Blaue Blumen zu Allerseelen

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Maddalena und der Preis von Baumwollgarn

Niemand hätte nach einem Gang durch die Büros der Mordkommission diesen Tag für einen Sonntag im Sommer gehalten. Es herrschte das gleiche Kommen und Gehen wie an jedem anderen Tag, sommers wie winters, an Wochentagen wie an Feiertagen, abgesehen von einer größeren Dichte an Drogensüchtigen unten in der Nachtaufnahme. Das Verbrechen, man weiß es ja, macht keine Ferien. Diesen Satz hatte Spotorno zum ersten Mal aus dem Mund eines Polizeipräsidenten mit tragischer Aura gehört, der überzeugt war, in seiner kleinen Abschiedsansprache vor dem Aufbruch zu ruhigeren Gestaden tiefschürfende Weisheiten zum Besten geben zu müssen.

In der großen Amtsstube hämmerte Puleo auf der Tastatur eines Computers herum, auf dessen Monitor eine Überzahl grüner, viel zu heller Buchstaben tanzten. Er begrüßte Spotorno mit dem üblichen, respektvollen Buon giorno, Dottore. Dann erhob er sich, folgte ihm in sein Büro und wies ihn, als wäre das überhaupt nötig, auf einige Papiere auf dem Schreibtisch hin. Spotorno hinterließ seinen Schreibtisch immer aufgeräumt und wäre sowieso nicht darum herumgekommen, sie zu bemerken. Es war der vorläufige Autopsiebericht.

Zwei Täter hatten geschossen. Zumindest waren zwei unterschiedliche Waffen eingesetzt worden. Bei Gaspare Mancuso, genannt Asparino, hatten sie insgesamt siebzehn Ein- und Austrittswunden gezählt. Und zwischen der Leiche, dem Innern des Fiat 127 und dem Ort der Schießerei hatten sie zwölf Projektile mit zweierlei Kaliber bergen können. Das bestätigten auch die zwölf um den Wagen herum aufgefundenen Patronenhülsen, sieben aus einer 38er und der Rest aus einer 765er.

Was Spotorno oft die Stirn runzeln ließ, waren die ganzen Details zur Todesursache, als wäre es von wer weiß welcher Bedeutung festzustellen, ob nun die Kugel, die die Leber zerfetzt hatte, schließlich zum Exitus von Mancuso geführt hat oder die, die seine Lunge durchquert, oder noch eine andere, nämlich die, die seine Aorta beschädigt hatte. Ganz zu schweigen vom Ausmaß der Zerstörung, das die Kugel, die sie ihm in die Stirn geschossen hatten, in seinem Kopf hinterlassen haben musste.

Spotorno zweifelte nicht daran, dass diese Dinge in einem schönen Verbrechen auf dem Papier, in den Fällen eines Kriminalromans, ihre Bedeutung hatten. Aber beim Großteil der Schießereien mit tödlichem Ausgang, mit denen Beamte wie er es zu tun kriegten, war es absolut eindeutig, dass jemand das Opfer mit Blei durchsiebt hatte und dass das die Todesursache war, ohne dass Einzelheiten eine Rolle spielten. Und in diesem aktuellen Fall erschien es ihm wie ein Wunder, dass Rosario von all den Kugeln, die nicht für ihn bestimmt waren, lediglich eine einzige erwischt hatte. Ein schwacher Trost, angesichts dessen, dass er sich diese an der falschen Stelle eingefangen hatte.

Bis dato war noch nicht mit Gewissheit zu sagen, ob unter den aufgefundenen Projektilen auch dasjenige war, das seinen Kopf von einer Schläfe zur anderen durchquert hatte; doch den ersten Ergebnissen zufolge war er aus einer 765er getroffen worden.

Am Samstagnachmittag hatte die Zusammenkunft mit dem Chef der Mordkommission stattgefunden.

Es war noch zu früh für Hypothesen über das Blutbad, also darüber, ob sie von einer einzelnen Gelegenheitstat, wie zum Beispiel einer Bestrafung für einen Regelverstoß, ausgehen mussten oder ob sie ein erstes Anzeichen für etwas sehr viel Größeres vor sich hatten. Die kommenden Stunden und Tage sollten die entsprechenden Antworten liefern. Entweder aufgrund eines Mangels oder eines Übermaßes an Ereignissen. In der Zwischenzeit hieß es, die Informanten auszuquetschen. Und mit der hoffnungslosen Prozedur der Zeugenaussagen und den frustrierenden Befragungen der Familienangehörigen fortzufahren.

