Schattenspiel - Der zweite Teil der Schattenwächter-Saga

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»Versteh schon. Mir wär's natürlich auch lieber, wenn Tim die Finger von dir gelassen hätte.«



Ich spürte das Blut in meinen Wangen und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Doch Gabriel schien nicht zwingend eine Antwort zu erwarten.



»Und was machen wir jetzt?«, fragte er seufzend mit einem Seitenblick auf das Kondomregal.



»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich.



Es war nicht so, dass ich noch nicht darüber nachgedacht hatte, wie es wäre, mit Gabriel zu schlafen, aber das war nicht der springende Punkt, oder? Ich überlegte einen Moment. Wir waren gerade erst zusammengekommen, andererseits kannten wir uns schon lange. Wir hatten alle Zeit der Welt, andererseits mussten wir uns im Moment die Frage stellen, wie lange es diese Welt noch geben würde.



Ich hatte nicht vor, etwas zu überstürzen, aber es konnte nicht schaden, vorbereitet zu sein. Und wer wusste, wann wir das nächste Mal in eine Drogerie kommen würden. Schließlich griff ich nach einer Packung Kondome und sah Gabriel grinsend an:



»Also, passen dir die Normalen oder soll ich die Extragroßen nehmen?«



Zum ersten Mal war Gabriel, dem sonst immer ein blöder Spruch einfiel, einfach nur sprachlos. Zufrieden ließ ich die Kondome in meinen Korb fallen.





Es hatte zu schneien begonnen, während wir in der Drogerie waren. Als wir nach draußen traten, fielen dicke Flocken auf die Erde. Der Schnee würde liegen bleiben, denn die Schneeflocken schmolzen nicht sofort, als sie den Boden berührten. Ich hörte Vogelschreie und sah einen Schwarm Krähen, der wie ein böses Omen seine Kreise über dem Bismarckplatz zog.



Ich setzte mir die Mütze von Marlene auf und vergrub mich noch tiefer in ihrer Jacke. Gabriel streckte mir seine Hand entgegen, und ich ergriff sie, um ihm in die Hauptstraße zu folgen. Es herrschte geschäftiges Treiben. In drei Tagen war Heiligabend, und die Leute nutzten die Gelegenheit, um sich in letzter Minute noch zu einem Weihnachtsgeschenk inspirieren zu lassen. Bei dem Gedanken an ein besinnliches Weihnachtsfest, das es für uns in diesem Jahr bestimmt nicht geben würde, verspürte ich einen Kloß im Hals, den ich nur mit Mühe hinunterschlucken konnte. In diesem Moment drückte Gabriel meine Hand und schenkte mir ein kurzes Lächeln.



Aufmerksam schritten wir die Hauptstraße entlang. Wir waren noch nicht weit gekommen, als

No more sorrow

 meine Gedanken unterbrach. Gabriel zog das Umbrameter aus seiner Hosentasche und schaltete es aus, ohne einen Blick darauf zu werfen. Das war auch nicht nötig, denn die ersten Anzeichen für das Einwirken von Schatten sahen wir auch so. Hier wurde ein Kunde unsanft aus einem Laden befördert, dort stritten sich zwei Männer lautstark. Aggressivität hing in der Luft, die Atmosphäre wirkte wie aufgeladen. Unwillkürlich drückte ich Gabriels Hand noch fester. Er warf mir einen Blick zu, und ich erkannte, dass sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte.



»Es geht los«, sagte er, und seine Stimme klang trotz allem ruhig und fest.



»Was machen wir nun?«, fragte ich. Wir hatten unsere Schwerter und Inflammatoren zwar mitgenommen, aber ich war mir nicht sicher, ob wir tatsächlich kämpfen würden.



»Weitergehen«, lautete Gabriels Antwort.



Und das taten wir. Auch in meinem Körper spannte sich jeder einzelne Muskel an, während wir die Hauptstraße langsam weiter entlanggingen. Mit meinen Augen suchte ich die Umgebung ab, meine Sinne nahmen jedes Detail wahr. Ich fühlte mich wie eine Antilope an der Wasserstelle und erwartete jeden Moment einen Angriff.



