialstaat

In der Nachkriegszeit, vor allem seit den 1960er-Jahren, weiteten sich die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Staatstätigkeiten stark aus. Auf der einen Seite verstärkte der Bund sein Engagement im Ausbau der Infrastruktur für die Volkswirtschaft (Nationalstrassen und öffentlicher Verkehr, Kernenergie, Telekommunikation, Forschung und Hochschulen) und betrieb Wettbewerbs-, Regional- und Strukturpolitik. Der Staat unterstützte damit das Wachstum der privaten Produktion sowie die Modernisierung der Privatwirtschaft und hatte sich später mit der Umweltpolitik auch um die Beseitigung negativer Wachstumsfolgen zu kümmern. Auf der anderen Seite entbanden die staatlichen Sozialversicherungen die gesamte Bevölkerung vom individuellen Risiko der Krankheit, der Invalidität, des Alters oder der Arbeitslosigkeit. Der Ausbau des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens erhöhte die Lebenserwartung und verbesserte die Gesundheit sowie das Ausbildungsniveau und die Berufsfähigkeiten der Bevölkerung. Der Wirtschafts- und Sozialstaat erfüllt damit bedeutende Funktionen in der Entwicklung zur schweizerischen Wohlstandsgesellschaft.

Der Wirtschafts- und Sozialstaat beruht auch in der Schweiz auf einem gesellschaftspolitischen Grundkonsens: Der Staat garantiert den freien Leistungswettbewerb mit privater Gewinnorientierung. Das Wachstum der privaten Wirtschaft und ihre innovative Entwicklung ist das Ziel aller politischen Kräfte, denn es ermöglicht Vollbeschäftigung sowie die Finanzierung der wirtschafts- und sozialstaatlichen Leistungen über Steuern und Abgaben. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten werden sowohl durch steuerliche Massnahmen wie durch die politische Verteilung meritorischer Güter (Bildung, Gesundheit) gemildert.

Der heutige schweizerische Sozial- und Leistungsstaat ist grösstenteils ein Produkt der politischen Konkordanz seit 1960. Im Zuge des neoliberalen Globalisierungtrends und der Finanzkrise der öffentlichen Hand wurden einzelne Elemente des Sozialstaats zunehmend umstritten. Trotzdem kam es zum weiteren Ausbau. Wies der schweizerische Sozialstaat bis zu Beginn der 1990er-Jahre noch deutliche Parallelen zur Gruppe der liberalen Wohlfahrtsstaaten (USA, Japan) auf (Armingeon 1996a:76), so haben sich die umfangreicheren sozialstaatlichen Leistungen in den letzten 20 Jahren denjenigen anderer europäischer Länder deutlich angenähert (sozialstaatliche Konvergenz).

b. Zur Sozialpartnerschaft

Das zweite Element der Integration ist die Herausbildung der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie begann 1937 auf Betreiben des Bundesrats mit einem Vertrag zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften der Maschinenindustrie. Das sogenannte «Friedensabkommen» anerkannte die Gewerkschaften als die Vertreter der Arbeiterschaft, verlangte die Lösung aller Konflikte zwischen den Sozialpartnern auf dem Verhandlungsweg und verbot sowohl Streiks als auch Aussperrungen.22 Nach dem Krieg verbreitete sich das Muster friedlicher, kollektiver Konfliktregelung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite über Gesamtarbeitsverträge (GAV) in den meisten Wirtschaftszweigen. Von den gegenseitigen Vorteilen dieser Sozialpartnerschaft profitierten die Arbeitnehmerinnen mit steigendem Wohlstand vor allem in der Wachstumsphase bis in die siebziger Jahre. Mit der weltweiten Öffnung der nationalen Volkswirtschaften, die der Kapitalseite grosse Mobilitätsvorteile brachte, ist die Position der Gewerkschaften allerdings wie überall schwächer geworden.