Ausgeruht und mit klarem Kopf versuchte Spotorno, Ordnung in die am Vortag vorsichtig erstellte Rekonstruktion zu bringen. Währenddessen verließ Puleo den Raum und kehrte einige Minuten später mit zwei kleinen Plastikbechern in der Hand zurück. Spotorno nippte an dem kochend heißen Kaffee ohne Zucker, so wie er ihn haben wollte. Puleo setzte sich ihm gegenüber und schlug die langen Beine übereinander.

Der himmelblaue Fiat 127 gehörte Rosario Alamia. Das hatten sie umgehend bei der Kontrolle der Wagenpapiere festgestellt. Aber er war nicht der ursprüngliche Besitzer. Vorbesitzerin war Anna Manfredi, wohnhaft in Monreale, in der Piazzale dei Martiri della Resistenza Nummer 12. Zumindest war sie dort vor neun Jahren, zur Zeit der Fahrzeugzulassung gemeldet gewesen. Der Fahrzeughalterwechsel hatte vier Jahre später stattgefunden.

Spotorno dachte, dass der Wagen gut ins Bild und zu Rosarios gesamter Erscheinung passte. Mancusos Führerschein war nach einem Antrag der Abteilung für Präventivmaßnahmen beim Landgericht auf Anordnung des Polizeipräsidenten eingezogen worden. Vielleicht war Rosario also Mancusos Chauffeur gewesen.

Spotorno zog die Aufnahmen vom Tatort hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Als die Schießerei losgegangen war, musste der Wagen fast gestanden haben. Die Streifenwagen hatten ihn an der Ecke zwischen Via degli Emiri und Via Damasco vorgefunden, der erste Gang war eingelegt, die Zündung eingeschaltet und der linke Blinker gesetzt.

Rosario hatte noch nicht mit dem Abbiegemanöver begonnen. Als er getroffen wurde, war sein Fuß von der Gangschaltung gerutscht, und der Wagen hatte sich noch fast einen Meter weit in Richtung Fahrbahnmarkierung der Via degli Emiri bewegt, bevor der Motor ausging. Den Ein- und Austrittswunden an den Schläfen nach musste Rosario den Kopf nach links gedreht haben, um zu sehen, ob Fahrzeuge aus der Via degli Emiri kamen. Folglich war die Kugel, die ihn getroffen hatte, eine der ersten gewesen, andernfalls hätte er noch die Zeit gehabt, sich umzudrehen, zur entgegengesetzten Seite, aus der die Schüsse kamen. Dann hätte er das Projektil an einer frontaleren Stelle am Kopf abgekriegt.

Die Schüsse waren alle von rechts gekommen, einige durch das Seitenfenster neben dem Beifahrersitz, andere durch die Heckscheibe, was noch deutlicher machte, dass der einzige Adressat dieses ganzen Segens Gaspare Mancuso, genannt Asparino, war.

Die letzten Bewegungen der beiden Ermordeten zu rekonstruieren, war nicht schwierig gewesen. Auf dem Rücksitz des Wagens lag ein Plastikbeutel und darin, eingeschweißt in Zellophan, Fisch.

In der Via Damasco, ein paar hundert Meter weiter oben, gab es einen Fischhändler. Name und Anschrift des Ladens standen in roten Buchstaben auf beiden Seiten der Plastiktüte. Der Ladenbesitzer hatte es anfangs mit ein paar Ausflüchten versucht, bis ihm Puleo den Beutel mit den Fischen und dem aufgedruckten Namen seiner Firma unter die Nase gehalten hatte. Erst dann hatte der Mann zugegeben, dass ja, vielleicht ein himmelblauer Fiat 127 vor seinem Geschäft Halt gemacht hatte und einer der beiden Insassen ausgestiegen war, um ein paar Kilo Makrelen zu kaufen.

Fangfrisch waren die, wollte er unbedingt klarstellen. Alle wüssten, dass nirgendwo sonst so frischer Fisch zu haben war wie bei ihm, nicht einmal an den Verkaufsständen von Porticello. Ja, genau. Wenn er dem Dottore welche anbieten dürfte, es sei nämlich gerade eben eine Steige mit noch lebenden Babyfischen eingetroffen, die …

Puleo starrte ihn an. Dann fragte er, ob der Kunde mit dem Fiat 127 öfter käme, um bei ihm Fisch zu kaufen.

