Stoner McTavish

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Kapitel 3

Ihr erster Blick auf den Mittelwesten aus zehntausend Meter Höhe überzeugte Stoner von den Vorzügen einer Flugreise. Weit unten erstreckten sich Meile um Meile gleichmäßige, gelbbraune Vierecke, deren Symmetrie durch schnurgerade Straßen verstärkt wurde. Gelegentlich tauchte ein vereinzeltes Farmhaus auf, von Bäumen umgeben, geduckt und einsam, wie ein verlorengegangener Zugvogel, vom Sturm über das weite Meer getrieben. Ein Traktor kroch wie ein Käfer über ein Feld. Er würde mindestens zwei Tage brauchen, um es zu überqueren.

Andererseits würde sie ein Auto mit etwas ausstatten, was sie, seit das Flugzeug Boston verlassen hatte, schon mehrmals vermisst hatte – mit der Möglichkeit umzukehren. Nur eiserne Disziplin, Selbstverleugnung und ein doppelter Manhattan hatten sie davor bewahrt, sich bereits in Chicago mit dem nächsten Flug Richtung Osten aus dem Staub zu machen. Stoner lehnte den Kopf an die Rückenlehne und starrte auf das Ende der Tragfläche. Der Himmel wurde ein wenig dunkler, verblich gegen den westlichen Horizont. Eine kleine Wolke schwebte am Fenster vorbei.

Die Städte östlich des Mississippi schmiegten sich an die Erdkrümmung. Sie spürte auf einmal Neugier und Erregung. Das waren die großen Prärien dort unten, die Heimat der inzwischen verschwundenen Büffelherden, der Güterzüge, der Arapahoe-Indianer, des Pony Express, der Siedlertrecks und der Sandstürme. Die Pioniere zogen los, um sie zu durchqueren, ohne zu wissen, was auf der anderen Seite lag – oder ob es überhaupt eine andere Seite gab. Männer wurden in die Gewalttätigkeit getrieben und Frauen in den Wahnsinn, von der Einsamkeit, der Ungewissheit und dem Wind. Dieses Leben war unvorstellbar, bis heute. Es müssen Dutzende von Meilen zwischen den Farmhäusern liegen. Die Farmerinnen verbringen Tage, wenn nicht Wochen, ohne das Gesicht einer anderen Frau zu sehen. Sie putzen, kochen, bauen Gemüse an und sehen fern. Tag für Tag, ein ganzes Leben lang. Was kannst du tun, wenn du einsam bist? Was kannst du tun, wenn dich dein Ehemann misshandelt? Was, um alles in der Welt, kannst du tun, wenn du lesbisch bist? Klar, du würdest wahrscheinlich in allen Fällen das Gleiche tun – abhauen, wenn es geht. Und wenn es nicht geht, die Zähne zusammenbeißen, versuchen, nichts zu fühlen, und wie verrückt darauf hoffen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt – oder nach Nebraska, was auch immer zuerst kommt.

Die Stewardess beugte sich über sie und unterbrach ihre Träumerei. »Wir landen in zehn Minuten, Miss Mc Tavish.«

»Ms.«, sagte Stoner automatisch.

In der Ferne konnte sie die vorderste Reihe der Rockies sehen, eine dünne, malvenfarbene Linie zerklüfteter Felsen. Das Flugzeug ruckte etwas, die Triebwerke verlangsamten. Die Berge kamen näher und wuchsen gleichzeitig in die Höhe. Die scharfen Spitzen zerfransten den lavendelfarbenen Himmel. Die winzigen diamantenen Lichter von Denver blinkten durch den dünnen Nebel. Stoner spürte einen Kloß im Hals, sie war im Westen.

***

Der kleine zweimotorige Frontier-Airlines-Flieger hüpfte und sackte in den Luftströmungen, als gäbe es Schlaglöcher im Himmel. Stoner blickte sich flüchtig nach den anderen Passagieren um und fühlte sich etwas fehl am Platz in ihrer östlichen Kleidung. Waren auf der Route nach Denver hauptsächlich noch Geschäftsanzüge und Freizeitkleider geflogen, so bevorzugten die Einheimischen eindeutig Jeans und karierte Holzfällerhemden. Sie landeten kurz in Laramie zwischen und lieferten ein paar Absolventen fürs Ferienseminar ab, dann starteten sie Richtung Nordwesten. Der Himmel leuchtete noch im Westen, verdunkelte sich aber zusehends. Ein Planet glitzerte am Horizont. Die Nacht zog unaufhaltsam herauf.

