Schattendasein - Der erste Teil der Schattenwächter-Saga

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

So etwas war mir noch nie passiert, aber Stolz und Vorurteil war einfach so schön gewesen, dass ich alles um mich herum vergessen hatte. Zum Glück war es heute Vormittag doch noch geliefert worden. Viel hatte ich aber noch nicht darin lesen können, denn nachdem Hannah und ich vorerst keine Lust mehr darauf hatten, uns mit Satanismus zu befassen, waren wir in der Stadt gewesen. Hannah hatte unbedingt etwas Neues zum Anziehen kaufen wollen, und im Gegensatz zu mir war sie auch fündig geworden. Sie war der Meinung, ein Shopping-Tag ohne volle Einkaufstaschen war ein verlorener Tag, aber ich sah das nicht so. Außerdem hätte ich eh kein Geld für neue Klamotten gehabt. Ich hatte mir in diesem Monat schon so viele Bücher gekauft, dass mein ganzes Taschengeld dabei drauf gegangen war. Und jetzt freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen, um weiterlesen zu können. Wenigstens war ich nur eine Haltestelle zu weit gefahren. Zwar war es noch recht mild, aber es fing an, zu nieseln, und ich hatte meinen Regenschirm zu Hause liegen lassen. Ich hätte weiter geradeaus durch die Klappergasse nach Hause laufen können, doch es zog mich wie immer in Richtung der kleinen Straße Hostig. Ich beschleunigte meine Schritte, um zu Hause zu sein, bevor es richtig anfing, zu regnen und lief den kleinen, düsteren Pfad entlang. Hier wurde es besonders schnell dunkel, denn überall gab es Bäume und Büsche. Außerdem verlief rechter Hand eine hohe Mauer, die das Gelände meiner Schule vor neugierigen Blicken schützen sollte. Ich hatte aber keine Angst, denn wir wohnten in einer guten Gegend, hier war noch nie was passiert. Der Heidelberger Stadtteil Wieblingen war ein friedliches Örtchen, und bei meiner Schule handelte es sich um eine Privatschule. Schnell ging ich also den kleinen Pfad entlang und hatte fast den Spielplatz auf der linken Seite erreicht, als ich ein komisches Geräusch hörte. Ich blieb stehen. Was war das? Für einen Moment hielt ich unbewusst die Luft an, aber es war nichts mehr zu hören. Ich wollte weitergehen, als plötzlich jemand schrie. Mein Herz schlug wie wild, ich zuckte zusammen. Die Geräusche kamen vom Spielplatz, der nur noch ein paar Meter entfernt war. Ich schluckte schwer und überlegte fieberhaft. Was sollte ich machen? Am liebsten wäre ich einfach nach Hause gerannt, aber was, wenn hier jemand Hilfe brauchte? Ganz in der Nähe war eine Polizeiwache, die könnten also schnell jemanden herschicken. Aber zuerst musste ich wissen, was hier eigentlich los war. So leise wie möglich schlich ich den Weg weiter entlang Richtung Spielplatz. Die Geräusche wurden immer lauter und mir immer schlechter. Und da sah ich sie: die Umrisse von drei Männern, die miteinander kämpften. Ich ließ einen erstickten Schrei los und schlug mir die Hand vor den Mund, um mich nicht zu verraten. Mein Herz schlug wie wild, ich konnte kaum noch richtig atmen. Hastig griff ich in meine Tasche und suchte nach meinem Handy. Warum hatte ich es nicht schon vorher herausgeholt? Vor Angst und Nervosität zitterten meine Hände, und ich ließ die Tasche fallen. Ich erstarrte, doch die Männer schienen nichts zu bemerken. Schnell hockte ich mich hin, leerte den kompletten Inhalt der Tasche auf dem Boden aus. Mit schweißnassen Händen griff ich nach meinem Handy. Scheiße, wie war die Nummer der Polizeiwache? Egal, dann eben 110. Das Blut rauschte in meinen Ohren, während die Sekunden vergingen. »Notruf, was kann ich für Sie tun?«, fragte eine weibliche Stimme. »Bitte schicken Sie sofort die Polizei her«, flüsterte ich. Meine Stimme zitterte. »Sie müssen lauter sprechen, ich habe Sie nicht verstanden.« »Ich kann nicht lauter sprechen«, antwortete ich und kroch auf allen Vieren rückwärts, um von den Männern wegzukommen. »Sie müssen die Polizei herschicken, bitte. Da kämpfen drei Männer miteinander.« In diesem Moment entdeckten sie mich. Mein Herz setzte einen kurzen Moment aus und schlug dann noch schneller weiter. »Wo sind Sie denn?«, wollte die Frau wissen, doch ich brachte keinen Ton heraus. Zwei der Männer hielten inne und sahen zu mir hinüber. Der dritte Mann nutzte die Gelegenheit, riss sich los und rannte weg. Er kam genau auf mich zu. Die anderen beiden Männer folgten ihm sofort. »Hallo, sind Sie noch da? Wo befinden Sie sich?« Ich schluckte und antwortete mit zitternder Stimme: »In Heidelberg, Wieblingen. Der Spielplatz beim Gymnasium. Bitte, kommen Sie schnell.« Die Männer waren gleich bei mir. Tränen stiegen mir in die Augen. Mittlerweile zitterte nicht nur meine Stimme. Ich zitterte am ganzen Körper. »Ich werde sofort einen Streifenwagen losschicken. Sagen Sie mir noch schnell Ihren Namen.« »Emmalyn Blum«, antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. »Es wird gleich jemand da sein. Haben Sie keine Angst, und verhalten Sie sich ruhig.« Dann legte die Frau auf. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst wie in diesem Moment. Ich ließ das Handy auf den Boden fallen und stand auf, wollte wegrennen. Doch ich stolperte und fiel hin. Der erste Mann hatte mich fast erreicht, als die beiden anderen Männer ihn einholten. Beide Verfolger hatten Schwerter dabei. Ich wollte schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus. Einer der Männer schlug mit dem Schwert zu und traf den ersten Mann von hinten. Er fiel zu Boden und direkt auf meine Beine. Ich versuchte, nach hinten zu rutschen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Der Mann war zu schwer. »Stirb«, hörte ich eine tiefe Stimme. Ich konnte nicht sehen, wer gesprochen hatte. »Bitte tun Sie mir nichts«, stammelte ich. Meine Stimme war vor Angst kaum zu hören. Tränen strömten mir über die Wangen, und ich zitterte immer noch. Ich starrte auf die Schwerter der Männer. »Emmalyn?«, fragte einer der beiden ungläubig.