— Dottore, ich kann mir keine Gesichter merken. Und Namen genauso wenig. Meine Frau tadelt mich immer deswegen, sie behauptet, ich würde nicht einmal meine eigenen Kinder erkennen, wenn ich ihnen unterwegs begegnete. Und außerdem schau ich ja nicht auf die Gesichter der Kunden; die Fische schau ich an. Ob Fliegen auf ihnen sitzen, ob sie noch etwas frisches Eis brauchen, ob ich sie besser mit frischem Wasser bespritzen soll. Sie wissen ja, das Auge isst mit, und für bestimmte Kunden zählt mehr das Aussehen als die Substanz. Einigen Leuten genügt es, vier stinkige Ulvenfresser auf dem Vucciria-Markt zu sehen, die schön drapiert zwischen frischen Algen liegen, und schon blättern sie dafür Summen hin wie für Kabeljau. He, aber nicht bei mir! Meine Kunden würden mir solche Salpen um die Ohren hauen; ich biete ausschließlich Ware erster Wahl. Stellen Sie sich vor, bei mir kauft sogar die Küchenhilfe des Staatsanwalts ein. Fragen sie ruhig, wen immer Sie wollen: Im Haus des Staatsanwalts kommen heute Meerbarben von Angelino Rotella auf den Tisch … Sehen Sie doch selbst, wie frisch!

Puleo hatte den Laden sehr erleichtert verlassen, denn der Fischgeruch, vermischt mit dem konkreten Bild des vielen Bluts im Innern des Fiat 127 und der noch immer sehr lebendigen Erinnerung an den Thunfisch in süßsaurer Sauce vom Vorabend, war drauf und dran in aller Öffentlichkeit Verheerendes zu bewirken. Den Anblick der fleischigen, fast scharlachroten Barben auf einem Bett aus gehacktem Eis auf der Marmortheke des Fischgeschäfts wollte er jedenfalls möglichst lange aus der Reichweite seiner Gedanken halten. Vielleicht würde er nie wieder Appetit auf Fisch verspüren, dachte er. Und dabei fühlte er, zu seinem eigenen Leidwesen, eine Mischung aus Ekel und Wehmut.

Ein paar Stunden nach dem Überfall war die Meldung von einem brennenden Motorrad in der Gegend von Sant’Erasmo hereingekommen. Die Täter hatten es am Rand einer staubigen, kahlen Freifläche hinter halbeingestürzten und unbewohnten Häusern, wenige Meter vom Meer entfernt, zurückgelassen und in Brand gesetzt, bevor sie dann ein anderes, höchst wahrscheinlich unverdächtiges Fahrzeug bestiegen. Das war die herkömmliche Mafiapraxis, wenn es überhaupt noch weiterer Bestätigung bedurfte.

Zeugen hatten von einem schweren Motorrad gesprochen, das wenige Minuten vor dem Überfall an der Kreuzung zwischen Via degli Emiri und Via Damasco gestanden hatte. Aber niemand hatte auf zwei unauffällig gekleidete Männer mit Motorradhelm auf dem Kopf geachtet. Die Kreuzung schien der ideale Platz für einen Überfall zu sein: Die Autos mussten hier vor dem Abbiegen stoppen, die Häuser waren dank breiter Straßen recht weit voneinander entfernt, und im Übrigen war die Sicht durch Bäume verstellt.

 

Die Zeugen, ein Universitätsdozent mittleren Alters und seine Frau, hatten vom Balkon ihrer Wohnung geschaut. Sie behaupteten, vor der Schießerei wieder hineingegangen zu sein. Was hieß, sie wussten keine Einzelheiten. Die Ermittler erwarteten sich auch keine: Sie lagen ohnehin bereits über dem Durchschnitt, was die Zahl der Zeugen bei Ereignissen dieser Art anging.

Spotorno ertappte sich dabei, wie er sich im Büro umsah, als suchte er nach etwas, das seinen Verbleib dort unumgänglich machte. Dafür gab es eine Unmenge Gründe, das wusste er nur allzu gut. Papierkram, der in Normalzeiten die Aufopferung eines Sommersonntags – in Gedanken immer bei den Kindern, die unter fortgesetztem Mangel an väterlicher Zuwendung litten – gerechtfertigt hätte, und natürlich erst recht am Tag nach einem Mafia-Doppelmord. Aber er wusste auch, dass er in Wirklichkeit nach einem Alibi suchte, um den Besuch bei Signora Rosa zu umgehen.

Schließlich gab er sich einen Ruck. Eine halbe Stunde Trauerbesuch, dachte er, dann hätte er seine Pflicht getan.

