Bloomwell - ein recht beschaulicher Ort

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Bloody hell!

Wie lange will die Polizei und Bloomwell das Haus als Tatort belassen? Allein das ist ungewöhnlich genug. Wie wild fotografiere ich drauflos: die Rolle Seil, von der sich Welsham ein passendes Stück abgeschnitten hat, und das Messer, das er dafür verwendete. Den Stuhl, auf den er gestiegen ist, und der umgefallen am Boden liegt. Am Deckenbalken sind leichte Scheuerspuren des Seils zu erkennen. Bestimmt hat die Spurensicherung dort Fasern gefunden und sie mit der Rolle und dem Stück um Welshams Hals verglichen. Eigentlich eine überflüssige Arbeit, doch es gilt ganz klar zu dokumentieren, dass Seilrolle und Mordwerkzeug zusammengehören.

Hmpf.

Ich stelle den umgeworfenen Stuhl auf und steige hinauf. Welshams Haus hat deutlich höhere Wände als mein eigenes und wirkt damit wesentlich freundlicher und heller. Ich bin kein Winzling, muss allerdings den Arm komplett ausstrecken, um die Handfläche auf den Deckenbalken legen zu können. Nachdenklich springe ich vom Stuhl herab und sehe mich weiter um. Keine Leiter. Okay, die habe ich nicht wirklich erwartet. Dafür entdecke ich eine Kommodenschublade, die ein wenig vorsteht. Jemand hat sie nicht richtig zugeschoben. Darum stöbere ich als Nächstes darin herum. Ich finde zwei dünne Bücher über Pflanzen und Insekten am Wegesrand, in einem Etui eine Sonnenbrille, mehrere Kugelschreiber und einem Block Briefpapier, der mit Welshams Initialen bedruckt ist. Dazwischen liegt die Fernbedienung des Fernsehers. Ich setze mir die Sonnenbrille auf. Sofort verschwimmt mein Sichtfeld und ich erkenne beinahe überhaupt nichts mehr. Damit steht für mich fest, dass Welsham auf seine Brille angewiesen war. Seltsam finde ich es nur, dass in der Schublade genauso ein Chaos herrscht, wie ich es im Büro vorgefunden habe. In den Kommoden und der Anrichte sieht es ähnlich aus, wie ich schnell feststelle. Entweder war mein Vorgänger ein recht schlampiger Mensch oder in den Möbeln wurde herumgekramt.

Ich verlasse die Wohnstube und schaue lediglich kurz ins Bad und ins Schlafzimmer. Die Matratze ist leicht verschoben und das Bettzeug zerwühlt. Und es ist deutlich, dass auch hier in den Schränken etwas gesucht wurde. Der Stapel mit den Hemden droht zu kippen, die Unterwäsche ist völlig in Unordnung geraten und die Tasche einer Anzugshose sogar auf Links gedreht worden. Jemand hat das Haus durchwühlt. Und das in einem Ort, in dem man getrost die Türen offenstehen lassen kann. Wer’s glaubt, wird selig. Bloomwells Scheinheiligkeit stinkt wie der Bürgermeister zum Himmel.

###

Zurück im Büro, trinke ich Tee und esse die Sandwiches. Dabei tippe ich meine Aufzeichnungen vom Vorabend ab, überspiele die Fotos vom Handy auf den Rechner und speichere die Dateien auf der Festplatte. Eine Kopie ziehe ich auf den USB-Stick, den ich gestern privat gekauft habe, und verwahre ihn in die Innentasche des Jacketts. Vielleicht bin ich ein bisschen paranoid, aber ich werde den Stick entweder bei mir tragen oder zu Hause sicher verstecken. Mir geistern nämlich nach wie vor Nathans SIE durch den Sinn. Es ist zum Mäusemelken, dass er mir nichts Genaueres mitteilen will. Sein mangelndes Vertrauen ist verständlich, trotzdem tut es weh.

