Sarah (eBook)

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Aber wer war sie eigentlich? Ihr Name war Sarah Johnson und sie wurde 1976 in West Virginia geboren. Ihre Eltern hießen ­Elphon­za und Corrie. Sie hatte einen Bruder namens Jack, den ich nie mochte, aber von dem ich immer sagte, dass ich ihn mochte. In Wirklichkeit mochte ich ihn aber wirklich nicht, und ich lasse ihn auch nicht in meinem Buch vorkommen.

Aber wenn ich wirklich von Sarah erzählen wollte, würde ich vermutlich von ihrer frühesten Erinnerung erzählen. Sarah war damals vier und sie stand in der Dusche mit ihrer Tante Sherry. Sarah war so klein, sie reichte Sherry nur bis zur Hüfte. Sie waren gerade vom Strand zurück, und Sand war überall, in Sarahs Kleinmädchenhaar und in den Falten ihrer Kleinmädchenhaut und an den Rändern ihres Kleinmädchenbadeanzugs. Und Sarah war so jung, dass ihr Duschen mit ihrer Tante Sherry nicht peinlich war. Sherry zog Sarahs Badeanzug aus und Sherry zog ihren eigenen Bikini aus und so standen die zwei nackt nebeneinander unter dem Wasser, das aus dem Duschkopf brauste. Sherry schrubbte Sarah ab, dann seifte sie sie ein und wusch den Sand von ihr. Dann wechselten sie den Platz, und Sarah stand da und sah Sherry beim Duschen zu. Da bemerkte Sarah etwas zwischen den Beinen ihrer Tante. Eine weiße Schnur. Sherry stand zurückgelehnt und spülte sich die Haare, und Sarah hatte nur noch einen Gedanken. Sie wollte an der weißen Schnur ziehen, die da aus ihrer Tante baumelte. In ihrem Kopf wiederholte sie: »Ich will an der Schnur ziehen, ich will an der Schnur ziehen.«

Sherry bemerkte ihren Blick und lachte über Sarah, weil die nicht wusste, was ein Tampon war. Nach dem Duschen sprach Sherry mit Sarah über die Zukunft und erklärte ihr, dass einige von uns nur innerlich bluten, aber Frauen seien so lebendig, dass sie auch nach außen hin bluten und neues Leben erzeugen können. Wie Götter. Sarah lächelte und sagte, sie wolle unbedingt ein Gott werden. Irgendwann später begriff sie, wie dämlich das alles war und dass ihre Tante ein verlogenes Biest war. Es war Folter. Nach der Dusche ging Sarah zu ihrem Vater und saß neben ihm. Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt.

Sein Name war Elphonza. Eines Morgens, viele Jahre später, erwachte er in Sarahs Haus. Sarah war bereits erwachsen, und am letzten Tag seines Besuchs bei seiner Tochter begann Elphonza im Gästezimmer seine Sachen in den Koffer zu packen, da er bald abreisen würde. Ein paar Tage zuvor war er nachts aufgestanden und hatte einige kleine Eisbecher aus Sarahs Kühlfach gegessen. Am nächsten Morgen ließ er Sarah wissen, dass sie die Eisbecher besser wegwerfen sollte, denn die hätten Gefrierbrand. Sarah sagte: »Nein, Dad, du hast die Eisbecher für Hunde gegessen. Frosty Paws.« Aber daran dachte er jetzt nicht, auch nicht daran, dass Sarah oft über ihn lachte. Er war dabei, sich zu rasieren und seine Koffer zu packen. Dann nahm er eine Dusche. Sieben Tage war er bei seiner Tochter gewesen. Dann verließ er ihr Haus. Später am selben Nachmittag ging Sarah ins Gästezimmer, um die Bettbezüge zu wechseln. Sie zog sie von der Decke und den Polstern und warf sie auf den Boden. Als sie das Leintuch von der Matratze zog, fiel etwas heraus. Was zum … Es war ein riesiges Stück Cheddarkäse mit Zahnabdrücken an den Rändern.

Sarah rief ihren Vater an.

»Dad, hast du die ganze Zeit auf einem riesigen Stück Cheddar geschlafen?«

Elphonza sagte: »Oh ja. Hab mich schon gefragt, wohin das Stück verschwunden ist.«

Als Sarah klein war, saß Elphonza am Abend mit seinem Scotch da und hörte sich Willie Nelsons Version von Always on my Mind an.