Er passierte wieder das Großraumbüro und warf Puleo einen Blick zu. Ohne den Doppelmord und mit einer Verlobten in der Nähe und nicht im siebenhundert Kilometer entfernten Torre del Greco wäre Puleo an einem Vormittag wie diesem sicher nicht so lange in den Büroräumen der Mordkommission geblieben, zumal es sein freier Tag war.

Neben der Tastatur lauerte ein einschüchternder Wälzer mit dem Titel Handbuch des Konkursrechts. Der Polizeiobermeister widmete sich ihm mit Begeisterungsschwüngen, die oft ins Stocken gerieten wie ein Schwimmender inmitten eines Teppichs aus Braunalgen. Inzwischen fehlten ihm nur noch wenige Prüfungen, und zu Beginn des neuen akademischen Jahres sollte er eigentlich auch das Thema für seine Abschlussarbeit erfahren. Er wollte jedoch lieber nicht zu viel Gas geben, um seinen guten Notendurchschnitt nicht zu gefährden, den er trotz der harten, verantwortungsvollen Arbeit bei der Mordkommission hatte halten können. Zumal es ihm bisher gelungen war, seinen beruflichen Ehrgeiz nicht in Übereifer ausarten zu lassen.

Spotorno, wie jeder tüchtige Bulle mit gesunden Prinzipien, misstraute dem Eifer; er hielt große Stücke auf den jungen Mann, den er oft mit herzlicher Ruppigkeit behandelte. Als Puleo zur Polizei kam, hatte er nur einen Mittelschulabschluss vorzuweisen. Innerhalb von drei Jahren holte er dann als Externer seine Fachhochschulreife nach. Und zu gegebener Zeit, Spotorno hatte da keine Zweifel, würde das juristische Staatsexamen folgen. Und weiß der Himmel, ob Puleo danach seine Karriere im Polizeidienst fortsetzen oder lieber den großen Sprung wagen und sich irgendwo in der Nähe seines Zuhauses als Praktikant einer Anwaltskanzlei verdingen würde. Spotorno glaubte nicht ohne Grund, dass die Zukunft des jungen Mannes fast gänzlich in den unbekannten Händen der zukünftigen Signora Puleo lag.

— Save’, warum drehst du nicht eine schöne Runde? Oder besser noch, schnapp dir die Badehose, fahr nach Mondello und geh ein paar Meter schwimmen; lass es gut sein für heute mit deinem Buch, schlepp es nicht unnötig mit dir herum. Heute Abend schaust du dir noch einen schönen Film im Arena an, und morgen fühlst du dich wie neugeboren. Wenn ich könnte, würde ich es genauso machen …

Er ging nicht davon aus, dass Puleo seinen Rat befolgen würde. Vielmehr würde er sich in seine Miniwohnung in der Nähe vom Corso Pisani begeben, die er mit zwei Kollegen teilte, und lernen, bis ihm der Kopf rauchte.

Draußen blieb Spotorno einen Moment lang neben seinem weißen Fiat 131 stehen, den er mühsam in Schuss hielt, unentschieden, ob er einsteigen oder zu Fuß gehen sollte. Die Sonne knallte ihm auf den Schädel, aber im Auto würde es noch schlimmer sein, denn er hatte keinen Parkplatz im Schatten gefunden. Der Anblick des üppig blühenden Parks der Villa Bonanno gab den Ausschlag. Das war seiner Meinung nach der schönste Platz der Stadt, besonders bei diesem Licht. Und wenn man bedachte, dass die Stadtplaner einmal wer weiß wie auf die Schnapsidee gekommen waren, die sehr hohen Palmen und die großen Platanen ausreißen zu wollen, um einen kahlen, einsamen Waffenplatz daraus zu machen. Dennoch beschloss er, nicht durch den Park zu gehen, sondern die schattigen Gassen vorzuziehen.