Hör schon auf, sage ich zu mir. Nur weil sich zwei Schwule rein zufällig irgendwo treffen, bedeutet das nicht, dass sie zwangsläufig etwas miteinander anfangen müssen oder sich sogleich auf einer Wellenlänge befinden.

Wenn Nathan bloß nicht so attraktiv wäre. Und genau das ist er, trotz zerschrammter Finger.

Boah, Alastair! Du bist wirklich ein Snob.

Das Telefon klingelt. Völlig überrascht starre ich es an. Es läutet und läutet, ich habe es mir also nicht eingebildet. Aufgeregt schnappe ich mir den Hörer.

„Exeter CID, Zweigstelle Bloomwell. Sie sprechen mit DI Culpepper.“

Es ist George, der mir mitteilt, dass er einen Teil der angeforderten Unterlagen bereits zusammengetragen und zu einem Paket verschnürt hat. Er will es mir vorbeibringen, damit ich die Dokumente heute noch studieren kann. Obwohl ich richtig wild auf das Päckchen bin, bitte ich ihn, es möglichst unauffällig per Post zu schicken. Erneut habe ich Nathans Warnung im Ohr. Außerdem möchte ich keine blöde Ausrede für meinen Vorgesetzten erfinden müssen, wenn er nachfragt, in welcher Angelegenheit mir George Aufzeichnungen eines abgeschlossenen Todesfalles bringen soll. Denn natürlich würde eine Dienstfahrt nach Bloomwell eher Aufsehen erregen, als wenn George kurz bei der Post vorbeimarschiert. Und ich will ehrlich sein: Ein konkreter Beweis liegt mir nicht vor. Ich kratze gerade an der Oberfläche einiger seltsamen Ungereimtheiten herum. George erklärt sich mit der ungewöhnlichen Vorgehensweise einverstanden und verabschiedet sich.

Fantastisch! Es geht voran.

Genüsslich schlürfe ich den Rest Tee und entscheide mich zu einem weiteren Rundgang durchs Dorf. Immerhin hat es zu regnen aufgehört.

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„Hey! Was machen Sie da?“ Neben meinem Dienstwagen kniet ein Kerl im schmutzigen Overall und fummelt an den Reifen herum. Als ich ihn anschreie, springt er sofort auf. In seiner Hand hält er einen Radkreuzschlüssel.

„Nun mal langsam“, brummt der Fremde, in dessen Mundwinkel ein Zigarettenstummel wippt.

„Wer sind Sie?“, frage ich und deute auf den BMW. „Und warum machen Sie sich an meinem Wagen zu schaffen?“

„Ich ziehe die Radmuttern nach.“ Er präsentiert mir das Werkzeug „Das macht man üblicherweise, nachdem man neue Reifen aufgezogen und das Auto ein Stück bewegt wurde. Ich dachte, ich komme Ihnen entgegen, indem ich das hier vor Ort erledige, statt Sie in die Werkstatt zu beordern.“

„Oh. Also sind Sie Larry Coleman von der Tankstelle?“ Der ölig glänzende Scheitel des schmierig wirkenden Kerls lässt diese Schlussfolgerung zu.

„Richtig, Sir. Ich dachte, Sie hätten mich wiedererkannt.“

„Ich wüsste nicht, dass wir uns schon begegnet sind.“

„In der Nacht, in der Sie angekommen sind, habe ich am Brunnen gesessen.“ Coleman deutet in die Richtung, aus der leise Wasser plätschert.

„Ach, das waren Sie.“

Er nickt.

„Dann nichts für ungut. Sind die Radmuttern fest?“

„Und wie.“ Er grinst. „In meiner Werkstatt erhalten Sie nur Qualitätsarbeit.“

Na klar. Perfektes Bloomwell, perfekte Läden und perfekte Menschen. Allmählich geht mir die Selbstbeweihräucherung auf den Geist.

„Kannten Sie eigentlich Mr. Welsham?“

„Klar. War ein ziemlich gestörter Typ.“ Coleman zieht an seiner Zigarette.