Mittlerweile hatten wir den Universitätsplatz erreicht. Es roch nach Crêpe, Glühwein und gebrannten Mandeln. Kinder schrien, und Menschen lachten. Bei einem Kinderkarussell lief Rolf Zuckowski vom Band, an einem Stand daneben wurde

Last Christmas

 gespielt. Der Weihnachtsmarkt war über die gesamte Innenstadt verteilt, doch hier am Universitätsplatz standen die meisten Buden. Die weihnachtliche Atmosphäre riss mich aus meiner Trance und traf mich mit voller Wucht. Es war alles so unwirklich, dass ich schlucken musste. Seltsame Gedanken schossen mir durch den Kopf: Ob meine Mutter wieder Crème brûlée machen würde? Warum hatte ich Gabriels Weihnachtsgeschenk nicht eingepackt, als wir gerade bei mir zu Hause gewesen waren?



»Wir müssen vorsichtig sein«, riss Gabriel mich aus meinen Gedanken.



»Wie bitte?«, fragte ich leise.



Gabriel blieb stehen und sah mich an. »Ist alles in Ordnung mit dir?«



Ich nickte. »War bloß ein bisschen abgelenkt. Was hast du vorher gesagt?«



Gabriel zögerte einen Moment, bevor er wiederholte: »Wir müssen vorsichtig sein. Trotz allem dürfen die Menschen nicht von der Existenz der Schatten erfahren.«



Meine Traurigkeit war wie weggeblasen. Ich starrte ihn an. Die weißen Schneeflocken bildeten einen starken Kontrast zu seinem dunklen Haar. »Ist es dafür nicht ein bisschen zu spät?«



»Der Rat will es so.«



Ich konnte mir ein Schnauben nicht verkneifen. »Der Rat kann mich mal.«



Gabriels Mundwinkel umspielte ein Lächeln. »Kann ich gut nachvollziehen, aber wir müssen trotzdem aufpassen. Im Gegensatz zu Serien wie

Charmed

 können wir im echten Leben weder Vergessenszauber anwenden noch die Zeit zurückdrehen.«



Ich zog eine Augenbraue hoch. »Du guckst

Charmed



Wieder lächelte er. »Das ist nicht der springende Punkt.«



»Ah, ich weiß. Wahrscheinlich ist das wie

Peter Pan

 Pflichtstoff für Schattenwächter. Von wegen Vereinbarkeit von Magie und Privatleben oder so.« Gabriel hatte es mal wieder geschafft. Ich entspannte mich ein wenig und vergaß für einen Moment, warum wir hier waren.



Gabriel grinste. »Eigentlich guck ich's wegen der drei leicht bekleideten Mädels, aber egal. Wir dürfen die Schatten nicht in aller Öffentlichkeit vernichten.«



»Das ist doch Schwachsinn«, meinte ich und wurde wieder ernst, während wir uns einen Weg durch die Weihnachtsbuden bahnten. »Auf der ganzen Welt bricht Chaos aus, so was lässt sich doch nicht verheimlichen. Auf welchem Planeten leben die vom Rat eigentlich? Da reden sie von Krieg und dass wir verlieren, und dann sollen wir noch Rücksicht auf die Geheimhaltung nehmen? Vor allem weil's den Schatten ja so wichtig ist, unentdeckt zu bleiben. Wenn bloß wir uns an die Regeln halten und die Schatten nicht, dann verlieren wir auf jeden Fall. Außerdem sollte doch eigentlich die Sicherheit der Menschen im Vordergrund stehen.«



»Tut sie ja auch, aber die Menschen dürfen die Wahrheit trotzdem nicht erfahren. Das würde die Welt in ein noch viel größeres Chaos stürzen.«



Ich zuckte mit den Schultern. »Als ob's noch viel schlimmer werden könnte. Ich werd auf jeden Fall nicht tatenlos daneben stehen und zusehen, wie sich Menschen umbringen, nur um das Geheimnis zu bewahren.«



»Das hab ich auch nicht gesagt. Es ist nur … Emma, pass auf«, schrie Gabriel auf einmal. Mit einem Ruck zog er mich beiseite.



Direkt neben uns ging ein dunkelhaariger Mann mit einem Messer auf einen rothaarigen Mann los. Wenn Gabriel mich nicht beiseite gezogen hätte, wäre ich vermutlich zur Zielscheibe der Aggressivität geworden. Der Rothaarige taumelte zurück und stand nun dort, wo ich eben noch gestanden hatte.



Ein kurzer Blick zeigte mir, dass beide Männer beschattet wurden. »Was machen wir jetzt?«, fragte ich leise. »Wir können die zwei doch nicht sich selbst überlassen. Der eine hat ein Messer.«



»Ich weiß.« Gabriel seufzte. »Gib mir das Messer«, sagte er ruhig, aber laut an den Dunkelhaarigen gewandt, der gerade erneut angreifen wollte.