Custos umbrarum

Ich sah auf und erkannte Gabriel. Neben ihm stand ein zweiter Junge. War das sein Bruder? »Gabriel? Aber ...«

Weiter kam ich nicht, denn plötzlich war da ein vierter Mann und stürzte sich auf Gabriel. Er war immer noch irritiert, mich hier zu sehen. Nur mit Mühe wich er aus. Daraufhin ging der Mann auf den zweiten Jungen los, der nicht darauf vorbereitet war. Er versuchte, den Mann mit seinem Schwert abzuwehren, war aber nicht schnell genug. Der Mann traf den Jungen am Bein. Ich konnte nicht erkennen womit, denn er hatte mir den Rücken zugedreht. Das Schwert landete klirrend auf dem Boden. Der Junge schrie und stürzte. Mit beiden Händen umklammerte er sein Bein. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.

»Joshua, verdammt«, rief Gabriel und versetzte dem Mann einen Tritt, sodass dieser zurücktaumelte. Nun konnte ich ihn sehen. Das war kein Mann. Das war nur der Schatten eines Mannes, ohne Konturen.

»Nein, bitte nicht«, stammelte ich und versuchte, mich von dem Mann auf meinen Beinen zu befreien.

Mit aller Kraft konnte ich ihn schließlich wegschieben. Gabriel schlug wie besessen mit seinem Schwert auf den Schattenmann ein. Wieder und wieder traf er ihn. Alles, was ich hörte, war Gabriels schwerer Atem, ansonsten war es still. Zu still. Der Schattenmann musste jeden Moment blutüberströmt zusammenbrechen. Ich wollte wegsehen, konnte es aber nicht. Und da sah ich, dass der Schattenmann zwar wankte, aber nicht blutete. Wie konnte das sein?

Gabriel holte etwas aus seiner Tasche und richtete es auf seinen Gegner. Eine Stichflamme schoss hervor und setzte den Schattenmann in Brand. Gabriel warf sein Schwert beiseite und stürzte zu seinem Bruder. Ich sah entgeistert zu, wie das seltsame Wesen von oben nach unten abbrannte und schließlich nur noch ein Häufchen Asche zurückblieb. Meine Ohren rauschten. Nur wie aus weiter Ferne hörte ich, dass Gabriel und sein Bruder sich unterhielten.