„Inwiefern?“ Trotz meiner spontanen Abneigung trete ich einen Schritt näher.

Der Automechaniker zuckt mit den Schultern. „Welsham musste überall herumschnüffeln und hat dumme Fragen gestellt. Der hat sich dermaßen gelangweilt, dass er in jedem Winkel Verschwörungen vermutet hat.“

„Hatte Welsham einen Anlass, an irgendwelche Intrigen zu glauben?“

„Quatsch! Er wollte nicht begreifen, dass ein Ort existiert, in dem es kein kriminelles Gesocks gibt. Bloomwell ist …“

„… recht beschaulich. Ich weiß.“

Coleman stutzt kurz. „Genau.“ Er betrachtet mich ein paar Sekunden ratlos, als hätte er den Faden verloren.

Ich helfe ihm auf die Sprünge: „Es gibt in diesem Dorf kein Gesocks, sagten Sie.“

„So ist es. Und deswegen begann Welsham irgendwelchen Unsinn zu erfinden und den Leuten anzuhängen, damit er was zu ermitteln hatte.“

Ob Coleman zwischen Wahrheit und Fantasien unterscheiden kann?

„Wenn Sie mich fragen, trank er zu viel“, fährt der Mechaniker fort.

„Tatsächlich?“

Der Charlie auf den Fotos wirkte nicht wie ein Alkoholiker.

„Erkundigen Sie sich bei Patrick Fitzgerald, wenn Sie mir nicht glauben.“

„Wer ist das?“

„Der Wirt vom Crown and Bells“, erklärt Coleman hilfreich, bevor er die Augen halb zusammenkneift. „Ermitteln Sie etwa auch, oder was soll die ganze Fragerei? Hat die Polizei uns aufs Korn genommen?“

„Gibt es einen Grund, um genau das zu tun?“, will ich unterkühlt wissen.

„Nein!“, ruft er empört. „Fairchild erwähnte neulich, dass Sie verdammt neugierig sind.“

So, so. Das tratscht Fairchild über mich herum?

„Neugier ist eine Berufskrankheit. Bloomwell wollte unbedingt einen Detective vor Ort haben, obwohl mir jeder erzählt, dass es kein friedlicheres Dorf als dieses gibt. Wenn meine Anwesenheit dermaßen dringend erwünscht ist, muss damit gerechnet werden, dass ich Fragen stelle. Oder besteht Ihrerseits ein Interesse daran, dass ich mich auch vor lauter Langeweile umbringe?“

„Machen Sie doch, was Sie wollen“, brummt Coleman mürrisch.

„Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen“, sage ich mit einer großzügigen Portion Sarkasmus. Damit lasse ich den Unsympathen stehen und begebe mich auf die Suche nach Fairchild, um ihm gehörig die Meinung zu geigen. Wenn die Einwohner von Bloomwell mir Vorschriften machen wollen, beißen sie auf Granit. Und ich beabsichtige, dies von Anfang an klarzustellen.

###

Der Antiquitätenhändler ist nicht in seinem Laden, daher vermag ich meiner miesen Laune keine Luft zu verschaffen. Mit Mühe widerstehe ich dem kindischen Drang, gegen die Tür zu treten. Schließlich bin ich DI, befinde mich in der Öffentlichkeit und soll als gutes Vorbild vorangehen. Vielleicht ist er ja wider Erwarten doch da und versteckt sich bloß, weil er Furchtbares ahnt. Ich spähe durch die Schaufensterscheibe und entdecke nichts weiter als Gerümpel, das andere Leute wahrscheinlich als Möbel und Dekostücke bezeichnet hätten. Direkt vor mir steht die Porzellanfigur einer Ballerina, die pastellfarben bemalt wurde.