Er hielt in der Bewegung inne und sah Gabriel an. Um seine Mundwinkel zuckte es, und er lachte kurz. Dann sah er Gabriel allerdings noch grimmiger als zuvor an. »Sieh zu, dass du Land gewinnst, du Dreikäsehoch, sonst setzt es was.«



Das hätte er besser nicht sagen sollen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Gabriel sich anspannte. Doch bevor er etwas sagen oder tun konnte, ergriff der Rothaarige die Chance und riss dem Dunkelhaarigen das Messer aus der Hand. Er wollte zustechen, aber ich war schneller. Ich holte aus und trat ihn mit voller Wucht gegen den Arm. Das Messer fiel scheppernd auf den Asphalt. Passanten sahen sich kurz zu uns um, gingen dann aber unbeirrt weiter. Gabriel schob mich hinter einige Buden in die Augustinergasse und folgte mir.



»Das bedeutet Krieg«, grollte der Rothaarige, der uns ebenfalls gefolgt war. Er packte mich am Arm.



Fast gleichzeitig zog Gabriel sein Schwert und rammte es hinter dem Mann in den Boden. Der Rothaarige verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig losreißen, um nicht mit ihm zu Boden zu fallen. Der Schatten griff Gabriel sofort an. Zur selben Zeit hob der dunkelhaarige Mann das Messer auf und ging damit ebenfalls auf Gabriel los. Gabriel reagierte blitzschnell. Er sprang hoch und versetzte dem Schatten einen Tritt in die Magengegend. Dann trat er den Dunkelhaarigen gegen das Schienbein. Der taumelte zurück und ließ das Messer fallen. Der Schatten hatte sich schon wieder gefangen. Ich zog meinen Inflammator, richtete ihn auf den Schatten. Gabriel traf ihn von der anderen Seite mit seinem Inflammator. Als nur noch ein Häufchen Asche übrig blieb, grinste er mich an.



»Hinter dir«, schrie ich in diesem Moment.



Der Dunkelhaarige hatte sich wieder aufgerappelt. Mit dem Messer in der Hand war er bereits gefährlich nahe an Gabriel rangekommen. Er traf Gabriel am Arm. Der gab einen schmerzverzerrten Laut von sich und fluchte. Ich wollte zu ihm, besann mich aber eines Besseren. Schnell zog ich mein Schwert und stieß es mit voller Wucht hinter dem Mann in den Boden. Der Schatten materialisierte sich, während der Mann bewusstlos zu Boden sank. Gabriel hielt seinen Inflammator in Richtung Schatten, noch ehe dieser sich orientieren konnte. Alles was vom Schatten übrig blieb, war ein Häufchen Asche. Ein paar Schritte weiter sah ich etwas Rotes auf dem Schnee.

 



Ich blickte zu Gabriel. Sein Jackenärmel war aufgeschlitzt, und Blut tropfte zu Boden. »Oh Gott, du bist verletzt«, schrie ich und eilte auf ihn zu.



»Halb so wild«, meinte Gabriel. »Das ist nur ein kleiner Kratzer.«



Ich sah mir seine Wunde genauer an. Vielleicht war es wirklich nicht schlimm, aber die Sache behagte mir trotzdem nicht. »Ich bring dich jetzt nach Hause. Das muss desinfiziert werden, und zu zweit ist es hier viel zu gefährlich.«



Gabriel zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen.«



Dass er nicht protestierte, machte mir noch mehr Angst, als ich ohnehin schon hatte.



Wir wandten uns um und blieben beide wie auf Kommando starr vor Schreck stehen. Eigentlich hatten wir in der kleinen Gasse zwischen Weihnachtsbuden und Hauswand relativ geschützt gestanden, doch eine Gruppe Menschen schien uns beobachtet zu haben und betrachtete uns nun neugierig. Verdammt, wie sollten wir das erklären? Ich überlegte fieberhaft, aber mir wollte einfach nichts einfallen.



Gabriel hatte jedoch die rettende Idee. Er zog mir meine Mütze vom Kopf und ging damit herum. »Wir sind vom Weihnachtscircus, der in Mannheim gastiert. Besuchen Sie uns, wenn Sie mehr sehen wollen.«



Ein älterer Mann warf tatsächlich eine Münze in die Mütze, die anderen schüttelten die Köpfe und gingen weiter. Dann waren wir wieder allein.