Ihr Sitznachbar fuchtelte zum Fenster hinaus. »Medicine Bows«, sagte er. Unter ihnen lagen schneebedeckte Berge. »Gletscher.«

Es war ein Mann mittleren Alters in Polyester-Jeans und spitzen Cowboy-Stiefeln. Eine unauffällig wirkende Person. Es waren die ersten Worte, die er nach über einer Stunde von sich gab.

»Mir fiel auf, dass es keinen Sonnenuntergang gab«, sagte Stoner. »Ist das hier immer so?«

Er nickte. »Einöde.«

»Kommen Sie aus Jackson?«

»Moos. Fisch- und Wildbestand. Wapiti.«

»Moos, Fisch- und Wildbestand und Wapiti?«

»Forstbeamter«, grunzte er. »Lebe in Moos.«

»Wapiti?«, fragte Stoner vorsichtig tastend.

»Erforsche die Wapiti. Elche. Sind aber keine, sondern Wapiti.«

»Oh«, sagte Stoner. Sie erinnerte sich vage, irgendetwas über das nationale ›Naturschutzgebiet für Elche‹ gelesen zu haben.

»Sehen aus wie Elche«, sagte der Mann. »Sind aber keine.«

»Wapiti«, sagte Stoner.

Er grunzte auf eine zufriedene Art und musterte ihre Kleidung. »Touristin?«

Stoner schüttelte den Kopf. »Ich bin … geschäftlich hier.«

»Gut. Zu viel verdammte Touristen. Regierung?«

»Nein, ich bin von einem …«, sie zögerte, »… Reisebüro. In Boston?«, beendete sie den Satz hoffnungsvoll.

»Verdammte Touristen.«

»Nein«, sagte Stoner eindringlich. »Ich bin keine Touristin.«

»Aber Sie leben von ihnen.«

»Aber ich mag sie nicht.«

»Sie sollten von etwas leben, was Sie mögen.«

»Na ja, einige mag ich. Nur die nicht, die glauben, die ganze Welt sei ihre persönliche Spielwiese.«

»’ne Menge davon, überall«, sagte Fisch- und Wildbestand.

»Es gibt genügend Orte für sie.«

»Zum Beispiel?«, fragte er.

»Las Vegas, der größte Teil Floridas und Atlantic City.« Sie hatte den Eindruck, als ob er ein wenig lächelte, aber es konnte auch eine Halluzination gewesen sein.

»Irgendwer ist immer hinter irgendetwas her in dieser Gegend«, maulte der Mann. »Hinter was sind Sie her?«

»Ich will mich nur ein wenig umsehen«, sagte Stoner. »Dann empfehle ich diesen Ort nicht den falschen Leuten.«

Fisch- und Wildbestand glotzte sie an. »Sie wollen sich die Gegend anschauen, um die Leute von hier fernzuhalten?«

Stoner nickte eifrig.

»Schräger Vogel«, sagte er. »Wollen Sie ’n Schluck?«

Stoner schaute sich zum Heck des Flugzeuges um. Wenn es hier so etwas wie eine Küche gab, dann war sie bestenfalls dazu bestimmt, als drittklassige Postbeförderung zu dienen. »Werden auf diesem Flug Getränke serviert?«

»Nix.« Er zog einen Flachmann aus seiner abgegriffenen Ledertasche, wischte die Öffnung mit seinem Ärmel ab und reichte ihn Stoner.

Mit dem Gefühl, in irgendein heiliges Stammesritual eingeweiht zu werden, schickte Stoner ein kurzes Stoßgebet zu sonst wem, wer auch immer gerade zuhören mochte, und nahm einen herzhaften Schluck. Es war warmer Gin. Pur. »Vielen Dank«, japste sie.

»Guter Stoff.« Er steckte den Flachmann wieder ein, ohne selbst einen Schluck zu nehmen.

»In der Tat.« Etwas erstaunt stellte sie fest, dass es möglich war, unsichtbar zu erschauern. Irgendwie drückte der Gin auf die Backenzähne. »Sie trinken nichts?«

»Macht mich kaputt.« Er seufzte und lehnte sich bequem zurück. »Bin seit fünf Jahren hier draußen. Vermutlich werden es weitere fünf. Sofern es das alles hier dann überhaupt noch gibt. Fallensteller, Zahnjäger, jetzt Touristen.«

»Zahnjäger?«, fragte Stoner entsetzt.

»Kommen hierher und wildern nach Wapiti-Zähnen. Wir nennen sie Zahnjäger. Töten die Tiere, reißen die Zähne raus, lassen den Rest liegen.«

»Wozu?«

»Schon mal was von den G.S.A.E. gehört?«

Stoner nickte. »Elche«, sagte sie und versuchte wie eine Eingeweihte zu klingen.