„Holy moly!“, knurre ich unzufrieden. Und nun? Es beginnt erneut zu regnen, daher klappe ich hastig den Schirm auf. Das Wetter spiegelt meine Laune wider. Missmutig betrachte ich meine Schuhe, die in einer ständig größer werdenden Pfütze stehen. Das weiche italienische Leder hat in diesem Ort einen schweren Belastungstest zu überstehen.

 

Da der Regen zunehmend stärker wird, mache ich mich in Richtung Bahnhof zum Crown and Bells auf. Auf das Blechschild über der dunkelgrünen Eingangstür wurden eine pompöse Krone und mehrere Glöckchen gemalt. Blumenkästen mit reich blühenden Geranien befinden sich vor jedem Fenster. Im Pub selbst bilden zahlreiche Regale Sitznischen. Nippes und eine Unmenge von bunten Flaschen sind darin einsortiert. Dazwischen stehen Töpfe mit Zimmerefeu. Es ist recht dunkel, dafür brennen auf den Tischen Teelichter. Die schweren Holzmöbel sind wie die Theke in Schwarz gehalten. Indirektes Licht erhellt den Barbereich, den ich sofort ansteuere.

„Guten Tag. Ich bin DI Culpepper“, stelle ich mich vor. „Ich hätte gerne einen Pint der Hausmarke und mir wurde Ihr Shepherd’s Pie empfohlen.“

Über den Tresen hinweg wird mir von einem rundlichen, fast vollkommen glatzköpfigen Herrn eine Hand entgegengestreckt.

„Patrick Fitzgerald. Willkommen in Bloomwell, DI. Endlich lassen Sie sich mal im Pub blicken.“

„Ja, es war an der Zeit.“ Ich schüttle die Hand und bekomme danach ein Bier gezapft.

„Maggie, komm her“, ruft Fitzgerald. „Der DI ist hier und will dein Shepherd’s Pie probieren.“

Die Frau, die erscheint, ist wie ihr Mann recht mollig und wischt sich die Finger an einer Schürze ab, wobei sie mich gut gelaunt anstrahlt.

„Hi, Mr. Culpepper. Wir konnten es kaum erwarten, Sie kennenzulernen. Herzlich willkommen.“

„Vielen Dank, Mrs. Fitzgerald.“ Sie reicht mir ebenfalls die Hand, die noch ein bisschen feucht ist. Wahrscheinlich hat sie gerade etwas abgewaschen.

„Und? Haben Sie sich ein wenig eingelebt? Mögen Sie Bloomwell?“, erkundigt sie sich freundlich.

„Ich muss mich erst an den etwas anderen Trott gewöhnen“, antworte ich ausweichend. „Allerdings kann ich nicht abstreiten, dass es ein wirklich hübsches Dörfchen ist. Okay, der Bahnhof macht nicht viel her …“

„Vor allem, wenn man nachts und im Regen in Bloomwell eintrudelt, nicht wahr? Larry Coleman hat erzählt, dass Sie keinen besonders angenehmen Start hatten.“

„Es kann ja nicht ständig regnen. Wie hat sich denn mein Vorgänger mit Bloomwell arrangiert?“

Maggie schaut kurz ihren Mann an.

„Offenbar gar nicht. Ansonsten hätte er sich nicht umbringen müssen, oder?“, fragt sie unsicher.

„Mr. Coleman behauptete mir gegenüber, dass Charlie Welsham öfter einen über den Durst getrunken hat.“

„Nicht mehr als andere.“ Maggie winkt ab.

„Na ja, manchmal kam er bereits angesäuselt herein.“ Ihr Mann meldet sich damit erneut zu Wort und überrascht mit der Aussage seine Frau.

„Was redest du da?“, fragt sie verblüfft.

„Ich rede über Tatsachen. Du bist ja meistens hinten in der Küche und bekommst nichts mit“, sagt er wenig charmant. „Mr. Culpepper bestellte das Pie. Schon vergessen?“

Maggie wirkt, als wollte sie ihren Mann ordentlich anfahren. Stattdessen dreht sie ihm demonstrativ den Rücken zu.