Die Luft im Zimmer wurde immer verrauchter und der Fernseher lief. Elphonza schaute sich Autorennen und andere Sendungen an. Bei einer Sendung erfuhr er, dass so etwas wie »neues Wasser« nicht existierte. Er erfuhr, dass das ganze Wasser auf der Erde ursprünglich aus der Milchstraße gekommen war, vor vielen Millionen Jahren. Es war auf dem Rücken eines riesigen Meteors zu uns gekommen, der in die Erde gerast war. So hatte das Leben begonnen.

Deshalb bestehen wir heute alle aus Wasser. Wir bestehen aus dem, was vor langer Zeit auf uns zugerast und mit uns kollidiert ist. Es ermöglichte, dass Lebewesen geboren wurden, und nichts an ihnen ist neu. Elphonza erfuhr außerdem, dass der Preis all der chemischen Bestandteile, aus denen wir bestehen, ungefähr der eines Schokoriegels ist. Aus mehr bestehen wir nicht. Schokoriegel und Sterne.

Sarah wusste natürlich, dass Elphonza eines mehr als alles andere auf der Welt liebte: Sarahs Mutter.

Ihr Name war Corrie. Eines Tages begleitete Sarah sie zur Pediküre, und sie saßen nebeneinander in den riesigen Sesseln, zuerst die Füße im warmen Wasser, dann auf der Fußablage, sodass die Pediküre beginnen konnte. Die Frau, die sich um ihre Füße kümmerte, begann damit, die lose Haut von den Fersen und Fußballen zu reiben. Dann wischte sie zwischen Corries Zehen herum.

Auf einmal schrie die Frau und sprang auf.

Was zum Teufel?

Sarahs Mutter hatte eine Zecke zwischen den Zehen. Und es war nicht einfach nur eine Zecke, sie war nicht erst seit einer Viertelstunde da. Sondern eine, die hier schon seit Tagen wohnte. So groß wie eine Flipper­kugel, kompakt und fett und voller Blut. Sie pulsierte und schwoll und vibrierte und wuchs und glühte immer fetter und heller in glänzenden Rosafarben.

»Da ist eine Zecke!«, kreischte die Frau und lief zeternd davon.

Sarahs Mutter sagte: »Was hat sie für ein Problem?«

Sie blickte auf ihren Fuß, als könnte sie gar nicht begreifen, was die Frau gemeint hatte.

Sarah fühlte Brechreiz. »Mom, da ist eine Zecke zwischen deinen Zehen.«

Sarahs Mutter betrachtete ihren Fuß und untersuchte das kastaniengroße Ding zwischen ihren Zehen.

Dann sagte sie: »Oh, die ist mir gar nicht aufgefallen.« Das war Sarahs Mutter.

Aber dann, eines Tages, änderte sich Sarahs Leben plötzlich. Sarah und ihre Mutter kamen auf die Idee, in dem Musical South Pacific mitzuspielen. I’m going to wash that man right out of my hair.

Sarahs Mutter spielte die Hauptrolle. Sie wollte niemals in den Bergen leben. Sie wollte nicht dort gefangen sein, aber wusste zugleich, dass alles, was sich in die Berge verirrt, dort hängen bleibt. Sarah sah ihrer Mutter zu, sie spielte ihre Rolle im Musical, und sie sang die Lieder im Musical, und dann traf sie einen fremden Mann bei den Proben fürs Musical. Sarah sah, wie sich die Augen ihrer Mutter belebten. Sie funkelten und leuchteten, leuchteten und funkelten. Dann, eines Tages, stellte sich Sarah vor, der fremde Mann aus dem Musical wäre bei ihr zu Hause, als ihr Vater gerade nicht da war. Sag deinem Vater nichts davon.

Ihre Eltern ließen sich scheiden. Ihre Mutter zog aus. Ihre Mutter war weg. Und Elphonza wurde alt. Er hatte Probleme mit seinem Herz, und Sarah hatte Angst. Sie war zehn und dachte, ihr Vater würde sterben. Nachts schlich sie sich in sein Schlafzimmer, hockte sich am Ende des Bettes auf den Boden und achtete auf seinen Atem. Eines Nachts hörte sie ihm beim Atmen und Schnarchen zu, immer so dahin, Atmen und Schnarchen, und Sarah wurde schläfrig und schlief ein und passte nicht auf ihn auf.

Als sie einige Stunden später erwachte, hörte sie kein Geräusch. Sie bekam Panik. Sie sprang auf, rannte zu ihm und schüttelte ihn. »Bitte nicht sterben, Dad! Nicht sterben!« Ihr Vater erwachte und sagte: »Sarah?« Und Sarah lächelte erleichtert, weil ihr Vater noch am Leben war.