»Emmalyn.« Gabriel musste mehrmals meinen Namen gerufen haben, doch erst jetzt hörte ich ihn.

Ich sah ihn an. »Was war das?«, fragte ich leise.

»Hast du 'nen Gürtel?«, wollte Gabriel wissen. »Joshua ist verletzt, ich muss sein Bein abbinden.«

Ein Gürtel. Ich fasste an meine Taille und spürte etwas aus Leder. Ich wollte aufstehen, aber meine Beine gaben gleich nach, also kroch ich hinüber zu Gabriel. Etwas umständlich zog ich den Gürtel aus meiner Hose und reichte ihn Gabriel. Er legte ihn um Joshuas Bein.

»Gib mir bitte das Schwert«, bat er und deutete neben mich.

Ich fühlte mich immer noch wie in Trance und fragte nicht, was Gabriel damit vorhatte. Stattdessen griff ich nach Joshuas Schwert, das neben mir auf dem Boden lag, und warf einen kurzen Blick darauf. Es war relativ klein und hatte eine schwarze Klinge. Der Griff war dunkelgrün und mit kleinen Steinen in einem helleren Grünton verziert. Außerdem waren die Worte Custos umbrarum eingraviert. Ich reichte Gabriel das Schwert. Er stach damit eine weitere Öffnung in den Gürtel und schloss ihn. Ich hätte protestieren können, dass er dabei war, meinen Lieblingsgürtel zu ruinieren, aber das war im Moment mein kleinstes Problem. »Geht's so?«, fragte Gabriel seinen Bruder. Joshua nickte. Er sah ziemlich blass aus. »Ich denk schon.« Nun sah Gabriel wieder mich an. »Hast du vielleicht was zu trinken dabei?« Ich nickte und zeigte hinter ihn, wo der komplette Inhalt meiner Tasche immer noch auf dem Boden verstreut lag. Gabriel stand auf, holte meine Wasserflasche und reichte sie Joshua. Der trank einen Schluck und sah gleich ein wenig besser aus. Ich hingegen fühlte mich kein bisschen besser. Die Tränen, die während des Schocks getrocknet waren, kamen nun mit aller Macht wieder. Ich wollte nicht weinen, schon gar nicht vor Gabriel, doch ich musste schluchzen. »Bitte nicht weinen. Auf weinende Mädchen reagier ich immer irgendwie allergisch«, meinte Gabriel nun. Bisher war er ja ganz umgänglich gewesen, doch jetzt schien er zu seiner üblichen Form zurückzufinden. Meine Stimmung schlug um. Ich wurde wütend auf Gabriel, und die Tränen versiegten. Am liebsten hätte ich ihm sämtliche Schimpfwörter, die mir in diesem Moment einfielen, an den Kopf geworfen, doch ich ließ es. »Was machst du hier?« »Was ich hier mache? Was machst du hier?« »Ich wohne hier und geh nicht mit Schwertern auf andere Menschen los. Was soll das Ganze?« Gabriel sammelte die beiden Schwerter ein und sah mich an. Mir fiel auf, dass er nicht wie sonst grinste. »Wir waren auf einer verspäteten Faschingsparty.« »Und das soll ich dir glauben?« »Seh ich etwa nicht glaubwürdig aus?«, meinte er und baute sich in voller Größe auf. »Ist ja auch egal, ich muss mich jetzt um Joshua kümmern. Er braucht dringend einen Arzt.« Das sah ich ein, aber so leicht wollte ich es ihm trotzdem nicht machen. »Erst will ich wissen, was hier läuft.« Nun grinste er doch wieder. »Hier läuft gar nichts, aber das können wir gern ändern, wenn du willst.« »Gabriel, ich mein's ernst.« »Ich auch.« Einen Moment war ich sprachlos. In genau diesem Moment waren Polizeisirenen zu hören. »Shit. Hast du die gerufen?«, fragte Gabriel und sah mich fast ein wenig böse an. Ich nickte. »Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.« Gabriel bückte sich und half seinem Bruder hoch. »Was machst du da?«, wollte ich wissen. »Ich sagte doch, Joshua braucht einen Arzt. Wir haben jetzt keine Zeit, auf die Polizei zu warten.« »Aber ihr könnt doch nicht einfach abhauen, nach allem, was ihr hier angerichtet habt.« »Was haben wir denn bitte angerichtet?« Ich sah zu dem Mann, der am Boden lag. Gabriel folgte meinem Blick und musste lachen. »Der da? Der ist bloß bewusstlos. Du musst mir vertrauen, Emmalyn. Wir tun keinem was, aber wir müssen jetzt hier weg.