„Ihr Pie braucht nicht lange“, verspricht sie mir, bevor sie in der Küche verschwindet.

„Sie hat Welsham kaum gekannt“, sagt Fitzgerald entschuldigend und stellt das gezapfte Bier vor mir ab, um danach gleich abzukassieren. Ich mustere sein pausbäckiges Gesicht mit der breiten roten Nase und erlaube mir im Stillen ein eigenes Urteil, da Maggie auf mich einen mütterlichen und kontaktfreudigen Eindruck macht. Eine warmherzige Person wie sie wird von traurigen, einsamen Würstchen, wie Welsham anscheinend eines gewesen war, unweigerlich angezogen.

„Welsham war also dauernd betrunken?“, frage ich gelassen nach.

„Nicht betrunken in dem Sinne, dass er hilflos durch die Gegend getorkelt ist und gelallt hat“, erklärt mir Fitzgerald. „Er schien eher einen gewissen Pegel zu benötigen. Warum wollen Sie das so genau wissen?“

Ich lächle schmal und fahre mit dem Finger den Rand des Bierglases nach. „Tja, Mr. Coleman deutete bereits etwas in der Art an. Ein alkoholisierter Detective Sergeant wirft schließlich ein hässliches Licht auf unsere Polizei.“

„Über Tote soll man nicht schlecht reden.“

„Das ist Ihre Meinung?“

„Er ist nie ausfallend geworden“, versichert mir der Wirt schnell. „Es würde aber seine melancholische Verfassung erklären. Oder?“

„Wie äußerte sich seine Melancholie?“

„Wie soll ich sagen ...?“ Fitzgerald wiegt ratlos den Kopf. „Er war traurig.“.

„Haben Sie ihn gefragt, warum?“, will ich wissen.

„Äh, nein, Sir.“

„Schade“, sage ich leise. „Dabei sind Bloomwells Einwohner doch so hilfsbereit.“

Maggie rettet ihren Mann aus der unangenehmen Situation, indem sie mir das dampfende Pie bringt. „Lassen Sie es sich schmecken, Mr. Culpepper.“

„Vielen Dank, das werde ich.“

Sie schenkt ihrem Ehemann ein Kopfschütteln, bevor sie in die Küche zurückkehrt. Ich schnappe mir den Teller mit dem Pie und mein Bier und sehe mich auf der Suche nach einem ansprechenden Tisch um. Da entdecke ich Nathan in einer Nische.

„Hi“, grüße ich. Er wirft mir lediglich einen abwesenden Blick zu und nickt kurz. Gleich darauf starrt er wieder in sein Bier. Das wirkt nicht unbedingt wie eine Einladung, mich zu ihm zu setzen. Deswegen gehe ich zwei Tische weiter und nehme dort Platz. Hungrig probiere ich die Mahlzeit. Sie ist köstlich. Das Hackfleisch ist nicht zu sehr mit Pfefferminze gewürzt, die Soße ist herrlich tomatig-fruchtig und der Deckel aus Kartoffelbrei genau richtig mit Muskat versetzt. Ich speise in aller Ruhe und mit außerordentlichem Genuss und trinke dazu das Bier. Plötzlich steht Maggie vor mir und tauscht das leere Glas gegen ein volles aus.

„Das Essen ist hervorragend“, lobe ich sie.

„Danke schön. Das höre ich gern.“ Maggie beugt sich zu mir und schielt dabei zur Bar, wo ihr Mann soeben Fairchild bedient. Der Antiquitätenhändler muss vor Kurzem hereingekommen sein.

„Hören Sie nicht auf Patrick“, sagt sie leise. „Er ist ein Dummschwätzer. Genau wie Coleman.“

Ich nicke langsam.

„Mr. Welsham war ein freundlicher Mann. Vielleicht war er ein bisschen einsam. Ein Trinker war er garantiert nicht. Er hat sich für Bienen interessiert und wollte sogar in seinem Garten Körbe aufstellen. Soweit ich weiß, benötigt man für Bienen eine ruhige Hand.“

„Sie haben sich über Bienen unterhalten?“, frage ich verblüfft.