Sie lächelte. Er war nicht tot. Bloß geschlafen hatte er.

Und Sarah wurde älter. Sie ging einkaufen und rauchte Gras und ging einkaufen und traf sich mit Freundinnen. Lauter Mädchen, die sich noch nicht im Geringsten über die Welt sorgten und die man mit einem einzigen Wort beschreiben konnte: hinreißend.

Sie gingen auf Partys und probierten Mushrooms aus und vögelten mit Jungen, die schon Autos oder Jobs hatten, und sie schauten sich gemeinsam den Nachthimmel an und redeten über die prächtigen Schwänze ihrer Freunde, ihre großen prächtigen Schwänze, und Sarah griff nach oben und pflückte ein paar Sterne und steckte sie sich in die Tasche, immer noch high von den Pilzen.

Mit sechzehn nahm Sarah einen Job im Süßigkeitenladen im Einkaufszentrum an. Eines Nachmittags kam ein kleiner Junge mit seiner Mutter in den Laden. Die Mutter war klein und dick und sie sprach die ganze Zeit für ihren Sohn, der dürr war und große Zähne und eine Brille hatte. Sarah beobachtete den Jungen, wie er sie anstarrte.

Er trug ein Tüte aus dem Buchladen, und darin war ein Buch, das so begann: Ob ich mich in diesem Buche zum Helden meiner Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob jemand anders diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen. Der kleine Junge wirkte ängstlich und Sarah wusste noch nicht, dass er die ganze Zeit ängstlich war. Er dachte manchmal ans Sterben und ans Davonlaufen. Die Mutter des Jungen fragte ihn, was er gern haben wolle. Er flüsterte ihr seine Antwort zu. Er wollte Himbeer-Fruchtgummis und einen mittleren Blue-Raspberry-Slushie. Die Mutter des Jungen gab die Bestellung weiter.

Himbeer-Fruchtgummis.

Brombeer-Fruchtgummis.

Blue-Raspberry-Slushie. Sarah erledigte die Bestellung, und die Mutter bezahlte, und der Junge und die Mutter gingen davon. Und Sarah dachte nie wieder an die beiden. Es war nichts Besonderes daran. Sie vergaß die Episode, so wie wir alles Mögliche auf der Welt vergessen, aber der kleine Junge wurde später erwachsen und schrieb dieses Buch.

Fünfundzwanzig Jahre später begannen wir, uns zu streiten. Wir stritten über dies und stritten über das. Wir stritten über dies und stritten über das. Wir stritten über dies und stritten über das.

 

Und wir stritten über das und stritten über dies. Wir stritten über Geld und über den Ort, wo wir wohnten, und darüber, wie viel ich reiste, und darüber, wie viel ich trank, und wir stritten über alles, was ich machte.

Wir stritten über Winzigkeiten. Wir stritten über nichts und über alles. Es war herrlich.

Am schlimmsten stritten wir uns an dem Tag, an dem ich nach Hause kam und den Computer zerstörte. Ich kam ins Haus und wusste sofort, dass Sarah wütend war, aber ich wusste nicht, weshalb.

»Bist du wütend?«

»Nein.«

»Warum bist du wütend?«

»Bin ich nicht.«

»Du sagst nichts und hast diesen total angepissten Blick. Und dein Mund ist so zusammengeschrumpft, wie so ein Anus.«

Sarah sagte: »Mir zu erklären, dass mein Mund wie ein Anus aussieht, heitert mich nicht besonders auf.« Sie sagte mir, ich solle nie wieder das Wort Anus in Verbindung mit ihrem Gesicht verwenden. Also setzte ich mich neben sie auf die Couch und versuchte, was zu sagen, aber ich machte einen Fehler. Ich berührte ihre Schulter und ihr Gesicht, und dann sah ich dieses kleine Fitzelchen Staub, oder was es war, an ihrem Kinn hängen. Es hing einfach so da. So ein Fitzelchen, wahrscheinlich Staub, hing da. Also griff ich hin und zog dran. Ich nahm es zwischen die Finger und zog dran, aber es war kein Staub.