« Ich zögerte. Der bewusstlose Mann schien nicht verletzt zu sein, aber das änderte nichts daran, dass Gabriel ihn niedergeschlagen hatte. »Komm schon, Emmalyn, du bist mir ohnehin noch was schuldig.« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er auf die Sache mit den Referatsmaterialien anspielte. Ich wusste nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, dass es richtig war, sie gehen zu lassen. Also nickte ich schließlich. Gabriel warf mir ein flüchtiges Lächeln zu, dann verschwanden er und sein Bruder. Ich hatte kaum Zeit, meine Gedanken zu sortieren, als zwei Polizisten angerannt kamen. Der eine stürzte sich gleich auf den ohnmächtigen Mann, der andere hockte sich neben mich. »Sind Sie verletzt?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« »Haben Sie die Polizei gerufen?« Ich nickte. »Was ist denn passiert?« »Ich ... Ich weiß auch nicht so genau. Da waren drei Männer, die miteinander gekämpft haben.« Ich zeigte auf den bewusstlosen Mann. »Der Mann dort ging zu Boden. Ich weiß nicht, ob er verletzt ist.« »Und die anderen beiden Männer?« »Die sind weggerannt, als sie mich gesehen haben.« »Da haben Sie aber Glück gehabt. Können Sie die Männer beschreiben?« »Sie waren maskiert«, log ich nach kurzem Zögern. Auch wenn ich selbst nicht so genau wusste, warum ich Gabriel und seinen Bruder eigentlich in Schutz nehmen sollte. »Mit dem hier ist alles in Ordnung, er ist nur bewusstlos«, sagte der zweite Polizist und kam auf uns zu. »Was ist denn passiert?« Ich erzählte meine Geschichte noch einmal. Währenddessen sah sich der erste Polizist etwas genauer um. Er inspizierte vor allem das Häufchen Asche genauer, stellte aber keine Fragen. Dann begutachtete er meine Sachen, die auf dem Boden verstreut lagen. »Sind das Ihre Sachen?«, fragte er. Ich nickte. »Ja, das sind meine. Mir ist die Tasche heruntergefallen, als ich nach meinem Handy gesucht hab.« Er begann, alles einzusammeln und in die Tasche zu stopfen. Ich stand auf, um ihm dabei zu helfen. In diesem Moment entdeckte der andere Polizist die Wasserflasche und den Blutfleck. »Was ist denn hier passiert?«, wollte er wissen. Mein Herz begann wieder, schneller zu schlagen. »Ich weiß nicht. Vielleicht hat sich einer der beiden anderen Männer verletzt?« »Waren sie bewaffnet?« Ich überlegte einen Moment fieberhaft, was ich sagen sollte, doch dann entschied ich mich für die Wahrheit. »Sie hatten zwei Schwerter.« Die beiden Polizisten warfen sich einen komischen Blick zu. Dann griff der eine Polizist nach der Wasserflasche. »Ich darf doch?« Ich wusste zwar nicht, was er damit wollte, doch ich nickte trotzdem. Der Polizist ging daraufhin zu dem bewusstlosen Mann, schüttete ihm etwas Wasser ins Gesicht und tätschelte ihm die Wange. »Hallo, können Sie mich hören?« Der Mann schien langsam zu Bewusstsein zu kommen. Währenddessen hatten der andere Polizist und ich all meine Sachen aufgesammelt. »Wo wohnst du?«, fragte er. Anscheinend war ihm mittlerweile aufgefallen, dass ich noch nicht volljährig war. »Neckarhamm«, antwortete ich. »Das ist ja gleich hier vorne. Dann bring ich dich mal eben nach Hause, während mein Kollege den Mann befragt.« Dankbar griff ich nach meiner Tasche. »Wolfgang? Ich bring das Mädchen schnell nach Hause«, meinte der eine Polizist zum anderen. »Warte, der Mann hier kann sich an nichts erinnern. Ich schätze, unsere Arbeit ist damit erledigt.«

 

Keine zehn Minuten später stand ich unter der Dusche und ließ warmes Wasser auf mich prasseln. Als ich nach Hause gekommen war, war niemand da gewesen. Einerseits war ich froh darüber, so musste ich wenigstens keine Fragen beantworten. Andererseits war ich nicht sicher, ob ich jetzt wirklich allein sein wollte.