 

Eine besondere Bedeutung hat die Sozialpartnerschaft in der Schweiz jedoch durch ihre institutionelle Verknüpfung mit der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik erlangt. 1947 wurden, in den sog. «Wirtschaftsartikeln», die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat verfassungsmässig geregelt. In der bis 1999 gültigen Bundesverfassung war in Art. 32 BV ausdrücklich festgehalten, dass die «zuständigen Organisationen» in den Fragen der Wirtschaftspolitik in der Gesetzgebung «angehört» und im späteren Vollzug «zur Mitwirkung herangezogen» werden. Nun war eine solche Zusammenarbeit zwischen Staat und Verbänden nichts Neues. Sie existierte, wie bereits erwähnt, seit je, und war in den 1930er-Jahren insbesondere für den Branchenschutz von Gewerbe und Landwirtschaft praktiziert worden. Die Wirtschaftsartikel aber verstärkten diese Zusammenarbeit und verallgemeinerten sie für alle wichtigen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Gewerkschaften, in der Sozialpartnerschaft gleichberechtigte Partner der Unternehmerschaft, wurden nun ebenfalls Partner in der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat. Damit näherte sich der schweizerische Verbandsstaat jenem tripartiten Integrationsmuster, das die Politikwissenschaft in vielen europäischen Ländern vorfindet und als «Neokorporatismus» bezeichnet. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass alle wichtigen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit durch deren Organisationen und unter Beizug des Staates geregelt werden.

Mit der Verbreitung dieses Konfliktregelungsmusters in der Wirtschafts- und Sozialpolitik konnte man auch die Schweiz als ein neokorporatistisches Land bezeichnen. Allerdings unterscheidet sich der schweizerische Neokorporatismus von demjenigen anderer Länder in vier wichtigen Punkten. Erstens ist der Einfluss der Arbeitnehmer in der Schweiz geringer als in anderen europäischen Kleinstaaten wie Schweden, Österreich, Norwegen oder Holland, wo sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmereinfluss ungefähr die Waage halten. Zweitens sind die Wirtschaftsorganisationen der Schweiz dezentral geblieben, und in jüngster Zeit verlagert sich die Regelung der sozialpartnerschaftlichen Konflikte zurück auf die Betriebsebene, womit sich die Rolle des Staates und der Einfluss des neokorporatistischen Integrationsmusters vermindern. Drittens sind verbandsstaatliche Lösungsmuster in allen politischen Aufgabenbereichen anzutreffen und reichen damit über die Politikfelder hinaus, welche die internationale Politikwissenschaft als die Bereiche des Neokorporatismus identifiziert.23 Viertens aber sind mit Beginn der 1990er-Jahre die Interessengegensätze zwischen Binnen- und Exportwirtschaft stärker geworden, und mit der Liberalisierungs- und Privatisierungstendenz kommt es zu einer teils stärkeren Trennung von Wirtschaft und Staat. Beides drängt die korporatistischen Integrationsmuster zurück. Diese Entwicklung zeigt sich auch darin, dass in der neuen Bundesverfassung die Zusammenarbeit mit den Verbänden nicht mehr erwähnt wird.24

E. Grenzen der politischen Integration und des schweizerischen Pluralismus

In den vorangehenden Abschnitten haben wir gezeigt, wie in der Schweiz Probleme des Zusammenlebens verschiedener Sprachen und Konfessionen, später auch die Interessengegensätze und Konflikte zwischen Arbeit und Kapital, auf dem Wege politischer Integration gelöst wurden. Diese politische Integration beruhte auf folgenden Regeln und Einrichtungen: dem Verzicht auf Vorrechte einer einzelnen Kultur bei der Gründung des Nationalstaats, den Minderheitenrechten wie der Sprachenfreiheit, der vertikalen Machtteilung des Föderalismus, der proportionalen Beteiligung der Minderheiten und schliesslich der Konkordanzdemokratie. All dies diente dem Ziel, jene nachteilige Auswirkung der Mehrheitsdemokratie zu vermeiden, an denen die Schweiz hätte scheitern können: die dauernde Zurücksetzung und Benachteiligung einzelner struktureller Minderheiten.