Es war ein Haar an Sarahs Kinn. Sofort verzerrte sich ihr Gesicht zu mörderischer Wut, und sie begann zu brüllen: »Was soll der verdammte Scheiß, was machst du da?«

Und ich begann: »Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid.«

Sarah stand auf und da waren Tränen in ihren Augenwinkeln und sie schrie mich an: »Weißt du, wie unangenehm mir die Haare in meinem Gesicht sind? Warum tust du so was? Warum?«

Ich sagte ihr, ich hätte geglaubt, es wäre nur ein Staubfädchen. Dann beruhigte sie sich für ein paar Minuten, und dann schrie sie wieder. Sie sagte, sie sei es leid, mit mir zu streiten. Und sie sei wütend auf mich wegen der Dinge, die ich mir am Computer angesehen hätte. Ich fragte: »Was hab ich mir denn angesehen?« Und sie machte dieses Gesicht wie Pornos. Unmengen von Pornos. Ich sagte, das ist übertrieben, aber dann be­gann sie, eine Liste von ihrem Handy vorzulesen. Sie hatte sie sich selbst als Mail geschickt. Sie begann die Namen von Seiten aufzulisten: worldsex.com, youporn.com, mothersteachdaughters.com, bangbros.com, mycuckoldhusband.com, blacksonblondes.com, naughtyamerica.com, bigboobs.com, burningangel.com, mykidsbabysitter.com, youtorture.com.

Sarah schaute mich an und sagte: »Ernsthaft, Scott? Youtorture.com?«

Und dann ging es mit anderen Namen von Seiten weiter. Ich sagte, okay, okay. Ich sagte, sie solle mich nicht wegen meines Pornogeschmacks verurteilen. Wenn sie die Seiten so der Reihe nach vorlas, klang es, als wäre ich ein totaler Perverser. Sarah verdrehte nur die Augen und sagte: »Da schau her, so ein Zufall, denn eine der Seiten heißt iamapervert.com. Und da, noch eine, die heißt pervertcreep.com.« Sie sagte, sie frage sich, ob ich online mit anderen Leuten kommunizierte, und ich schüttelte nur den Kopf und fühlte Wut in mir aufsteigen.

Ich brüllte sie an und sie brüllte mich an. Und dann brüllte ich sie an und sie brüllte mich an. Dann brüllten wir in verschiedenen Räumen. Ich warf ihr vor, dass sie mir hinterherspionierte, und sie sagte, sie wisse ja, dass alle Menschen masturbieren, aber das hier, mein Gott. Wir hatten doch Kinder. Ich sagte ihr, dass ich die Schnauze voll hatte von ihrem ständigen Gemecker. Ich ging in den Computerraum im Keller und knallte die Tür hinter mir zu. Sarah rief mir hinterher: »Was hast du jetzt wieder vor?«

Und ich rief zurück: »Wenn ich so ein Verbrecher bin, werde ich jetzt diesen Computer umbringen.«

Sarah sagte »Was?« und lief mir hinterher.

Ich sagte: »Ich bring jetzt den Computer um«, und dann schrie ich: »Oh ja, ich bring ihn um, den scheiß Computer« und ein paar andere Varianten des Satzes, wie »Der verdammte Computer ist jetzt dran«, und auch direkte Drohungen an das Gerät: »Ich bring dich um, du kleine Sau.«

Ich ging in den Werkzeugraum und holte den 5-Kilo-Vorschlaghammer, der dort immer in einem Eck stand. Ich setzte mir die Sonnenbrille auf. Sarah sagte: »Wozu die Sonnenbrille?« Ich sagte ihr, das sei keine Sonnenbrille mehr, das sei jetzt eine Sicherheitsbrille. Ich sagte, mir ginge es vor allem um die Sicherheit. Dann sagte Sarah etwas über Bilder, aber ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Ich zog am Computer, aber er rührte sich nicht. Also zog ich noch mal, aber die Kabel waren ein derartiges Rattennest, dass gar nichts ging. Wir hatten sowieso vor, einen neuen Computer zu kaufen, weil der hier alt war. Also begann ich, in Ruhe jeden einzelnen Stecker einzeln herauszuzupfen. 1, 2, 3, 4. Ich nahm den Monitor und schlug ihn an die Ecke des Tisches. Ich dachte, er würde vielleicht explodieren oder herrlich zerschellen, aber es passierte gar nichts. Ich rammte ihn noch ein paar Mal auf die Tischecke und dann knallte ich ihn gegen die Wand und er prallte einfach ab und Sarah stand daneben und schaute mir zu. Sie hielt ihre Hände erhoben neben dem Gesicht. Ich riss die Festplatte heraus und nahm sie in die Hand, und Sarah wiederholte immer wieder: »Was machst du denn?«

Dann hielt ich den Vorschlaghammer in der Hand und warf ihr diesen Blick zu, so auf die Art Wonach sieht es denn aus, ich bring hier unseren Computer um.