Das warme Wasser dämpfte den Schock, und so langsam fühlte ich mich wieder klar, während sich der heiße Dampf auf den Spiegel legte. Und mit der Klarheit kamen auch die Fragen. Was war da passiert? Warum liefen Gabriel und sein Bruder mit Schwertern herum, und was war das für ein komisches Wesen gewesen, dass da abgebrannt war? Hatte das Ganze etwa irgendetwas mit einem satanischen Ritual zu tun? Und welche Rolle spielte die Polizei? Ich war heilfroh gewesen, dass mich die Männer gleich nach Hause gefahren hatten, aber andererseits wunderte es mich auch. Sie hatten nur meine Daten aufgenommen. Eine offizielle Aussage hatte ich nicht machen müssen, geschweige denn, dass sie mich mit aufs Revier genommen hätten. Zudem hatten sie den Tatort nicht abgesperrt, sie hatten keine Fingerabdrücke genommen und sich auch nicht wirklich für Joshuas Blutspuren interessiert.

Ich kannte mich mit der Polizeiarbeit nicht sonderlich gut aus, aber das Ganze kam mir doch etwas suspekt vor. Hatten die Polizisten hier versucht, etwas zu vertuschen? Und was hatten Gabriel und Joshua zu verbergen?

Auch wenn ich sonst nur Fragen hatte, dessen war ich mir sicher: Gabriel war nicht auf einer Faschingsparty gewesen.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Tim und schloss mich fest in seine Arme.

Gleich nach der Dusche hatte ich Tim angerufen und gebeten, vorbeizukommen. Ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich über alles reden konnte, und ich wollte über Nacht auch nicht alleine sein. Tim war zwar mit Freunden verabredet gewesen, hatte sich aber gleich auf den Weg gemacht. Als ich ihm die Tür öffnete und ihn da stehen sah, war ich in Tränen ausgebrochen, ohne es zu wollen.

Eine Weile standen wir im Flur, und Tim tröstete mich. Dann kochte er eine Kanne Tee für uns, und wir gingen nach oben in mein Zimmer, wo ich ihm erzählte, was passiert war. Ich bemerkte, dass Tim wütend wurde, aber er hörte mir geduldig zu und unterbrach mich nicht. Doch kaum war ich fertig, legte er los.

»Gabriel. Und Joshua? Das darf doch nicht wahr sein. Bist du dir wirklich sicher?«

Ich nickte.

»Ich versteh's nicht. Warum treiben die sich auf einem Spielplatz rum, noch dazu mit Schwertern?«

Ich zuckte die Schultern. »Frag mich was Leichteres, ich kann's mir auch nicht erklären.« Tim war irgendwann aufgestanden und lief nun in meinem Zimmer auf und ab. Er machte mich damit ganz nervös, aber ich bat ihn trotzdem nicht, damit aufzuhören.

»Ich wusste doch, dass die irgendwas zu verbergen haben. Vielleicht ist an dem ganzen Satanismus-Kram doch was dran. Bei Gabriel wundert mich nichts mehr. Aber ich frag mich, warum Joshua bei so was mitmacht. Er war eigentlich ganz vernünftig.«

»Du hast ihn ja schon eine Weile nicht mehr gesehen«, gab ich leise zu bedenken. »Menschen ändern sich.«

Tim blieb einen Moment stehen und sah mich an. »Was hat er denn für einen Eindruck auf dich gemacht?«

Ich überlegte einen Moment. »Wenn ich ehrlich bin, hat er bei mir überhaupt keinen Eindruck hinterlassen. Er hat kaum zwei Sätze gesprochen.«

Tim nickte, dann kam er zu mir und setzte sich neben mich aufs Bett. »Bitte halt dich von den beiden fern«, sagte er.

»Ich hab doch eh nicht viel mit ihnen zu tun.«

»Weiß ich, aber ich mein's ernst. Gabriel ist mir nicht geheuer, und ich möchte nicht, dass er dich oder Hannah in irgendwas reinzieht. Haltet einfach Abstand.«

»Aber das Referat ...«, begann ich.

»Das Referat könnt ihr ja machen, dafür braucht ihr ihn doch nicht mehr. Und was den Ordner angeht, gib ihn Mark. Der kann ihn dann Gabriel zurückgeben.«

»Okay«, stimmte ich schließlich zu, auch wenn ich nicht vorhatte, mich daran zu halten. Ich fand das Ganze etwas übertrieben. Ich hatte ja nicht vor, mich mit Gabriel anzufreunden, und was war schon dabei, wenn ich ihm seinen Ordner zurückgab? Zwar konnte ich nicht sagen, was genau geschehen war, aber ich war mir dennoch ziemlich sicher, dass ich weder vor Gabriel, noch vor seinem Bruder Angst haben musste.