Maggie schmunzelt. „Jeder Mensch hat ein Hobby. Warum nicht Bienen? Jedenfalls arbeite ich seit dreißig Jahren im Crown and Bells. Ich bin hinter dem Tresen aufgewachsen. Da erkenne ich einen Alkoholiker, wenn er vor mir steht.“

„Und Charlie Welsham war keiner.“

„So wenig wie Sie und ich.“

„Warum behauptet Ihr Mann etwas anderes?“, möchte ich gerne wissen.

Maggie zuckt mit den Schultern. „Er ist ein Wichtigtuer. Ein harmloser Mensch und trotzdem ein Wichtigtuer.“

„Habe ich das richtig verstanden, dass Ihnen der Pub gehört, wenn Sie hinter dem Tresen aufgewachsen sind?“

„Ja.“ Sie lächelt stolz. „Ich habe ihn von meinen Eltern geerbt. Mein ganzes Herzblut steckt in dem Lokal.“

„Das hört sich prima an. Man braucht eine Aufgabe, in der man aufgeht.“

Sie sieht mich wissend an. „Bei Ihnen ist es genau wie bei mir der Job.“

„Korrekt.“

„Die viele Fragerei über den armen Mr. Welsham hat einen Grund?“

„Stimmt.“ Ich lächle möglichst unverfänglich. „Meine furchtbare Neugier.“

Maggie schaut mich skeptisch an, setzt sich auf den Stuhl direkt neben mir und sagt leise: „Ich glaube nicht an einen Selbstmord, Mr. Culpepper. Meiner Meinung nach hat er zu viele Fragen gestellt. Genau wie Sie.“ Letzteres flüstert sie, schnappt sich danach den leeren Teller und rennt förmlich in die Küche. Ich sitze still da und versuche das Gehörte zu verdauen. Na, wenn Maggie mir da nicht einen wirklich dicken Brocken zum Knabbern hingeworfen hat. Ich linse verstohlen zu Nathan hinüber, der weiterhin in sein Bierglas starrt, als würde dort ein Kinofilm gezeigt werden. Dagegen wird an der Bar getuschelt. Fairchild und Fitzgerald haben die Köpfe zusammengesteckt. Mir ist durchaus klar, dass sie über mich reden. Es wird daher Zeit für deutliche Worte. Darum trinke ich das zweite Bier aus, das Maggie mir gebracht hat, und schlendere anschließend mit dem leeren Glas an die Theke.

„Hi, Mr. Fairchild. Wie ich höre, stört Sie meine Fragerei nach Charlie Welsham“, sage ich ihm direkt ins Gesicht. „Wollen Sie mir nicht mitteilen, warum?“

Verblüfft mustert mich der Antiquitätenhändler, bevor er den Wirt ansieht und sich räuspert. Das ist nichts weiter als verlegene Zeitschinderei.

„Mr. Fairchild, ich warte.“ Meine Stimme ist rasiermesserscharf geworden und ich behalte den Mann genau fixiert. In seinem Gesicht beginnt unterhalb des linken Auges ein Muskel zu zucken und die Finger spielen nervös an einem Pappuntersetzer.

„Hmm ... Sie stellen schrecklich viele Fragen über einen Selbstmörder.“ Fairchilds Mundwinkel hebt sich für eine Sekunde zu einem halbherzigen Lächeln, bis sein Verstand ihm meldet, dass das bei mir nicht zieht.

„Wenn Welsham sich selbst umgebracht hat, ist es doch egal, ob ich Erkundigungen einhole“, sage ich.

„Sie vermitteln das Gefühl, dass unsereiner ein schlechtes Gewissen haben muss“, erklärt Fitzgerald und Fairchild nickt dazu.