Diese politische Integration war vor allem in der Zeit des Zweiten Weltkriegs wichtig gegen aussen zur Bewahrung der staatlichen Unabhängigkeit. Sie war aber auch bedeutsam nach innen: Die Schweiz ist zu einer pluralistischen Gesellschaft geworden, in der die kulturellen Unterschiede bewahrt bleiben, ohne Anlass zur Diskriminierung zu bilden, und in der alle Gruppen gleiche Chancen auf politische und gesellschaftliche Anerkennung haben. Auf politischer Ebene, aber auch als Zivilgesellschaft mit verhältnismässig wenig Aggression und Gewalt,25 hat die multikulturelle Schweiz Bemerkenswertes erreicht. Ein wichtiger Beurteilungsmassstab für die Qualität des politischen und gesellschaftlichen Pluralismus liegt aber auch in der Antwort auf die Frage, ob der Staat alle Partikularinteressen gleich behandelt und ob die politische Mehrheit Gesetze erlässt, die Ausdruck verallgemeinerungsfähiger Werte sind. Als solche Werte gelten vor allem: Demokratie, Menschenrechte, Grundrechte und Gleichheit.

In den 1960er-Jahren schrieb der damalige Rektor der Hochschule St. Gallen und spätere Bundesrichter Otto K. Kaufmann (1965) einen vielbeachteten Beitrag unter dem Titel: «Frauen, Italiener, Jesuiten, Juden und Anstaltsversorgte». Er wies damit auf die wichtigsten Gruppen hin, die im schweizerischen System nicht nur politisch benachteiligt, sondern auch rechtlich in einer Weise behandelt wurden, die den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht entsprachen. Die rechtlichen Diskriminierungen sind in der Zwischenzeit grösstenteils korrigiert worden.26 Kaufmanns Beitrag weist aber auf ein grundsätzliches Problem hin: dass der schweizerische Integrationsprozess auch seine Kehrseite hat, nämlich gesellschaftlichen Ausschluss und Marginalisierung (Sciarini et al. 1997).

Während Jahrzehnten wurden zum Beispiel Kinder von Fahrenden, die gängigen Vorstellungen bürgerlicher Ordnung nicht entsprachen, von ihren Eltern getrennt und in «sauberen» Heimen erzogen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden aus militärischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen mehr als 20 000 Flüchtlinge an der Schweizer Grenze weggewiesen. Lange entsprachen persönliche Rechte von Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Kliniken, von Gefangenen oder Verhafteten dem europäischen Rechtsstandard nicht. Während und nach dem Kalten Krieg überwachte die Bundesanwaltschaft unter dem Vorwand des Staatsschutzes nicht nur einige extreme Aktivisten, sondern Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, die lediglich unorthodoxe politische Ideen oder Aktionen unterstützten. Dies zeigt: Die Kehrseite erfolgreicher gesellschaftlicher Integration ist sozialer Druck zur Konformität, den nicht nur Intellektuelle und Schriftsteller spüren.

Gemessen an den normativen Ansprüchen von Demokratie und gesellschaftlicher Gleichheit, stellt die lange Benachteiligung der Frauen den wohl wichtigsten Tatbestand der Diskriminierung dar. Bis 1971 war die Schweiz eine reine Männer- und damit nur eine halbe Demokratie. Auch die weitere gesellschaftliche Gleichstellung der Frau wurde erst 1981 auf Verfassungs- und 1995 auf Gesetzesstufe zur öffentlichen Aufgabe, also 20–30 Jahre nach den anderen europäischen Ländern oder der Bürgerrechtsbewegung der USA.27 Mit der raschen Beseitigung aller Benachteiligungen der Frau im Bundesrecht konnten viele Rückstände der verspäteten Gleichstellungspolitik aufgeholt werden (Ballmer-Cao/Benedix 1994). Die Schweiz liegt bezüglich der Frauenrepräsentation in den politischen Institutionen international im oberen Mittelfeld; die Frauenmehrheit in einer Exekutive bleibt die Ausnahme, die immer noch grosses Aufsehen erregt. Hingegen hinkt die Gleichstellung der Frauen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich hinterher, wie die regelmässig erscheinenden Berichte des Bundesamtes für Statistik aufzeigen. In seiner Botschaft vom Oktober 2016 spricht der Bundesrat (2016b:2) von durchschnittlich 678 Franken pro Monat, die Frauen in der Privatwirtschaft weniger verdienen als Männer und die sich «nicht durch objektive Faktoren wie Alter, Ausbildung, Dienstjahre oder durch die ausgeübte Tätigkeit» erklären lassen.