Er passierte die Fassade mit der leeren Rosette, das einzige Überbleibsel der Kirche Sant’Annunziata dello Scutino, halbverborgen von einer jungen Großblättrigen Feige, die sich da illegal eingenistet hatte und früher oder später ihr Werk vollbringen und auch die wenigen verbliebenen Mauerreste zum Einsturz bringen würde. Weiter überquerte er die Piazza San Giovanni Decollato, ging unter dem Torbogen jenseits des Palazzo Sclafani hindurch und bog in die Via dei Biscottari ein, wo er unmittelbar das Tempo drosselte. Jetzt bewegte er sich mit der Gemächlichkeit eines Kreuzfahrtdampfers voran, die niemand aus seinem Büro bei ihm für möglich gehalten hätte. Für gewöhnlich legte Spotorno den typischen Schritt eines Bullen an den Tag, der Hindernisse nicht umgeht, sondern sie überrennt. Von Zeit zu Zeit aber gönnte er sich eine Pause. Die Sandsteinplatten, mit denen die Gassen in den Quattro Mandamenti, den vier Altstadtbezirken Palermos, gepflastert sind, schienen wie geschaffen für Entschleunigung und kontemplatives Spazieren, getragen vom Rhythmus der auf Stein schlagenden Absätze. Er schüttelte den Gedanken ab, dass diese Verlangsamung heute nichts weiter als die Verlängerung des Reflexes eines ganzen Vormittags sein könnte, nämlich den Moment des Trauerbesuchs hinauszuschieben. Nein, dachte er, es ist purer Genuss.

Sein Weg führte ihn durch die Via Puglia und über die Piazza Santa Chiara hinweg. Die Zahl der sudanesischen, nigerianischen, ghanaischen, ivorischen, mauretanischen, senegalesischen und kapverdischen Familien in diesem Viertel wuchs beständig. Sie hatten sich vor einigen Jahren in den von Einheimischen verlassenen, heruntergekommenen Häusern niedergelassen und zahlten dafür oft Wuchermieten. Die Nordafrikaner konzentrierten sich vor allem auf die Gegend unterhalb der Via Maqueda, im Bezirk Tribunali-Castellammare. Ein Teil der Sri Lanker verteilte sich rings um den Borgo Vecchio, ein anderer Teil in der Gegend der Poliklinik oder im Umkreis der Zisa.

Durch den weitgeöffneten Laden einer ebenerdigen Behausung fiel sein Blick auf einen Schwarzen in weißem Kaftan, der Anstalten machte, einem anderen Schwarzen, der ebenfalls in weißem Kaftan auf einem zerfledderten Barbierstuhl saß, die Haare zu schneiden.

Dieses Bild sorgte bei ihm unerklärlicherweise für ein Gute-Laune-Kribbeln unter der Haut. Er legte einen Schritt zu. Jetzt konnte er es kaum erwarten, das zu erledigen, was er mit einem Anflug von schlechtem Gewissen innerlich zur »Angelegenheit Brancato« erklärt hatte.

Er bog auf die Salita Raffadali ab, ging bis zur Chiesa del Gesù hinunter und weiter auf der Via del Ponticello. Die Frangipani reckten in voller Blüte und nach Licht dürstend ihre schlängelnden Zweige von den Balkonen zur Straßenmitte hin. Spotorno erhaschte eine fallende Blüte und sog ihren noch immer kräftigen Duft ein. Nur wenige Personen waren unterwegs, vorwiegend Männer, die allermeisten Schwarze.

Vor allem deswegen bemerkte er die Frau. Sie stach ins Auge wie die weiße Flagge der Kapitulation vor dem niedergebrannten Hintergrund der gefallenen Festung. Spotorno kam der Anfang eines alten Gedichts über die Lippen:

Hoch lebe Venedig, grausam und stolz …

Er strengte seine grauen Zellen an, konnte aber nur noch weitere zwei Zeilen aus der Versenkung holen:

… die Pest wütet, es mangelt an Brot,

auf der Brücke, da weht die weiße Flagge.

Bianca – weiß – war die Vokabel, die in einem freien Assoziationsspiel im Geiste derer aufblühen würde, die dieser Frau begegneten. Sie hatte den weißesten Teint, der Spotorno jemals begegnet war. Zu diesem Weiß hatte sich noch eine zusätzliche Blässe gesellt, möglicherweise das Ergebnis einer heftigen Emotion, die die Frau nur mühsam zu beherrschen schien. Ihre Augen waren so gerötet, als hätte sie gerade sämtliche, ihr zur Verfügung stehenden Tränen geweint.

Spotorno hatte das deshalb feststellen können, weil die Frau aus einem der Häuser in der Via del Ponticello heraus direkt auf ihn zu kam und sich ihre Wege kreuzten, bevor sie in einen nachtblauen Lancia Y10 einstieg. Aus der Nähe und dank des pechschwarzen glatten und bis auf die Schulter reichenden Haars und ihrer eher schlichten Kleidung leuchtete das reine Weiß noch mehr. Sie war gewiss keine Schönheit. Ihre Figur war etwas eckig, als wäre sie bereits mehrfache Mutter, und ihre Gesichtszüge hätten bei einem oberflächlichen Blick als nichtssagend gelten können. Amalia wiederum hätte sie ganz sicher als interessant bezeichnet.