»›Größte Schweine Auf Erden‹, benutzen sie als Uhrenketten.«

»Aber es sind keine Elche«, protestierte Stoner, »es sind Wapiti.«

»Haben Hunderttausende getötet. Haben, verdammt noch mal, fast den gesamten Bestand ausgelöscht.«

»Oh Gott«, sagte Stoner.

»Gut, sind inzwischen unter Naturschutz gestellt. Jetzt sind’s die Touristen. Camping, Fahrradwege. Verdammtes Fitness-Zeugs. Ganze Städte aus dem Wald gestampft. Eigentumsapartments. Sehen Sie sich bloß dieses verdammte ›Teton Village‹ an. Schweizer Chalets, französische Restaurants. Die Leute kommen hierher nach Wyoming, um sich wie in Europa zu fühlen. Warum fahren sie dann nicht nach Europa?« Er starrte sie an. »Sagen Sie mir das.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Stoner.

»Gut, sollten Sie es jemals rausbekommen, lassen Sie es mich wissen. Es würde mich wirklich interessieren«, seufzte er. »Jackson Hole ist heiliges Land für die Indianer. Kein Mensch weiß warum, aber sie übernachten hier nicht einmal. Einige erzählen, es seien so viele Stämme durch das Tal gezogen, dass sie sich darauf geeinigt haben, es von keinem in Besitz nehmen zu lassen, damit es keine Zänkereien gibt. Aber sie waren sowieso nicht die Leute, die irgendwo Land in Besitz genommen hätten. Schätze, sie glaubten, der Große Geist wache über die Berge. Sie werden ja sehen, ob es Ihnen nicht auch so vorkommt. Aber Sie werden es niemals schaffen, einen verdammten Touristen dahin zu kriegen, das zu schlucken.«

Stoner fühlte sich immer deprimierter.

»Profit«, fügte ihr Begleiter mürrisch hinzu. »Spekulanten bestimmen den Lauf der Dinge in Jackson Hole. Kaufen ein paar Acker Land mit Aussicht, verschicken ein paar Hochglanzbroschüren, lehnen sich zurück und räkeln sich im Profit.«

»Warum verkauft ihnen überhaupt irgendwer das Land?«, fragte Stoner.

»Der einzige Weg, hier draußen etwas mehr vom Leben abzubekommen, ist, außer zu töpfern oder Schmuck zu verkaufen, die Viehzucht. Harte Arbeit, Liebeskummer, Mühsal, Konkurs – Viehzüchters Lebensrhythmus.«

Um die Wolke voller Trübsal, die über ihr schwebte, zu vertreiben, schaute Stoner aus dem Fenster. Die Berge lagen hinter ihnen. Sie waren wieder über flachem Land. Sand und Steppe glühten in der hereinbrechenden Dunkelheit. Die Aussicht wurde von Städten, Gebäuden und vereinzelten Lichtern unterbrochen.

 

»Wasser«, warf der Forstbeamte etwas plötzlich ein. »Das werdet ihr im Osten nie verstehen. Ihr habt mehr Regen in zwei Monaten, als wir in einem ganzen Jahr zu sehen bekommen. Ihr müsstet ohne Wasser sein, um es schätzen zu können.«

Das war wohl wahr. In New England kam das Wasser herunter, floss ab, gefror, schmolz, hing in der Luft, setzte den Keller unter Wasser oder vernebelte die Hügel. Es machte deine Haare strähnig, deine Kleider muffig, dein Brot schimmelig und deinen Garten kaputt. Es überflutete deinen Vergaser, machte dir Flecken an die Wände und brachte dich dazu, dir die albernsten Klamotten anzuziehen.

»Ihr habt zu viel Grünzeug«, fuhr er fort. »Verbringt euer halbes Leben damit, Gräser zu züchten und Unkraut zu jäten. Hier draußen ist der Trick, überhaupt etwas zum Wachsen zu bringen. Wir haben Pflanzen und Bäume in einer gewachsenen Schönheit, wie ihr sie niemals hinkriegen werdet. Aber es dauert da unten in der Prärie fünfzig Jahre, die Steppe fruchtbar zu machen. Und dann ist es noch nicht einmal besonders viel wert.«

»Das tut mir leid«, sagte Stoner unangebrachterweise.