Ich atmete hörbar aus. »Puh, das war aber knapp.«





»Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«, fragte Marlene und sah Gabriel vorwurfsvoll an, als sie mit einem Erste-Hilfe-Kasten zurück ins Wohnzimmer kam. »Alleine auf Schattenjagd zu gehen.« Sie schüttelte den Kopf.



Gabriel und ich saßen dicht nebeneinander auf dem Sofa in der Nähe des Kamins und genossen die Wärme und Sicherheit. Joshua drehte mit Lilly und Erwin eine Runde ums Haus. Marlene war es gar nicht recht gewesen, dass die beiden die Wohnung noch einmal verlassen hatten, aber sie hatte eingesehen, dass der Hund zwischendurch mal raus musste. Und da Lilly nichts von der ganzen Schattenwächtersache wusste, war es wahrscheinlich auch besser, dass sie jetzt nicht da war.



»Was hätten wir denn tun sollen?«, fragte Gabriel und zog sich vorsichtig den Pullover über den Kopf, damit seine Mutter besser an den verletzten Arm kam.



Marlene kniete sich vor Gabriel auf den Boden und öffnete den Verbandskasten. Einen Moment hielt sie inne und sah ihn einfach nur an. Dann seufzte sie. »Ich weiß es doch auch nicht, aber das war leichtsinnig und gefährlich. Ich bin nur froh, dass nichts Schlimmeres geschehen ist.«



Das war ich auch. Ich konnte kaum hinsehen, als Marlene Gabriels Arm verarztete. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können.



»Es ist ja noch mal gut gegangen«, sagte Gabriel und zuckte kurz zusammen. Marlene desinfizierte seine Wunde gerade mit Jod. »Was machen wir eigentlich mit Lilly? Wir müssen ihr Vaters Verschwinden doch irgendwie erklären. Früher oder später wird sie nach ihm fragen.«



»Das hat sie schon«, antwortete Marlene leise. »Natürlich wollte sie wissen, warum ihr ohne den Papa zurückgekommen seid. Und dann noch so kurz vor Weihnachten.« Sie schluckte und machte eine Pause.



Sie tat mir so unglaublich leid. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie sie sich fühlte. Es musste schrecklich für sie sein, nicht zu wissen, was mit Noah war.



»Joshua und ich waren uns einig, Lilly so lange wie möglich aus der Sache herauszuhalten«, fuhr sie schließlich fort. »Es reicht, wenn wir uns Sorgen machen. Ich möchte, dass wenigstens sie ein schönes Weihnachtsfest hat. Deshalb haben wir ihr erzählt, dass Noah noch eine Weile in Mexiko bleiben muss, um dort seinen Kollegen bei etwas Wichtigem zu helfen.«



»Bei was genau oder ist das egal?«, fragte Gabriel.



»Das wollte sie bisher nicht wissen. Falls sie fragt, sag einfach, dass er dem Rat, bei dem er Mitglied ist, hilft. Und natürlich versucht er, so schnell wie möglich wieder bei uns zu sein.« Ihre Stimme brach.



»Wie sollen wir ihr erklären, dass er nicht anruft?«, fragte ich leise. Mir war nicht wohl dabei, Marlene in ihrer Traurigkeit zu stören, aber wir mussten alles berücksichtigen, damit Lilly keinen Verdacht schöpfte.



»Auch daran haben wir gedacht«, erwiderte sie eben so leise. »In Mexiko hat es viel geschneit, sodass die Telefonleitungen im Moment nicht funktionieren.«



Gabriel und ich nickten. »Das wird schon klappen«, sagte er. »Sie ist ja zum Glück noch klein und wird das Ganze schon nicht so genau hinterfragen.«



In diesem Moment hörten wir die Haustür ins Schloss fallen. Erwin bellte, und Lilly lachte über etwas. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir, auch so unbeschwert sein zu können und mir keine Sorgen machen zu müssen.



Marlene sprang erschrocken auf. »Ich will nicht, dass Lilly das sieht.« Sie deutete mit dem Kopf auf Gabriels verletzten Arm. »Sie würde nur Fragen stellen.«



Ich nickte und nahm ihr das Verbandszeug ab. »Ich mach das schon.«



»Danke.« Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, stand auf und verschwand Richtung Flur. »Da ist ja meine Kleine«, hörte ich sie sagen. Ihre Stimme klang fröhlich, und ich bewunderte sie für die Tapferkeit, die sie ihrer Tochter gegenüber an den Tag legte. »Brrr, deine Wangen sind ja ganz kalt. Was hältst du davon, wenn wir uns allen eine heiße Schokolade machen?«



»Au ja«, rief Lilly begeistert.