Die Frau fuhr los und hinterließ bei Spotorno das Echo einer verhaltenen und doch unbefriedigten Neugier. Er schätzte sie auf etwa fünfunddreißig. Für ihn war es fast wie ein Reflex: Sämtliche Anomalien wurden in seinem Polizistenhirn sofort klassifiziert und archiviert.

Nach der Via Maqueda bog er in die Via Calderai ab, die wie verwaist war – ein völlig ungewohnter Anblick. Die Handwerkerläden waren alle geschlossen, bis auf einen, der Särge verkaufte. Im Vorbeigehen nahm er im Innern etwa ein Dutzend Särge von unterschiedlicher Machart und Größe wahr, die da nebeneinander aufgereiht und übereinander gestapelt standen. Zwei Exemplare waren sogar vor der Ladentür ausgestellt, direkt auf dem Asphalt, der als Resultat einer missverstandenen Modernisierung den alten Straßenbelag überdeckte.

Zu Zeiten des Gymnasiums hatte er sich ausgiebig philosophischen Spekulationen hingegeben und war seither dauerhaft immun gegenüber missbräuchlich eingesetzten allegorischen Konstrukten, für die die Intellektuellen von seiner Insel ein solches Faible zu haben schienen. Also ging er bedenkenlos weiter und beschränkte sich auf ein paar verhaltene Beschwörungen, letzte Reste einer glühenden, jugendlichen Bewunderung für Benedetto Croce. Der Philosoph hatte behauptet, er glaube nicht an den bösen Blick … aber man könne ja nie wissen.

Signora Rosa Brancato Alamia hatte Wohnung und Geschäft in der Via Zara. Es war ein unauffälliges Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, mit schönen hohen Räumen. Seit Spotorno die Familie Brancato Alamia kannte, wohnte sie hier, mit Ausnahme der Sommermonate; dann mieteten sie sich ein Haus in den alten Fischerorten an der Ostküste. Vororte, die der Vergangenheit angehörten, vereinnahmt von der Stadt im Expansionsrausch und mit einer Küste, die seit Jahrzehnten nur noch eine riesige plattgewalzte Erdfläche war, die auf bessere Zeiten hoffte.

In einem dieser Ferienmonate hatte Vittorio die Geschwister Rosario und Maddalena sowie ihre Eltern kennengelernt. Als Maddalena später dann erkrankte und der Arzt ihr einen ausgedehnten Aufenthalt in Meeresnähe verordnete, waren die Brancato Alamia für ein paar Jahre in eine kleine Villa an der Küste umgezogen. Und Rosario war Vittorios Banknachbar geworden.

Die Familie Spotorno hatte, abgesehen von der kurzen Unterbrechung in Norditalien, während Vittorios Kindheit immer in einem dieser Vororte gewohnt. Dann waren sie in die Stadt, in das Haus in der Via Venezia umgezogen.

Das Portal des Hauses der Brancato Alamia stand sperrangelweit offen, und Spotorno bemerkte beim Eintreten sofort das mit einem schwarzen Tuch bedeckte Tischchen samt des darauf aufgeschlagenen Kondolenzbuches. Bis zu diesem Moment waren es nicht mehr als zwölf Unterschriften, die von den Trauerbesuchern zum Nachweis einer erfüllten Pflicht sorgfältig gesetzt worden waren. Er steuerte seine Unterschrift bei, wobei er wie immer mit dem Stift auf dem V verweilte und fast das Papier durchbohrt hätte.

Niemand war da, aber es war wohl überflüssig, seinen Besuch per Gegensprechanlage anzukündigen. Er ersparte sich den altersschwachen Fahrstuhl und nahm die Treppe. Auch die Wohnungstür im zweiten Stock war weit geöffnet. Das grelle Licht von draußen hatte sich bereits im Atrium des Hauses in einen feinkörnigen Halbschatten verwandelt. Der Wohnungseingang lag fast im Dunkeln. Eine Trauerwache bei Tag und ohne den Toten, dachte Spotorno. Der Leichnam war noch nicht freigegeben und der Familie überlassen worden, er musste sich in diesem Moment auf dem Marmortisch der Gerichtsmedizin befinden.