»Also sind wir nicht besonders freundlich zu Leuten, die herkommen, nicht darauf achten, wo sie hintreten, an Bäumen rumschnitzen, alles zugrunde richten und töten. Und es Spaß nennen.« Er sah sie flüchtig an. »Sprechen Sie mal mit der Forstverwaltung, die sagt Ihnen das Gleiche. Wir bemühen uns, ein Stückchen hier und drei Stückchen da zu schützen. Aber wir verlieren. Wir zögern es ein wenig hinaus, aber früher oder später werden sie alles niedergemacht haben.«

»Es muss doch noch ein bisschen Hoffnung geben«, sagte Stoner verzweifelt.

»Na ja, sie haben Jackson Hole zum Naturschutzgebiet erklärt. Immerhin etwas. Zumindest so lange, bis diese Frackärsche in Washington ihre Meinung ändern und das ganze verdammte Ding hier an Spekulanten verkaufen. Da sind sie!«

Stoner wirbelte herum, in der Erwartung, dass sich im Gang ein Trupp Spekulanten und Gesetzgeber formierte. »Wer?«

»Die Tetons.«

In der Dunkelheit konnte sie gerade noch die Landebahn ausmachen und dahinter die harten, schwarzen Schatten der Berge. Im Norden blitzte ein Fluss im silbernen Mondlicht. Jackson lag am Südende der dunklen Ebene von Jackson Hole. »Wozu gehören die?«, fragte sie und zeigte auf eine vereinsamte Ansammlung von Lichtpunkten.

»Ein paar Häuschen«, sagte der Mann. Er blickte sich um, um sich zu orientieren. »Signal Mountain vielleicht. Am Jackson Lake.«

Stoner kniff die Augen zusammen und erblickte ein sich wie Quecksilber ausbreitendes Wasser. Weiter nördlich leuchteten ein paar Lichter in der Dunkelheit.

»Jackson Lake Lodge«, bemerkte ihr Begleiter.

»Heißt hier draußen alles Jackson?«

»Fast alles. Jackson war einer der ersten Trapper hier. Legte seine Fallen in der ganzen Gegend um den Snake River.«

»Kann man Timberline Lodge von hier aus sehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Es liegt in den Wäldern am Fuße des Teewinot. Wollen Sie dahin?«

»Ja.«

»Es wird von Ted und Stell Perkins geleitet. Nette Leute. Von Ted werden Sie nicht viel zu sehen bekommen. Er ist immer unterwegs. Stell führt eine der besten Küchen im Park.«

»Französisch?«, entfuhr es Stoner.

Fisch- und Wildbestand lachte. Etwas, wozu Stoner ihn bisher für unfähig gehalten hatte. »Stell würde niemals etwas auf den Tisch stellen, dessen Namen sie nicht aussprechen kann.«

Die beiden Orte zogen wie Ozeanriesen in einem Meer aus Dunkelheit und Mondlicht vorbei. Stoner fühlte, wie ihr Herz zu klopfen begann. Sie setzte sich aufrecht hin, stellte die Lehne ihres Sitzes gerade und versuchte, alles auf einmal mitzubekommen. Der Pilot ließ das Flugzeug in die Seitenlage gehen und begann seinen Anflug. Sie lehnte sich mit zitternden Händen zurück.

»Sagen Sie«, fragte sie so ruhig wie möglich, »wie lässt sich diese Gegend am schnellsten erkunden?«

»Touristen«, seufzte der Mann. »Immer in Eile.«

»Bitte.«

»Na ja, Bonneys Reiseführer ist ziemlich gut. Ist zwar seit 1972 nicht mehr neu aufgelegt worden, aber immer noch der beste. Sie werden ihn wohl beim Verein für Naturgeschichte bekommen und bei ähnlichen Stellen. Oder Sie besorgen ihn sich gleich bei der Ankunft in Moos. Wollen Sie irgendwohin ausreiten?«

»Reiten?« Stoner schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst vor Pferden. Aber ich würde vielleicht gerne ein bisschen wandern.«

»Kaufen Sie eine Wanderkarte, und gehen Sie niemals ohne sie irgendwohin. Halten Sie sich vom Hinterland fern. Gefährliches Gebiet da draußen. Der Höhenunterschied kann einem üble Streiche spielen.«

Das Flugzeug setzte auf und kam spotzend zum Stehen.

»Dieser Hurensohn hat das Ding heil runtergebracht«, sagte der Mann. »Ich schwöre bei Gott, eines Tages wird er im Granite Canyon bruchlanden.« Er zog einen Mantel aus der Gepäckablage. »Sie sollten sich lieber etwas überziehen. So, wie Sie angezogen sind, werden Sie sich den Hintern abfrieren. Angenehme Reise.« Er stakste durch den Korridor davon. »Touristen«, hörte Stoner ihn noch murmeln.