Ich stand über der Festplatte und schwang den Vorschlaghammer in die Höhe, als würde ich ein Baby hochwerfen. Ich ließ den Hammer hart aufkommen. Er traf den Computer, prallte gegen das harte Plastik. Dann hob ich ihn noch mal hoch und ließ ihn wieder auf den Computer krachen, dieser zerbrach in drei oder vier einzelne Computer, und dann zertrümmerte ich auch die. Sarah kreischte: »Scott! Meine Bilder! Die Bilder von den Kindern!« Ah, jetzt wusste ich, was sie gemeint hatte.

Ich brachte die Bilder unserer Kinder um, und ich schaute nach unten und meine Hand war voller Blut.

Sarah sagte: »Scott, scher dich verdammt noch mal zum Teufel und komm nie wieder zurück.«

Sie fiel vor dem zertrümmerten Computer auf die Knie. Auf meiner Hose war Blut und auf meinen Händen war Blut und auf meinen Armen und auf meiner Hose und auf meinem weißen T-Shirt. Ich sagte ihr, es täte mir leid und ich würde sofort gehen. Ich sagte ihr, vielleicht sei die Festplatte ja heil geblieben. Sarah weinte. Da ich vollkommen mit Blut bedeckt war, entschied ich, dass es eine gute Idee war, in die Öffentlichkeit zu gehen. Sarah blickte hoch zu mir und sagte: »Scott, du bist voller Blut.« Ich sagte, ich hätte immer schon geahnt, dass sich ihre Ausbildung zur Krankenschwester eines Tages bezahlt machen würde. Aber niemand lachte.

Ich ging raus zu meinem Auto und fuhr zum Super 8 Motel und stieg aus. Ich dachte: Hier werde ich übernachten. Ich versuchte, mir das Blut abzuwischen, so gut es ging, dann betrat ich das Motel. Die unauffällige Frau an der Rezeption schien nervös. Sie schusterte an ihrem Computer herum. Dann blickte sie mich an und sagte: »Tut mir leid, aber wir sind vollkommen ausgebucht.« Ich blickte an den Plastikpflanzen vorbei durchs Fenster hinaus auf den Parkplatz und sagte: »Zwei Trucks und ihr seid ausgebucht?« Die Frau holte eine andere Frau und fragte sie etwas, und die beiden flüsterten rum, als wäre jemand gestorben. Dann waren sie fertig mit Tuscheln, und eine von ihnen kam zurück und sagte, okay, sie hätten ein Zimmer. Sie nahm meine Daten auf und sagte, Zimmer Nr. 118. Ich wiederholte »118«, obwohl die Ziffer auch auf dem gefalteten Karton stand, in dem die Keycard steckte. Dann fragte die Frau: »Sir, ist Ihnen bewusst, dass Sie voller Blut sind?« Ich gab ihr keine Antwort. Ich ging einfach aus der Lobby und wiederholte 118, 118, 118. Ich wiederholte alle Zimmernummern, an denen ich vorbeikam. Ich sagte: »128, 124, 122«. Ich zählte sie in meinem Kopf auf, als würde 118 gar nicht existieren.

Ich steckte die Karte in das Lesegerät und ein kleines grünes Licht erschien. Die Tür entriegelte sich mit einem Summen und dann drückte ich sie auf und es fühlte sich an, als drückte ich mich in meine Gefängniszelle, und ich begann zu heulen. Ich rief Sarah vom Hoteltelefon aus an und sagte, es täte mir so leid und dass es uns immer so leid tun sollte, immer. Ich sagte, dass ich ein Problem hätte. Dann legte ich auf und dachte an ein Foto von uns beiden auf der Couch. Ich dachte an ein Bild von uns beiden am Strand. Ich dachte an uns im Vorgarten, wie wir Iris hochhielten. Ich dachte an ein Bild von Sarah mit einem komischen Hut, vor vielen Jahren. Augenblicke unseres Lebens.

Am nächsten Morgen rief mich Sarah an und sagte, ich solle nach Hause kommen. Sie sagte, die Fotos seien alle zerstört. Aber bitte komm heim, Scott. Sie machte sich Sorgen um mich. Das war alles. Alles war zerstört.

Ich erinnerte mich an die Zeilen aus einem Buch aus meiner Vergangenheit und die Zeilen bedeuteten jetzt etwas anderes: Ob ich mich in diesem Buche zum Bösewicht meiner Leidensgeschichte entwickeln werde … wird sich zeigen.