 

Er war unschlüssig, ob er leise anklopfen oder einfach in den kleinen finsteren Vorraum treten sollte. Da spürte er, mehr als dass er hörte, den leichten Schritt einer Person, die sich der Wohnungstür näherte, und so wartete er ab. Im schwachen Licht des Vorzimmers wirkte Maddalena, seit dem letzten Mal, da Spotorno sie gesehen hatte, kaum verändert. Ihre Silhouette war ein wenig breiter geworden, und erst als sie die Wandbeleuchtung anschaltete und ihr Gesicht dem von Spotorno für den Kuss auf beide Wangen näherte, bemerkte er, dass das natürliche Rot ihrer Haare matter geworden war und einen leichten Braunstich bekommen hatte. Das Licht offenbarte außerdem ein kleines Netz feinster Falten um den Mund und die Augen, die geschwollen, aber nicht gerötet waren.

Die Tränen mussten ihr bereits am Vortag ausgegangen sein, dachte Spotorno, doch kaum hatten diese Worte in seinem Kopf Gestalt angenommen, bedachte sie ihn, als könne sie Gedanken lesen, plötzlich mit einem tränenfeuchten Blick.

Auch Maddalena hatte ihn auf Anhieb wiedererkannt und schien ob seines Kommens nicht überrascht. Spotorno hatte beinahe das Gefühl, erwartet zu werden. Es verwirrte ihn, als sie seine Hand nahm und ihn in den großen Wohnraum führte, in dem sich tagsüber das Leben von Signora Rosa abspielte.

Als sie noch Kinder waren, hatten sie einander noch nicht einmal flüchtig berührt.

Auch das Wohnzimmer lag im Halbschatten, wegen der angelehnten Fensterläden und ihren nur halb geöffneten Lamellen, durch die das Licht gefiltert durch dünne, beigefarbene, ihm wohlbekannte Vorhänge eindrang. Signora Rosa saß auf einem Stuhl mit Sitz aus Wiener Geflecht und gerader Rückenlehne. Sie war wie immer. Spotorno hätte alles im Voraus beschreiben können. Aber es war nicht die wiedergefundene Vertrautheit der Szenerie, die bei ihm ein Schwindelgefühl hervorrief. Vielmehr hatte er beim Betreten des Raumes das Gefühl, einen Fuß in ein Gemälde gesetzt zu haben: Signora Rosa sah im Gegenlicht aus wie die Mutter, die Umberto Boccioni einst portraitiert hatte. Amalia hatte einmal eine Postkarte mit diesem Bild bekommen, und Spotorno hatte sie lange als Lesezeichen benutzt.

Signora Rosas Hände lagen ineinander verflochten in ihrem Schoß, genau wie bei der Dame auf dem Gemälde, und wie diese hatte sie dünnes, fast weißes Haar, das in feinen losen Strähnen ihr Gesicht umrahmte, während ihre Kleidung in einem warmen Braun schimmerte. Auch die Beschaffenheit des Lichts war identisch und hüllte alles in einen matten, zarten Schleier, der ihre Silhouette verdunkelte.

Der flüchtige Eindruck verflog, sobald sich Spotornos Augen an die milchige Helligkeit des Zimmers gewöhnt hatten. Was er eben noch für ein Braun gehalten hatte, entpuppte sich nun als das verblichene Schwarz der Trauergewänder. Maddalena ließ seine Hand los und schob ihn mit einem sanften Druck in Richtung der alten Frau.

— Mamà, schau mal, wer gekommen ist, Vittorio. Erinnerst du dich an Vittorio?

Spotorno ging rasch auf sie zu, beugte sich hinab für einen Kuss auf die kalten Wangen, und ein leichter Kampfergeruch stieg ihm in die Nase.

Unruhig ruckelte Signora Rosa einen Moment hin und her und sagte dann mit zittriger, dünner Altfrauenstimme:

— Vittorio, Vittorio, auch du bist hier und hast dich an Sasà erinnert.

Dann fischte sie aus ihrem Gedächtnis den Beruf, den Spotorno ausübte.

— Du hast gesehen, wie sie ihn zugerichtet haben, meinen armen Sasà. Mich haben sie ihn nicht sehen lassen wollen.

Spotorno nickte. Ihm lag auf der Zunge zu sagen, dass Rosario nicht gelitten und diese Welt verlassen hat, ohne zu begreifen, was überhaupt geschah, aber es erschien ihm respektlos gegenüber dem Andenken des Verstorbenen. Rosario hatte es im Übrigen nie gemocht, wenn man ihn Sasà nannte, zumindest als er ein junger Bursche war, und nur seiner Mutter war dies überhaupt erlaubt.