»Joshua, holst du deinem Bruder bitte noch einen frischen Pullover? Seiner ist ganz nass vom Schnee.«



»Mach ich«, antwortete Joshua, dann wurde es still im Flur.



Gabriel und ich sahen uns einen Moment an. »Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte ich leise und lehnte meinen Kopf für einen kurzen Augenblick an seine Schulter.



»Und ich erst. Jetzt, wo ich dich endlich hab, geb ich dich so schnell nicht mehr her.«



In seinem Blick lag so viel Zärtlichkeit, als er mich ansah, dass mein Herz vor Freude schneller schlug. Mit der Hand seines unverletzten Arms fuhr er mir durch die Haare und zog meinen Kopf noch näher zu sich. Es war unvernünftig, ihn hier und jetzt zu küssen, das wusste ich. Schließlich konnte Joshua jeden Moment ins Wohnzimmer kommen. Doch ich konnte einfach nicht anders, als dem Verlangen nachzugeben. Es war so schön, seine Lippen auf meinen zu spüren und spendete mir wenigstens ein kleines bisschen Trost.



Als wir Schritte im Flur hörten, lösten wir uns schnell voneinander, und ich wandte mich seiner Fleischwunde zu, um sie zu verbinden. Joshua betrat das Wohnzimmer, einen grünen Pullover von Gabriel in der Hand schwenkend.



»Geht's dir gut?«, fragte er mit einem Blick auf seinen Bruder.



Der nickte. »Danke, geht schon.«



Joshua legte den Pullover auf den Couchtisch und setzte sich in den Sessel, der rechts von unserem Sofa stand. »Und wie ist die Lage in der Stadt?«



»Es geht allmählich los, die Einwirkung der Schatten ist deutlich zu spüren. Nicht mehr lange, und das Chaos bricht aus.«



Joshua nickte. »Das hab ich befürchtet. Und was machen wir nun? Auf Schattenjagd gehen, nach Vater suchen?« Er sah von seinem Bruder zu mir und wieder zurück.



»Erst mal müssen wir rausfinden, wo Vater überhaupt ist. Es bringt doch nichts, einfach drauf los zu suchen. Er könnte überall sein.«



Ich senkte den Kopf. »Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, die Schatten haben ihn oder …« Ich verstummte. Oder war keine Alternative. Noah durfte nicht tot sein.



Gabriel und Joshua schwiegen eine Weile. Ich wusste, dass sie dasselbe dachten wie ich. »Aber warum sollten die Schatten Noah entführen, verschleppen oder sonst was?«, fragte Joshua schließlich. »Er sitzt im Rat, okay, aber was haben sie davon?«



Er sah mich an, und ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es doch auch nicht.«



»Okay, gehen wir davon aus, die Schatten haben ihn tatsächlich«, überlegte Gabriel. »Wo ist er dann jetzt?« Wir beide sahen uns an. »In der Schattenwelt«, sagten wir nach einem Moment fast gleichzeitig.



»In der Schattenwelt? Meint ihr wirklich? Aber warum? Wie kann er ihnen nützen, wenn …?« Joshua brach ab und fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch die Haare.



»Keine Ahnung, aber wo soll er sonst sein? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schatten ihn in unserer Welt gefangen halten, ist sehr gering. Das weißt du genauso gut wie ich.« Gabriel sah nicht minder verzweifelt aus.



Ganz sanft berührte ich seinen Rücken, sodass Joshua es nicht sehen konnte. Gabriel warf mir ein dankbares Lächeln zu. »Lasst uns nachher noch einmal zur Thingstätte fahren und die Gegend absuchen«, schlug ich vor. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass Noah dort noch irgendwo ist, aber wir sollten nichts unversucht lassen.«



Joshua nickte. »Das ist eine gute Idee. Und falls wir dort keine Spuren von ihm finden, sollten wir den Rat vielleicht noch einmal fragen, was sie von unserer Theorie halten.«



Gabriel schüttelte den Kopf. »Das bringt doch nichts, und bis morgen will ich nicht warten und untätig rumsitzen.«



»Dann willst du morgen nicht zum Rat gehen?«, fragte ich.