Ich hatte die Nacht über kaum ein Auge zugetan, obwohl Tim da gewesen war. Mir hatte einfach zu viel im Kopf herumgespukt. Das Ganze war unheimlich und unerklärlich, aber ich wollte eine Erklärung. Nun saß ich müde in meinem Schlafanzug auf meinem Bett und versuchte, eine Antwort zu finden. Tim war vor etwa einer halben Stunde gegangen. Er hatte ein Fußballspiel, und ich sah nicht ein, dass er nach seiner Verabredung mit seinen Freunden gestern Abend auch noch das Spiel verpassen sollte.

Während ich darüber nachdachte, was das alles zu bedeuten hatte, drückte ich meinen Winnie Puuh-Stoffbären fest an mich und hörte mir die Jonas Brothers an, um mich gleichzeitig ein wenig abzulenken. Ich war vielleicht schon etwas zu alt für Stoffbären und die Jonas Brothers, aber das war mir gerade ziemlich egal. Beides beruhigte mich etwas, und ich verhielt mich auch nicht wie ein vierzehnjähriger, kreischender Fan, wenn ich Nick oder Joe Jonas irgendwo im Fernsehen sah. Ich mochte einfach nur deren Musik.

Es klopfte an meiner Tür. Ich wollte alleine sein, aber ich wusste, dass sich meine Mutter Sorgen machte. Ich hatte heute Morgen nichts gefrühstückt, wahrscheinlich wollte sie mir etwas zu essen bringen.

»Komm rein«, rief ich, um die Musik zu übertönen.

Herein kam allerdings nicht meine Mutter, sondern Gabriel. Na super, und wieder eine Begegnung im Schlafanzug. Einen Moment dachte ich an Tim. Zum Glück war er schon auf dem Fußballplatz.

Gabriel schloss die Tür und sah mich einen Moment an. Ich legte den Bären auf mein Kopfkissen und wartete auf eine bissige Bemerkung seinerseits, doch die blieb aus. Ein Grinsen konnte er sich aber nicht verkneifen. »Darf ich reinkommen?«, fragte er.

Ich setzte mich etwas aufrechter hin. »Wenn's unbedingt sein muss.«

»Wie geht’s dir?«

»Wie soll's mir schon gehen?«

»Ich hoffe, du hattest keinen Ärger mit der Polizei?«

»Nee, hatte ich komischerweise nicht. Dein Glück. Du kannst mir das nicht zufällig erklären?« Ich funkelte ihn an. Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich tatsächlich keine Angst. Ich war eher sauer auf ihn, und neugierig. Ich wollte unbedingt wissen, was da geschehen war.

Gabriel zuckte die Schultern und kam zu mir. Er warf mir eine kleine Tüte hin. Dann ließ er sich neben mich aufs Bett fallen und machte es sich gemütlich.

»Was ist das?«, wollte ich wissen und zeigte auf die Tüte.

»Tja, um das rauszufinden, gibt's 'ne ganz einfache Lösung: Schau rein.«

Ich griff nach der Tüte und leerte den Inhalt auf meinem Bett aus. Zum Vorschein kam ein pinkfarbener Gürtel, auf dem kleine, schlafende Puuh-Bären abgebildet waren. Fassungslos sah ich ihn an.

Er grinste. »Ich dacht mir, der passt zu deinem Stil. Dein Gürtel war leider nicht mehr zu retten.«

Wo zum Geier hatte er den am Sonntag aufgetrieben? Aber ich fragte nicht nach, und ich bedankte mich auch nicht, obwohl ich das wohl hätte machen sollen. Stattdessen wechselte ich das Thema. »Wie geht's deinem Bruder?«

»Ganz gut. Er musste genäht werden, aber es wurde keine wichtige Arterie verletzt. Er darf sich eine ganze Weile nicht körperlich betätigen, aber da er Sport nicht ausstehen kann und auch keine Freundin hat, sollte das kein Problem sein.« Gabriel grinste.