— Setz dich neben mich, Vittorio, und leiste mir ein wenig Gesellschaft.

Eine Frau mittleren Alters erhob sich, um ihm ihren Stuhl zu überlassen, und nahm Platz auf einer Truhe, die gegen die Wand gelehnt stand. Auf der anderen Seite neben Signora Rosa saß eine zweite Frau, die wie ihre Zwillingsschwester aussah, obwohl sie nicht einmal miteinander verwandt waren.

Das waren die Signorine.

Spotorno hatte noch nie gehört, dass sie anders als so und immer im Plural genannt worden wären, auch wenn er wusste, dass die eine Grazia und die andere Nunzia hieß. Sie arbeiteten schon ewig für Signora Rosa, als junge Mädchen hatten ihre Mütter sie ihr anvertraut, damit sie das Schneiderhandwerk erlernten. Und das taten sie so gut, dass die Signora sie fest eingestellt hatte.

Spotorno begrüßte auch die Signorine mit Wangenkuss. Als er seinen Platz eingenommen hatte, ließ er den Blick durch den Raum schweifen, um seinem Gedächtnis die Exaktheit der Erinnerung zu versichern. Einige Dinge hatten sich verändert, seit er damals in Begleitung seiner Mutter hier gewesen war. Die zwei pedalbetriebenen Singer mit der goldenen Aufschrift auf dem schwarzen Leib waren durch zwei moderne elektrische Nähmaschinen ersetzt worden, von denen Spotorno nicht einmal den Markennamen entziffern konnte. Die üblichen Nähutensilien waren geblieben: Stoffstücke, Restzuschnitte, Knöpfe, Nadeln, Scheren, Fingerhüte, Schneiderkreide.

Vergeblich suchte er nach den hölzernen Fadenspulen, deren rasante Drehung auf dem Spulenzapf der alten Singer ihn als Kind so sehr gefesselt hatte. Der Anblick der losen Schneiderkreiden rief hingegen ein seltsames Gefühl von Unvergänglichkeit hervor: Sie waren flach, in der Farbe von antikem Elfenbein und ähnelten in ihrer Form den kleinen Seifen für den Einmalgebrauch, wie man sie, in Zellophan verpackt, in Hotels vorfindet. Seit er denken konnte, waren sie so. Auch die Wandtapeten mit dem kleinen Rosenmuster auf beigem Untergrund schienen nicht mehr erneuert worden zu sein, unter der Decke hatten sie sich an manchen Stellen vom Putz gelöst, der durch eindringende Feuchtigkeit aufgequollen war. Über einer Stuhllehne hing ein abgegriffenes Maßband, mit einer Einkerbung neben der Achtundsechzig.

Es war dasselbe Maßband wie eh und je, es sei denn, alle Maßbänder von Signora Rosa waren aus irgendeinem geheimnisvollen Grund besonders in der Nähe des Zentimeters achtundsechzig abgewetzt. In der Mitte der Wand gegenüber den Balkonen hing das Holzkreuz mit den Intarsien in Form kleiner Herzen längs der Vertikalachse und den Elfenbeineinsätzen an den Enden der Kreuzbalken.

Spotorno sammelte Erinnerungen mit derselben Ausdauer, wie gewisse Müßiggänger Hobbys sammeln.

Signora Rosa bemerkte seinen Blick:

— Erinnerst du dich noch, Vittorio, wie du mit deiner Mutter hergekommen bist? Grazia hat für dich immer Ines al forno* gekauft. Magst du die heute noch? Sie hatte eine glückliche Hand, deine Mutter, und konnte bei Russo Pedone in der Via Sant’Agostino gewisse Stoffreste auftreiben … Bei deinem Vater habe ich nur ein einziges Mal Maß genommen, dann hat man ihn hier nicht mehr gesehen. Trotzdem gelangen die Hemden für ihn immer auf Anhieb, nie gab es einen Fehler oder etwas nachzubessern. Mit Ersatzstutzen und Austauschkragen. Größe Vierzig. Die hielten ein Leben. Inzwischen gibt es unter uns nur noch wenige, die solche Hemden schneidern. Heute kaufen die Leute die von der Stange, die mit Nylonfaden genäht sind. Und auch gewisse Maßhemdenschneider verwenden jetzt Nylon. Weißt du, wie viel Baumwollfaden man braucht, um ein Hemd zu nähen?

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