„Und?“, frage ich provozierend. „Hat jemand von Ihnen Gewissensbisse?“

Maggie erscheint in der Küchentür und hört aufmerksam zu.

„Mr. Fairchild, Sie etwa?“

Das Muskelzucken wird stärker.

„Nein! Weshalb wollen Sie das wissen? Mr. Welsham war ein Einzelgänger. Niemand wusste, was in seinem Oberstübchen vor sich ging. Und nun kommen Sie daher und stellen seltsame Fragen. Ich dachte, die Untersuchung seines Todes wäre abgeschlossen.“

„Das ist richtig. Dessen ungeachtet habe ich nichts anderes zu tun und Sie wollen hoffentlich nicht, dass ich mich ebenfalls aus lauter Langeweile umbringe.“

„Natürlich nicht, Sir“, murmelt Fairchild.

„Das trifft sich gut. Ich trage mich nämlich nicht mit Suizidgedanken. Und ich habe genauso wenig die Absicht, mir vorschreiben zu lassen, wem ich welche Fragen stelle. Ich möchte Sie bitten, das zu verinnerlichen, meine Herren. Schönen Abend noch.“ Mit einem hoheitsvollen Nicken verlasse ich den Pub.

###

Es ist dunkel, als ich den Feierabend einläute. Leise schiebe ich Welshams Tür hinter mir ins Schloss. Stunden habe ich in dem Zimmer verbracht, in dem er sich angeblich erhängt hat. Zum einen habe ich unter den Blumentöpfen vor seiner Haustür nachgeforscht und tatsächlich einen Ersatzschlüssel gefunden. Das Aufbrechen der Haustür wäre daher nicht notwendig gewesen, sofern Welsham den Hauptschlüssel wirklich verloren hat. Zum anderen wollte ich meinen Gedanken am Tatort freien Lauf lassen, in der Hoffnung, dass mich der Ort des Verbrechens inspiriert. Leider hat mich das nicht weitergebracht. Mir fehlen einfach zu viele Anhaltspunkte. Dass Charlie die Brille zum Zeitpunkt seines Ablebens nicht getragen hat, reicht nicht aus, um den Fall neu aufzurollen.

Halt! Nein!

Um überhaupt einen Fall daraus zu machen!

Langsam gehe ich durchs Dunkel. Wie in der Nacht meiner Ankunft sitzt eine Gestalt auf dem Brunnenrand und raucht.

„Schönen Feierabend, Sir.“

Es ist Larry Colemans Stimme. Hält der hier ständig Wache?

„Dito, Mr. Coleman.“

Ohne anzuhalten gehe ich weiter, verlasse das Dorfzentrum und tauche in die schwarze Finsternis der kleineren Straßen ein.

„Deine Aktion im Pub war nicht besonders schlau.“

Auf einmal tritt Nathan aus den Schatten und gesellt sich an meine Seite. Ich ignoriere ihn, wie er mich im Crown and Bells.

„SIE sind jetzt gewarnt.“ Seine raue Stimme ist so düster wie die Nacht. Genervt halte ich an.

„Versuchst du mir Angst zu machen?“

Allmählich gerate ich in Rage. Nathan steht direkt vor mir. Er ist einen halben Kopf größer, stelle ich fest. Genau die richtige Größe, um sich an eine starke Männerbrust zu schmiegen.

„Nein“, sagt Nathan leise. „Das liegt mir wirklich fern. Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist.“

„Warum, zum Teufel?“, rufe ich frustriert.

 

„Pssst!“ Nathan legt mir einen Finger auf die Lippen und ich kann nicht widerstehen. Ich stupse den Finger mit der Zunge an, kitzle ihn. Nathan stöhnt kaum hörbar und zieht sich beinahe fluchtartig zwei Schritte zurück.

„Nathan“, wispere ich lockend.

„Nicht!“ Es klingt verzweifelt.