Sie stand allein auf dem verlassenen Flugfeld und fühlte die schwerfälligen Tetons mehr, als dass sie sie vor sich sah. Im schwachen Licht des Halbmonds waren die Berge kaum zu erkennen, aber ihre Anwesenheit war deutlich zu spüren. Ein schwaches Funkeln markierte die Gletscher in den höheren Lagen, und sie konnte die zackigen, zahnartigen Gipfel ausmachen, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aber am stärksten beeindruckte sie die schwere, ruhige Unpersönlichkeit der Berge. Es gab etwas Geheimnisvolles um sie herum. Stoner fühlte, wie sich ihr Körper anspannte. Sie holte ihren Mietwagen ab und besorgte sich eine Karte vom Park. Tatsächlich schien es gar nicht so einfach, hier verloren zu gehen. Nur zwei größere Straßen zogen sich durch das Gebiet, der Rockefeller Highway im Osten und die Teton Park Road im Westen, mit einer kleinen Zufahrt zum Jenny Lake. Zwischen beiden Straßen erstreckten sich Baseline, Antilope Flats und der sich schlängelnde Snake River. Timberline Lodge lag am Ende von Lupine Meadows, das sich entlang des Cottonwood Creek an die Berge schmiegte.

Ihre Beklommenheit löste sich, als sie nordwärts durch die ausgestorbene Nacht fuhr. Die Scheinwerfer des Wagens beleuchteten die Präriebüsche am Straßenrand. Ab und an blitzten winzige Augenpärchen auf und verschwanden wieder. Hölzerne Zäune, Xe aus rohen, jungen Baumstämmen, verbunden durch horizontal aufliegende Pfähle, säumten die Straße. Das war alles. Keine Bäume, keine anderen Autos, nur das Funzeln ihres Armaturenbretts und die Stille und die stumm daliegenden Berge. Die Nachtluft war frisch; sie fühlte sich ein wenig trunken, als sie einatmete. Fisch- und Wildbestand hatte recht. Sie wollte unbedingt alles auf einmal sehen. Das Mondlicht neckte sie mit Schattenspielen.

Sie bog in den schmalen Seitenweg mit dem kleinen, unauffälligen Wegweiser ein. Timberline Lodge. Die holperige Brücke, die das Vieh am Ausbrechen hindern sollte, bebte, als sie sie überquerte, um auf den Parkplatz einzubiegen. Stoner war überrascht, dass die Lobby fast leer war, als sie die Eingangstür leise hinter sich zuzog. Die Wände waren aus roh behauenen lackierten Holzbohlen, die sich in den Ecken verzahnten. Die gesamte Lodge hatte die Form eines großen L. Direkt gegenüber der Eingangstür befand sich der Durchgang zu etwas, das nach einem Speiseraum aussah und sich, wie über dem Durchgangsbogen zu lesen stand, Highland Room nannte. Rechts davon lag ein Ausgang und gleich daneben der Stampede Room, vielleicht war das die Bar? Ein matter Lichtschein fiel in den Flur, begleitet von undefinierbarem Gemurmel aus einem Fernseher. Es klang wie ein Spielfilm. Stoner schaute auf ihre Armbanduhr, die sie bereits auf die Zeitverschiebung umgestellt hatte. Viertel nach elf. Zu Hause müsste es jetzt nach eins sein.

Ein Kamin beherrschte die Nordwand des Raumes. Aus Holzscheiten züngelten laut knackend fingerförmige Flammen. Zwei junge Männer saßen am Feuer und lasen. Sie hatten ihre Füße gegen eine aus Steinen aufgeschichtete Ofenbank gestützt. Der Raum ließ sie wie Zwerge wirken. Alles war so ruhig. Sie fühlte sich etwas fehl am Platz, drückte aber dennoch selbstbewusst die Klingel.

Eine große, schlanke Frau erschien aus dem Speiseraum und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie hatte braunes Haar mit grauen Strähnen darin, ihre Augen waren haselnussfarben. »Sie müssen Stoner Mc Tavish sein«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. »Wir haben Sie schon erwartet.«

Stoner schüttelte ihr die Hand, überrascht von der Rauheit ihrer Haut und der Festigkeit ihres Griffes. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht mitten in der Nacht wie ein Dieb hereinschleichen.«

»Hereinschleichen? Diese Viehbrücke da draußen ist bis zu den Campingplätzen von Jenny Lake zu hören. Seit sechs Jahren beknie ich Ted, das klappernde Ding endlich in Ordnung zu bringen. Ich bin Stell Perkins. Nenn mich Stell. Tasse Kaffee?«

»Das wäre schön«, sagte Stoner.