»Doch, aber ich will mich nicht auf den Rat verlassen. Wir müssen heute so viele Infos wie möglich sammeln und Vorbereitungen treffen, damit es morgen nach dem Treffen gleich losgehen kann.«



»Losgehen?« Ich schluckte. »Heißt das … heißt das, du willst in die Schattenwelt, wenn wir Noah bis dahin nicht gefunden haben?«



Es sah fast gleichgültig aus, als Gabriel mit den Schultern zuckte, aber ich spürte, dass dem nicht so war. »Wenn es sein muss. Ich werde Vater nicht im Stich lassen und alles tun, um ihn zu finden. Seid ihr dabei?«



Joshua und ich nickten. »Aber wir sollten vorher herausfinden, was uns überhaupt in der Schattenwelt erwartet.« Von meinen Theoriestunden mit Joshua wusste ich, dass die Brüder auch keine Ahnung hatten. Noah konnten wir nicht fragen, und ob Marlene Bescheid wusste? Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich in Bezug auf sie irrte. »Was ist mit eurer Mutter? Ob Noah mit ihr über die Schattenwelt gesprochen hat?«



Joshua schüttelte den Kopf. »Sie weiß so gut wie alles, aber nicht, wie es in der Schattenwelt aussieht. Den Rat können wir auch nicht fragen.«



»Wir fragen Wilhelm«, sagte Gabriel mit entschlossener Miene. »Er wird uns helfen.«



Ich nickte. Wilhelm Neuberg würde uns sicher helfen, und als ehemaliger Schattenwächter und ehemaliges Ratsmitglied hatte er bestimmt wertvolle Informationen für uns. Ich konnte mich noch sehr gut an ihn erinnern. Im vergangenen Frühling war er zwei Tage verschollen gewesen und von einem Beta-Schatten beschattet worden. Gabriel und ich hatten ihn befreit. Das war mein zweiter Einsatz als Schattenwächterin gewesen und schien schon eine Ewigkeit her zu sein. »Aber was machen wir, wenn er im Ratsgebäude ist?« In Gedanken schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel.

Bitte lass ihn zu Hause sein.



»Mach dir keinen Kopf«, sagte Joshua. »Wilhelm und seine Frau Else sind sehr gute Freunde unserer Eltern. Noah wird ihnen wichtiger sein als irgendwelche Anweisungen vom Rat.«



»Er sieht vielleicht nicht so aus«, fuhr Gabriel fort, »aber Wilhelm hält auch nicht so viel von den antiquierten Regeln des Rats.«



Ich musste lächeln. Wilhelm hatte damals den Eindruck eines zerstreuten Professors auf mich gemacht, aber er war sehr nett gewesen. »Also gut, was machen wir zuerst? Thingstätte oder Wilhelm?«



»Wir fahren zuerst zu Wilhelm«, meinte Joshua, und sein Bruder nickte. »Vielleicht hat er noch ein paar Tipps, die uns auf der Thingstätte nützlich sein können.«



»Dann mal los«, sagte Gabriel, als wir plötzlich Stimmen im Flur hörten.



Schnell reichte ich Gabriel den sauberen Pullover zum Anziehen und schob seinen blutigen Pullover sowie den Verbandskasten gerade noch rechtzeitig unters Sofa. Erwin kam ins Wohnzimmer geflitzt, dicht gefolgt von Marlene und Lilly. Marlene trug ein Tablett mit fünf dampfenden Tassen, während Lilly eine Keksdose mit winterlichem Motiv in den Händen hielt. Sie stellten beides auf den Tisch und setzten sich zu uns.



»Alles in Ordnung?«, fragte Marlene an Gabriel gewandt.



Der nickte knapp. »Wir wollten zu Wilhelm und ihn um Rat fragen, bevor wir zur Thingstätte fahren und uns dort noch mal umschauen.«

 



»Das ist eine gute Idee, aber seid bitte vorsichtig. Keine überstürzten Aktionen mehr.«



Gabriel nickte noch einmal und wollte aufstehen, doch ich legte meine Hand auf sein Bein. Er blieb sitzen und sah mich fragend an. »Wir haben doch sicher noch zehn Minuten, um erst einmal die heiße Schokolade zu trinken.« Ich wusste, wie wichtig Marlene dieses kleine bisschen Normalität war, und sie schenkte mir ein dankbares Lächeln.



Gabriel verstand sofort und wandte sich an seine kleine Schwester. »Sicher haben wir noch kurz Zeit. Die Schokolade riecht ja köstlich.«



»Das ist sie auch«, sagte Lilly stolz und gab ihm vorsichtig eine Tasse.<

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