»Freut mich.«

»Dass er keine Freundin hat?«

Ich stöhnte. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön nerven kannst?«

»In der Regel wissen die Leute meine Anwesenheit zu schätzen, aber ich kann auch gehen.« Er machte Anstalten, aufzustehen, aber ich drückte ihn zurück aufs Bett. Er grinste. »Das kommt in der Tat öfter mal vor.«

 

Wieder stöhnte ich. »Hör mal, ich hab überhaupt kein Problem damit, dich aus meinem Bett zu schmeißen.«

»Tatsächlich? Du würdest mich einfach so von der Bettkante stoßen?«, unterbrach er mich und grinste amüsiert.

Ich verdrehte die Augen. »Ich hätte aber vorher gern einige Antworten von dir.«

»Normalerweise unterhalte ich mich ja nicht im Bett, aber bei dir mach ich mal 'ne Ausnahme. Also, was willst du wissen?«

»Frag doch nicht so blöd, du weißt ganz genau, was ich wissen will. Du könntest mir zum Beispiel erklären, was das gestern sollte.«

»Hab ich das nicht bereits gestern getan?«

»Nein, hast du nicht.«

»Muss ich wohl vergessen haben.«

Ich sah ihn an und wartete darauf, dass er weiter redete, doch er schwieg. Also meinte ich: »Willst du es mir dann vielleicht jetzt erklären?«

Er gab vor, einen Moment zu überlegen. »Nein, will ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Lass mal überlegen. Vielleicht, weil's dich nichts angeht? Außerdem ist es doch langweilig, wenn man jede Kleinigkeit vom anderen weiß. Wo bleibt denn da das Geheimnisvolle?«

Ich ignorierte seine beiden letzten Kommentare. »Ich finde schon, dass mich das was angeht. Schließlich hast du mich ja in die ganze Sache hineingezogen.«

Gabriel lachte. »Hab ich das? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich eingeladen zu haben. Ich hab dich auch nicht gebeten, die Polizei zu rufen oder zu bleiben.«

»Mag sein, aber jetzt war ich nun mal da. Und ich finde, ich hab eine Erklärung verdient.«

»Ich finde auch, dass ich 'nen Porsche verdient hab. Das Leben läuft halt nicht immer so, wie man's gern hätt. Du weißt schon, die Sache mit dem Ponyhof und so.«

Ich ließ meinen Kopf auf meine Knie fallen. Wie konnte eine einzelne Person so anstrengend sein? Ich holte ein paar Mal tief Luft, dann setzte ich mich wieder auf und sah ihn an. Er grinste. »Das Ganze hatte nicht zufällig was mit einem bescheuerten, satanischen Ritual zu tun?«, wagte ich einen neuen Versuch.

Gabriel lachte. Es war das erste Mal, dass ich ihn richtig lachen hörte. Dann sah er mich an. »War die Frage etwa ernst gemeint?«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und nickte.

»Ein satanisches Ritual, was denkst du denn von mir?«

»Willst du das ehrlich wissen?«, fragte ich.

»Ich hör mir immer wieder gern an, dass ich toll bin, tu dir keinen Zwang an.«

Ich musste lachen. Das Ganze war aberwitzig. Man konnte einfach keine normale Unterhaltung mit Gabriel führen.

Er stand auf und streckte sich. »War schön mit dir im Bett, aber ich muss leider weiter.«

»Du weißt ja, wo die Tür ist.«

Einen Moment sah er mich grinsend an. »Sag mal, läufst du eigentlich den ganzen Tag im Schlafanzug rum?«

»Nur, wenn ich Männerbesuch erwarte.«

Gabriel lachte und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal zu mir um. »Nette Musik hörst du da übrigens. Meine kleine Schwester steht auch auf die Jonas Brothers. Vielleicht könnt ihr ja mal CDs austauschen.« Er zwinkerte mir zu, dann war er verschwunden, und ich blieb mit meinen Gedanken und Fragen alleine zurück.

Am Montagmorgen machten mein Bruder und ich uns gemeinsam auf den Schulweg. Wir wohnten ja in der Nähe der Schule und konnten daher zu Fuß gehen. Es war das erste Mal seit dem Vorfall am Samstagabend, dass ich wieder Richtung Spielplatz ging, daher fühlte ich mich ein wenig unwohl. Es war aber nicht so schlimm, wie ich vorher befürchtet hatte.