Was soll ich tun? Ich kann zurückgehen und all die Bilder, die ich noch habe, irgendwie zusammenstellen und platzieren. Ich könnte sie in ein Buch einfügen, und Sarah könnte, wenn sie irgendwann einmal alt ist, das Buch nehmen und all die Bilder wiedersehen und sich erinnern.

Ich werde das Bild von Iris neben der Couch einfügen, wo sie aussieht wie eine Babypuppe.


Ich werde die Bilder von Sam einfügen, wo er ganz mit Küssen bedeckt ist.


Ich werde die anderen auch einfügen. Und wir werden alle da sein. In den Bildern werden Sarah und die Kinder immer jung bleiben. In den Bildern werden sie jung und lebendig sein. So wird Sarah sich daran erinnern können, und wir werden alle wieder zusammen sein. Strahlend.

Etwa um diese Zeit herum sagte Sarah, dass sie sich scheiden lassen wollte. Als sie nach mir rief, dachte ich, dass es vielleicht um Sex ginge.

Ich kam die Treppen hoch und sagte: »Willst du Sex haben?«

Sarah schüttelte ihren Kopf und sagte: »Nein, das ist keine gute Idee. Abgesehen davon nehme ich die Pille nicht mehr.«

Sarah setzte sich aufs schmale Sofa, und ich reichte ihr das Baby, das ich gerade mit der Flasche gefüttert hatte. Sam schlief.

Ich sagte: »Oh, mach dir keine Sorgen. Wir können ruhig miteinander ins Bett gehen. Sam schläft jetzt ja.«

Sarah sagte, sie mache sich keine Sorgen übers Schwangerwerden. Sie sagte: »Ich will die Scheidung.«

Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.

Ich dachte, ich hätte sie sagen gehört: »Ich will die Scheidung, Scott.«

Dann begriff ich, dass sie »Ich will die Scheidung, Scott« gesagt hatte. Sie sagte: »Die letzten paar Male, wo wir gestritten haben, hast du gesagt, dass ich schon seit Jahren einen Ausweg aus der Beziehung suche.« Sie schluchzte. »Aber die Wahrheit ist – ich hab tatsächlich seit Jahren versucht, in dieser Beziehung zu bleiben.«

Ich saß auf der Couch und schaute ihr beim Weinen zu und dachte: Ich frage mich, ob sie sich nur wegen dem Spitznamen scheiden lassen will. Etwa einen Monat zuvor hatte Sarah zu mir gesagt: »Ich hätte gern einen Spitznamen. Ich hab nie einen gehabt. Aber ich hätte gern einen. Irgend so was Niedliches wie Cee Cee oder Sissy oder so.« Ich sagte, ich wüsste einen Spitznamen für sie. Elch. Und ich fing an, sie so zu nennen.

»Das ist nicht mein Name«, sagte sie.

»Muss jeder selber wissen, Elch«, sagte ich.

So ging das ein paar Wochen. Sarah begann sogar, ein wenig mitzuspielen. Eines Tages hinterließ sie mir eine Nachricht: Bin Einkaufen mit den Kids. Komme bald zurück. xxx Elch.

Ich dachte daran, sie zu fragen, ob sie sich wegen dem Elchspitznamen scheiden lassen wollte. Aber dann ließ ich es sein.

Ich entschied mich für etwas anderes. Ich versuchte, bemitleidens­wert auszusehen. Also ein enttäuschtes und verwirrtes Gesicht zu machen. Ich schaute nach, ob das irgendwie dabei half, sie umzustimmen. Ich blickte zu Boden und dann blickte ich bemitleidenswert drein. Ich blickte zur Wand. Ich blickte verwirrt und verängstigt drein. Dann fragte ich sie, ob sie sich immer noch scheiden lassen wollte. Ich studierte meine eigenen Hände und gab einen bemitleidenswerten Anblick. Ich legte meinen Kopf in die Hände und versuchte, zugleich enttäuscht und armselig und verwirrt auszusehen. Aber Sarah sah immer noch nicht aus, als hätte sie das umstimmen können. Ich musste etwas anderes versuchen.

 

Also redete ich mit ihr. Ich sprang zu ihr aufs Sofa und setzte mich neben sie. Sie hielt Sam, der immer noch schlief. Ich tätschelte ihren Rücken, und sie sagte immer wieder: »Du weißt, dass das nichts bringt. Das bringt nichts.« Ich tätschelte weiter auf ihrem Rücken herum, als wäre sie ein Baby, das ich zum Bäuerchenmachen bringen wollte, und dann sagte ich zu ihr, sie hätte doch erst vor ganz kurzer Zeit ein Baby bekommen. Und ich sagte ihr, sie sei nach der Geburt des ersten gleich wieder schwanger geworden.