»Park deinen Koffer hinterm Tresen. Wie war der Flug?«

»Ein bisschen verwirrend. Ich meine, ich habe noch nie zuvor eine Landschaft wie diese gesehen. Soweit ich überhaupt was gesehen habe, meine ich.« Aus irgendeinem Grund kam sie sich wie fünfzehn vor. »Ist hier immer so viel – Weite?«

Stell lachte, warf einen Arm um ihre Schulter und schob sie in den Speiseraum. »Manchmal gibt es hier auch etwas mehr. Es macht dir nichts aus, in der Küche zu sitzen, oder?«

Eine einzige Lampe brannte im Highland Room und erleuchtete die hohen Fenster gegen die schwarze Nacht. »Diese gehen hinaus auf die Cathedrals«, erklärte Stell, »eine Berggruppe. Sie heißen Middle, Grand, Owen und Teewinot. Bei Tag ist der Blick sehr beeindruckend.«

Stoner spähte im Zimmer umher. Ein weiterer Kamin stand vor der südlichen Wand. Seine Kohlen waren bis auf die Glut heruntergebrannt. Die Tische waren aus lackiertem Holz, die Stühle aus Holz und ungegerbtem Leder. Ein gigantisches Wagenrad, mit Lampen ausgestattet, hing mitten im Raum.

»Sieht aus wie aus einem Film«, sagte sie, etwas überwältigt.

»Vermutlich ist es das. Alles hier draußen ist sich im Stil ziemlich ähnlich. Außer dem modernen Zeug in Teton Village. Tut mir leid wegen der Sauna.«

»Bitte? Ich kann nicht ganz folgen.«

»Deine Partnerin – Kesselbaum? – Als sie anrief, um deine Reservierung zu machen, fragte sie nach einer Sauna.«

Stoner spürte, wie sie rot wurde. »Ich hasse Saunen. Sie geben mir das Gefühl, ich sei ein Versuchskaninchen, das in einem Laboratorium künstlich zum Wachsen gebracht werden soll. Marylou ist ein bisschen verrückt.«

Stell zuckte die Achseln. »Wer ist das nicht. Lass mich dir kurz die Gegebenheiten hier erklären, dann kannst du dich zurückziehen. Wir haben ständig etwa sechzig Gäste hier. Dreißig in den Hütten draußen und dreißig oben in den Zimmern. Glücklicherweise war Kleiner Bär noch frei.«

»Kleiner Bär?«

»Unser Ausweichhäuschen. Bequem genug für zwei, aber da unsere meisten Gäste Familien sind, steht es im Allgemeinen leer. Oder eine große Gruppe mietet den Großen Bären und legt ein paar Kinder im Kleinen Bären zusammen.«

»Verstehe«, sagte Stoner.

»Es liegt etwas abseits, also bist du völlig ungestört.«

Sie hielt die Küchentür auf, und Stoner trat ein. Es war Liebe auf den ersten Blick. Rücken an Rücken mit dem Kamin im Speiseraum war hier ein weiterer, komplett mit eingebauten Steinöfen zum Backen. Über der Feuerstelle hing ein schwarzer Kessel an einer eisernen Stange. Eine alte Colliehündin blinzelte sie von ihrem Platz beim Feuer an.

»Das ist Chipper«, sagte Stell. »Nicht mehr zu viel nütze, aber immer noch geliebt. Sie ist etwas taub und ein bisschen langsam, aber sie war mal eine große Mäusejägerin. Warst du doch, meine Kleine?« Stell beugte sich hinunter und kraulte Chipper hinter den Ohren. Die Hündin wedelte voller Entzücken mit ihrem Schwanz. »Hoffe, es macht dir nichts aus, wenn wir ein wenig auf die gehobenen Umgangsformen verzichten«, sagte die ältere Frau, während sie zwei schwere, weiße Kaffeebecher aus dem Tassenregal über dem Ausguss nahm. Sie füllte sie aus einem Blechtopf, der auf der hinteren Flamme eines riesigen schwarzen Gasofens gestanden hatte. »Zucker?«

 

»Nein danke.«

Eine kübelähnliche Vorrichtung war an einem alten Tisch von der Solidität eines Fleischhaublocks angebracht, der die ganze Länge der Küche einnahm. Stell drehte eine Kurbel von oben hinein. »Stört doch nicht, wenn ich das hier fertig mache, während wir reden? Sauerteigbrot ist eines unserer Aushängeschilder.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass ihr hier irgendwelche Attraktionen braucht«, bemerkte Stoner. »Es ist so wunderbar hier.«

»Danke. Es war die Familienranch meines Mannes, lange bevor hier alles zum Nationalpark erklärt wurde. Dann führten sie es eine Zeitlang als Farm für zahlende Stadturlauber, bis es schließlich zu dem wurde, was es jetzt ist. Einer der wenigen Privatbetriebe, die im Park übriggeblieben sind.«

Stoner nahm einen Schluck Kaffee. Die bittere Schärfe öffnete ihr schlagartig die Augen. »Gott im Himmel«, sagte sie.