»Geh schon mal vor«, meinte ich zu Mark, als wir an dem kleinen Seitenweg angekommen waren, der zum Spielplatz führte. Ich wollte mir noch einmal den Tatort ansehen. Vielleicht würde ich ja auf etwas stoßen, dass mir weiterhelfen würde. Mark nickte mir zu und stellte zum Glück keine Fragen. Er hatte heute seine erste schriftliche Abiprüfung und daher wahrscheinlich andere Sorgen. Ich wartete, bis er auf dem Schulhof verschwunden war. Von dort drangen die typischen Geräusche zu mir herüber. Wahrscheinlich erzählten sich alle gegenseitig, was sie am Wochenende alles gemacht hatten. Es war ein normaler Montagmorgen für alle, aber für mich war es das nicht.

Ich holte ein paar Mal tief Luft, dann ging ich den Weg entlang Richtung Spielplatz. Ein Pärchen saß knutschend auf einer Bank, aber sie bemerkten mich nicht, da sie mit dem Rücken zu mir saßen. Ich sah mich etwas genauer um. Nichts deutete auf das hin, was Samstagabend hier geschehen war. Das Häufchen Asche war verschwunden, ebenso Joshuas Blutspuren, aber das war wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich. Sicher hatte sich die Polizei um die Blutspuren gekümmert, und die Asche war vielleicht weggeweht worden. Ich sah mich weiter um, konnte aber beim besten Willen nichts finden, was mir irgendwie weitergeholfen hätte.

»Hey, beobachtest du uns etwa?«, rief der Junge zu mir herüber, der mit seiner Freundin auf der Bank saß.

Ich schüttelte den Kopf und entfernte mich ein Stück, als mich die Erinnerung wie ein Déjà-vu traf. Custos umbrarum, diese Worte hatten auf dem Schwert gestanden. Ich wusste nicht, was sie bedeuteten, aber ich würde es herausfinden. Und vielleicht würde ich dann auch hinter das Geheimnis kommen, das Gabriel vor mir zu verbergen versuchte. Jetzt musste ich aber erst einmal zum Unterricht. Ich machte mich auf den Weg zum Schulhof. Hannah wartete bereits auf mich. Als sie mich sah, kam sie direkt auf mich zu. »Stell dir vor, Gabriel steht da drüben und schaut immer wieder rüber«, meinte sie fröhlich. »Super«, erwiderte ich. Was sollte ich auch sonst sagen? Ich blickte in Gabriels Richtung. Dort stand er tatsächlich mit seinen Freunden in der Sonne. Nun entdeckte er mich auch. Er grinste, sagte etwas zu seinen Freunden und kam auf uns zu. Ich bemerkte, dass Hannah mir einen skeptischen Blick von der Seite zuwarf. Nun schien sie begriffen zu haben, dass er nicht sie beobachtet hatte. Er hatte nur auf mich gewartet. Oh Gott, Hannah würde mir den Kopf abreißen. Ich hatte ihr noch gar nicht erzählt, was Samstagabend passiert war. Und sie wusste auch noch nicht, dass Gabriel gestern Vormittag noch einmal bei mir gewesen war. »Guten Morgen, die Damen«, meinte er nun. Hannah und ich erwiderten die Begrüßung weniger enthusiastisch. Ich war mir sicher, dass sie sich ebenfalls fragte, was er von mir wollte. Prompt galt seine Aufmerksamkeit mir. »Na, hast du mich schon vermisst?«, fragte er grinsend. »Ich konnte mich gerade noch beherrschen.« Er lehnte sich zu mir und senkte seine Stimme. Er sprach aber laut genug, sodass auch Hannah ihn noch verstehen konnte. »Tut mir leid, dass ich gestern nicht länger bleiben konnte. Ich musste noch lernen.« »Tja, kann man nichts machen«, meinte ich. Es sollte ironisch klingen, aber ich war mir nicht sicher, ob Hannah das auch bemerkte. Bevor ich Gabriel fragen konnte, was das Ganze sollte, klingelte es zur ersten Stunde. Er zwinkerte mir zu. »Bis später dann, ich muss jetzt Deutsch-Abi schreiben.« Ich wartete nicht, bis er außer Hörweite war. »Hannah«, begann ich und griff nach ihrem Arm, doch sie riss sich los und stolzierte davon. Einen Moment sah ich ihr hinterher, dann drehte ich mich zu Gabriel um. Er stand wieder bei seinen Freunden, warf mir aber grinsend einen Blick zu. Wenn ich mich nicht sehr täuschte, hatte er das mit Absicht getan. Er wollte, dass Hannah wütend auf mich war, und das war ihm gelungen. Am liebsten hätte ich ihn hier und jetzt zur Rede gestellt, aber dann wäre ich zu spät zur Mathestunde gekommen. Es musste also wohl oder übel noch etwas warten.