Ich sagte: »Das macht zwei Babys in drei Jahren.« Ich sagte, sie sei vielleicht einfach deprimiert. So von den Hormonen her, die bei so was durcheinanderkommen. Vielleicht war alles nur so eine postpartale Sache.

Sarahs Augen weiteten sich verärgert.

Sie wiegte Sam und sagte: »Warum muss jedes Mal, wenn eine Frau sagt, wie sie sich fühlt, irgendein Mann sofort losplappern, dass ihre Hormone durcheinander sind und dass sie postpartale Depressionen hat? Was weißt du schon über postpartale Depression, hm, Fettsack?«

Fettsack. Ich rutschte weg von ihr, ans Ende der Couch und fing an zu heulen wie ein kleines Kind. Ich musste an Chicken Wings denken. Ich wollte am liebsten die ganze Welt als fettes Mädchen beschimpfen. Ich sagte, ja, ich wüsste schon, wie sehr Sarah mein Äußeres und meine Lebensweise abstoßen würden. Ich lehnte mich vor, wie um mich für den Aufprall eines Flugzeugs vorzubeugen, und ich heulte auf diese hyperventilierende Weise, bis ich überhaupt keine Luft mehr bekam. Sarah saß einfach da, hielt Sam im Arm und sagte: »Jetzt beruhig dich mal. Beruhig dich. Ist ja schon gut.« Aber es war nicht gut. Ich heulte und versuchte, zu Atem zu kommen. Sarah sagte: »Beruhig dich. Alles gut.« Ich versuchte immer noch, zu Atem zu kommen. Und Sarah sagte, ich solle mich beruhigen. Beruhig dich. Also schlug ich mir selbst ins Gesicht, wie ich es immer machte, wenn die Dinge überhandnahmen, und ich fühlte, wie meine Wange brannte, und dann schlug ich noch mal zu. Sarah schrie: »Scott, bitte!« Und ich schluchzte und heulte wie ein kleines Gör und sagte: »Und du sitzt einfach da und denkst nicht daran, mich zu trösten.«

Sarah verdrehte die Augen. Sie sagte: »Scott, ich hab ein Baby im Arm.« Dann nannte sie mich Bubs. Mein Kosename. Bubby. Ich flüsterte: »Ausreden. Ausreden.« Meine Nase war ganz nass und auch die Haut über meiner Lippe war nass.

Die Nässe kitzelte ein wenig. Sarah sagte: »Scott, dir läuft da Rotz auf die Couch.« Es stimmte. Ich schaute nach unten, und da waren Rotzfäden auf meinem Handrücken, wie ein Spinnennetz in den Härchen. Und auch auf der Couch war Rotz, ein Schmierfleck auf den Polstern. Sarah versuchte, mich zu beruhigen. Sie sprach in ihrer Mutterstimme. »Du weißt doch genauso wie ich, dass irgendwas falsch läuft.«

Ich stand auf und sagte: »Okay.« Dann setzte ich mich wieder hin und sagte: »Also wenn du unglücklich bist. Du bist unglücklich.« Ich fragte, ob es einen anderen Mann gebe, und sie sagte Nein. Dann sagte ich, dass sie im Fall einer Scheidung ein paar Bedingungen zustimmen müsse. 1) »Ich will nicht, dass ein anderer Mann meine Kinder aufzieht«, und 2) »Bitte zieh nicht irgendwohin weit weg. Bitte.« Und ich begann wieder zu heulen und fragte sie, ob sie mich je geliebt hätte. Nun waren auch in ihren Augen Tränen und sie zeigte auf Sam und dann auf Iris, die im Korridor spielte. Ich stand auf und verkündete, dass ich die Nacht woanders verbringen würde. Ich nahm meine Schlüssel und hielt sie in der Hand und ließ sie hin- und herbaumeln. Ich machte ein paar Schritte in Richtung Haustür, aber dann fiel ich wieder vor ihr auf die Knie und rutschte auf meinen Knie-Stummelfüßen auf sie zu. Ich hatte meine Hände wie zum Gebet gefaltet und flehte sie an.

»Bitte«, sagte ich. »Bitte.«

»Nein«, sagte sie. »Nein.«

Ich versprach ihr, mich zu bessern. Ich würde mit dem Alkohol aufhören und besser auf mich achten, und auch so Dummheiten, wie jeden Abend allein Chicken Wings in mich reinschaufeln, würde ich lassen, und wirklich keinen Alkohol mehr trinken, und wir würden wieder wie eine Familie zusammen essen. Ich versprach, in Therapie zu gehen. »Bitte Sarah«, sagte ich, »bitte Sarah bitte.« Aber Sarah sagte Nein.