Stell lachte. »Cowboykaffee. Wasser und Kaffeepulver zusammen aufgekocht, dazu ein paar Eierschalen reingeworfen, damit er sich setzt.«

»Schmeckt aber nicht besonders gesetzt«, sagte Stoner. »Ich meine …«

»Du wirst dich daran gewöhnen. Er geht genauso stark an die Nerven, wie er schmeckt. So.« Stell hob den Teig auf die bemehlte Tischplatte und begann die Brotlaibe zu formen.

»Wie viele machst du davon pro Tag?«, fragte Stoner.

Stell strich sich das Haar aus der Stirn, eine weiße Strähne blieb zurück. »Wir haben unsere regulären Gäste zum Frühstück und ungefähr zehn zusätzlich – Laiendarsteller und Forstpersonal. Mittags normalerweise fünfzehn und zusätzlich etwa zwanzig Verpflegungspakete. Zum Abendessen erwarten wir noch mal um die vierzig. Schätze, ich mache so dreißig Brote am Tag.«

Stoner stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ’ne Menge Arbeit.«

»Nicht mehr, als drei zu machen«, sagte Stell. »Wie auch immer, solltest du zum Abendessen nicht hier sein, wäre es nett, wenn du es Pat wissen lässt. Sie ist die Chefkellnerin. Du kannst es ihr beim Frühstück sagen. Und falls du ein Verpflegungspaket brauchst, kannst du das auch gleich beim Frühstück bestellen. Kurz nach neun ist es dann abholbereit.«

»Soll ich Bescheid sagen, wenn ich kein Frühstück will?«

»Du willst. Diese Berge wirken sich verheerend auf jede Diät aus.«

Stoner stützte ihre Arme auf den Tisch und nippte an ihrem Kaffee. »Mir fiel auf, dass es hier schrecklich ruhig ist«, sagte sie. »Ist das so, weil hier hauptsächlich Familien wohnen?«

»Die Höhe. Wirft dich um, wenn du sie nicht gewöhnt bist. Hast du unsere kleine Bar gesehen?«

Stoner nickte.

»Tony, der Mann hinterm Tresen, wäre ohne weiteres bereit, die Bar die ganze Nacht offen zu halten, aber gewöhnlich ist sie ab zwölf wie ausgestorben.«

Stell schob fertig geformte Teiglaibe in die Reihe wartender Brote. »Jetzt, wo ich darüber nachdenke – ich habe Tony noch nie schlafen sehen.«

»Vielleicht ist er ein Vampir«, bemerkte Stoner.

Stell schmunzelte. »Vielleicht.« Sie wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. »Tja, kann ich dir noch mehr über Timberline erzählen?« Sie machte eine Geste in Richtung Speiseraum. »Du hast Highland Room gesehen. Gleich draußen vor der Tür, die zwischen der Treppe und der Bar ist, gibt es eine offene Feuerstelle, um die herum man sitzen kann. Die örtlichen Forstbeamten laden immer donnerstagabends zu Gesprächen am Feuer ein. Oder unsere Gäste sitzen dort und erzählen sich von ihren Hobbys und ihren Reisen. Gelegentlich haben wir auch eine kleine Sonntagsandacht, wenn sich bei uns ein Geistlicher aufhält. Aber wir reißen uns nicht darum.«

»Warum nicht?«

»Na ja, es macht die Gäste unruhig, weil sie es irgendwie als eine Verpflichtung ansehen. So was ruiniert die Erholung.« Sie zog ein Geschirrtuch hervor und wischte kurz die Spüle trocken. »Von der Feuerstelle aus führen zwei Pfade weg. Einer nach Jenny Lake, der andere nach Taggart. Sie sind markiert. Der nächste Arzt ist in Jackson, aber es gibt im Notfall eine Krankenschwester in Jackson Lake Lodge. Wir haben hauseigene Ställe. Solltest du einen Ausritt oder eine Wanderung machen wollen, ist es eine gute Idee, sich registrieren zu lassen. Sollte dir irgendetwas zustoßen, wird so jemand über kurz oder lang nach dir suchen kommen. Versteht sich von selbst, dass das nicht für die gängigen Routen gilt. Unser Stallmeister heißt Jake. Man kann ihn als etwas schweigsam bezeichnen, aber das braucht dich von nichts abzuhalten. Unsere Kellnerinnen und Zimmermädchen sind College-Studentinnen. Die Bettwäsche wird alle drei Tage gewechselt. Habe ich irgendwas vergessen?«

»Ich bezweifle es«, sagte Stoner. Sie begann, sich müde zu fühlen.