Sie sagte: »Jahrelang hab ich versucht, dich zur Therapie zu überreden. Auch mit dem Alkohol aufzuhören, seit Jahren. Und dieser ganze Missbrauchsscheiß, der in deiner Kindheit passiert ist.«

Also standen wir uns gegenüber und starrten, und im Zimmer war es ganz still und unsere Gesichter sagten traurige Dinge.

Ich rutschte von ihr weg und stand auf und sagte Auf Wiedersehen. Ich schaute sie an und wollte noch irgendwas Einprägsames sagen. Das Wahrste, was ich je zu ihr gesagt hatte. Ich wollte etwas sagen, das ihre Meinung ändern und sie dazu bringen würde, sich zu erinnern, wer wir waren, aber das Einzige, was mir einfiel, war: »Sicher, dass du nicht mit mir schlafen willst?«

Ich fügte hinzu: »Also, du weißt schon, so auf die alten Zeiten oder so. Noch einen mit auf den Weg.« Sie lächelte und ich lächelte auch und dann sagte sie, nein, das sei keine gute Idee. Ich sagte: »Okay, aber denk zumindest darüber nach.« Sarah sagte, okay, sie würde darüber nachdenken, wenn ich im Gegenzug versprach, mich nicht umzubringen. Wir standen beide lächelnd da. Das war doch schon mal was. Sarah würde möglicherweise mit mir ins Bett gehen, wenn ich ihr versprach, mich nicht umzubringen.

An diesem Tag verließ ich unser Haus und fuhr zu Walmart. Ich hatte mich entschieden, in meinem Auto zu übernachten und außerdem all die Dinge zu tun, die ich nicht tun konnte, wenn Sarah zu Hause war. Ich betrat den Walmart und kaufte Bier. Ich kaufte Chicken Wings. Dann kaufte ich noch weitere Lebensmittel und ging zurück auf den Parkplatz und setzte mich ins Auto. Ich sagte: »Könnte eigentlich schlimmer sein.« Ich machte eine Bierdose auf und trank sie in einem Zug aus. Ich spürte den bitteren Schaum im Mund, dann kam die kalte Flüssigkeit. Ich öffnete eine zweite Dose und trank auch die. Ich schaute mir Pornos auf dem Handy an und masturbierte. Ich fragte mich, ob die Überwachungskameras des Parkplatzes mich sehen konnten, aber dann war mir das egal. Ich hatte nichts, um mich abzuwischen, also verwendete ich eine der Babywindeln, die am Vordersitz lag. Ich trank noch ein Bier und zerdrückte die Dose und warf sie auf den Boden, wo sie sich zu ihren Geschwistern gesellte. Hier entstand der kleine Haufen einer glänzenden Dosenfamilie.

Ich öffnete den Karton mit den Chicken Wings und zog einen heraus. Ich hielt den Hühnerflügel verkehrt herum, opossum style, und steckte ihn mir in den Mund. Ich zog die Haut herunter und kaute und schluckte und fühlte, wie ich fetter und fetter wurde, und auch die Welt wurde fetter. Ich nagte das Fleisch vom Hühnerknochen, und die Sauce brannte auf den Lippen und in den Mundwinkeln.

Ich begann ein Gespräch mit den Chicken Wings, als wären sie noch am Leben. Ich fragte, was die Zukunft für mich bereithielt.

Und die Chicken Wings lachten und flüsterten nur ein Wort: »Schmerzen.«

Ich fragte die Chicken Wings, was die Zukunft für uns alle bereithielt. Für dich.

Und sie lachten nur und flüsterten: »Schmerzen.«

Und sie lachten einfach weiter wie lauter Wahnsinnige und dann sagten sie, dass ich ab jetzt meinen Verstand verlieren würde. Dass ich mir jeden Tag wünschen würde, ich wäre tot, und dass es sogar recht wahrscheinlich wäre, dass ich das Ganze nicht überleben würde. Sie sagten, nun beginne der schlimmste Abschnitt meines Lebens. Sie sagten, der Planet Erde sei ohnehin am Krepieren und das Ende sei nahe und das sei der Tag der Abrechnung. Globale Erwärmung und der Tag der Abrechnung. Sie sagten, die Menschenwesen seien Geschichte, ab jetzt würden die Chicken Wings übernehmen. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und grinste und sagte: »Klingt wie eine echt schöne Zeit. Klingt richtig lustig.«