»Du kannst ja jederzeit fragen.« Stell warf ihre Schürze über eine Ecke der Spüle. »Deine Partnerin sagte, wir sollen darauf achten, dass du keinen Blödsinn machst. Hast du irgendwelchen Blödsinn vor?«

Stoner lachte. »Echt Marylou. Sie ist …«

»… ein bisschen verrückt. Wie auch immer, es zahlt sich aus, vorsichtig zu sein. Die Gegend hier draußen ist ziemlich tückisch.«

»Schlimmer als Boston kann es eigentlich nicht sein.«

»Oh doch. Es kann. Wenn dir hier draußen etwas zustößt, bist du mutterseelenallein.« Sie drückte herzlich Stoners Schulter. »Ich zeig dir mal, wie du zu deiner Hütte kommst.«

Stoner trank ihren Kaffee aus und folgte Stell durch den dunklen Speiseraum in die Lobby.

»Hier«, sagte Stell und zeigte auf eine alte, vergilbte Karte. »Du gehst genauso raus, wie du reingekommen bist, bis zum Parkplatz. Von der Straße aus gesehen liegen links die Hütten Rockchuck, Wapiti, Luchs, Elch und Bronco. Rechts Coyote, Mustang, Großer und Kleiner Bär. Kleiner Bär liegt ein paar Meter den Abhang hinauf. Die Nächte sind jetzt schon sehr kalt, deshalb hab ich ein Feuer angemacht. Wirf noch ein paar Holzscheite drauf, bevor du dich schlafen legst, es müsste dann eigentlich bis morgen früh reichen.«

Stoner unterdrückte ein Gähnen, nahm ihren Schlüssel und ihren Koffer. »Danke, Stell. Oh, da fällt mir ein, ich soll mich hier nach jemandem umschauen, wenn ich schon hier bin. Kannst du mir sagen, wo die Oxnards wohnen?«

Ein befremdeter Ausdruck huschte über Stells Gesicht. »Freunde von dir?«

»Freunde einer Freundin. Ich hab sie noch nie gesehen.«

»In der Nez-Percé-Suite, die Treppe hoch.«

Stoner zögerte. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

»Nein, nein«, sagte Stell und zuckte die Achseln. »Die Frau scheint sehr nett zu sein. Ich kann mich nur nicht recht für ihren Mann erwärmen. Mit manchen Menschen geht’s einem eben so. Im ersten Augenblick denkst du, etwas stimmt nicht, aber schließlich sagst du dir, alles nur Einbildung …«

»Und sechs Monate später stellst du fest, dass du recht hattest«, beendete Stoner den Satz. »Was stört dich an Bryan Oxnard?

Stell runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich kann es nicht so genau sagen. Ein bisschen zu sehr von sich selbst überzeugt, für meinen Geschmack. Ich denke, es kann nicht schaden, erst mal zu probieren, bevor man mit dem Salzstreuer über das Essen geht. Weißt du, was ich meine?«

»Allerdings.«

»Vermutlich sollte ich nicht klatschen, aber da wir scheint’s in der gleichen Branche sind, können wir auch die gleiche Sprache sprechen.«

»Ich verrate nichts«, sagte Stoner.

»Da fällt mir was ein. Deine Partnerin sagte, wir sollen dafür sorgen, dass du nicht wie üblich mit fünfzig Kilo Prospekten nach Hause kommst. Sie meinte, ihr könntet die zusätzlichen Frachtkosten nicht verkraften.«

Stoner lachte. »Sie versucht, genügend Geld aus der Portokasse abzuzweigen, damit sie uns einen Cremespeiseautomaten kaufen kann.«

»Was wollt ihr denn in einem Reisebüro mit einem Cremespeiseautomaten?«

»Du müsstest Marylou kennen, um das zu verstehen«, sagte Stoner.

»Na gut, am besten machst du dich jetzt auf den Weg. Der Morgen kommt sehr früh in diesen Breiten.«