„Du machst mich irre“, zische ich verärgert. „Dein widersprüchliches Verhalten und ständig diese Andeutungen.“

„Welches widersprüchliche Verhalten?“ Er blickt sich schnell um und versucht, in der Dunkelheit etwaige Lauscher auszumachen, bevor er weiterspricht. „Du baggerst doch mich an. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir Avancen gemacht habe.“

Damit hat er leider recht.

„Du findest mich nicht attraktiv?“, frage ich verdattert. Nathan lacht, dreht sich um und geht. Ich hätte ihm ein herzhaftes Arschloch hinterhergebrüllt, wenn es nicht ein dermaßen zärtliches Lachen gewesen wäre. Ich seufze. Auch Einbildung ist eine Bildung. Knurrig setze ich den Weg fort. Ich soll vorsichtig sein ... Bin ich etwa in Gefahr, weil ich mit der Fragerei Welshams Mörder näherkomme? Prompt hebt sich meine Laune.

Gut so!

Leute, die unter Stress stehen, begehen Fehler. Und dann schlage ich zu.

###

Kaum habe ich mein Haus betreten, stutze ich. Es riecht merkwürdig. Nicht nach vergammeltem Kühlschrank, wie in Welshams vier Wänden, sondern nach einem Aftershave, das definitiv nicht meines ist. Der Geruch ist kaum wahrnehmbar, dennoch er ist da. Ich lausche, aber es ist nichts zu hören. Angespannt und alle Sinne auf Hochtouren geschaltet, schleiche ich von Raum zu Raum. Nichts ist gestohlen und nichts wurde beschädigt. Ich öffne Schranktüren und spähe in den Harry-Potter-Abstellraum unter der Treppe. Niemand springt mir entgegen. Im oberen Bad sitzt die Winkelspinne neben dem Spiegelschrank an der Wand. Ich bezweifle, dass es ihr Aftershave ist, das ich wahrnehme. Trotzdem bin ich mir sicher, dass jemand in meinem Haus war, obwohl ich keinen weiteren Anhaltspunkt dafür finde. Eventuell ist die Häkeldecke auf der Sofalehne etwas verrutscht oder in der Küche steht ein Stuhl näher am Tisch als zuvor. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass ich paranoid werde, weil ich heute von Maggie und Nathan deutliche Warnungen erhalten habe.

Kurz entschlossen trete ich wieder in den Regen hinaus, ignoriere den Sturzbach, der auf mich niedergeht, und eile quer durchs Dorf. Endlich stehe ich vor einem Gartentor, das vorschriftsmäßig in den Angeln hängt. Es lässt sich ganz leicht öffnen und quietscht nicht einmal. An der gelb gestrichenen Haustür betätige ich den Türklopfer und warte. Es dauert nicht lange, bis mir Nathan öffnet.

„Warst du heute Morgen in meinem Garten?“, frage ich ihn, während mir das Wasser aus den Haaren und in den Mantelkragen läuft.

„Wo ist dein Schirm?“

„Habe ich zu Hause vergessen. Und? Warst du das heute Morgen?“

Nathan lehnt sich mit der Schulter gegen die Türzarge und verschränkt die Arme vor der Brust. „Nein.“

„Es war eine Person da. Im Garten. Er … oder sie … ist weggelaufen, als ich aus dem Fenster schaute. Und vorhin war jemand in meinem Haus.“

Nathans Augen werden schmal. „Wurde etwas entwendet?“

Ich schüttle den Kopf, woraufhin Regentropfen in sämtliche Richtungen fliegen. „Ich denke, in Bloomwell wird nicht gestohlen?“

„Hast du keine Gummistiefel?“, will Nathan wissen.

Ich starre auf meine teuren Lederschuhe hinab. Sie sind vollständig durchnässt – genau wie der Rest von mir.

„Gummistiefel passen nicht zum Anzug.“

Nathan seufzt und gibt die Tür frei. „Komm rein.“

###

Eine halbe Stunde später sitze ich in eine Decke gehüllt auf einem grauen Sofa und trinke eine Tasse English Caramel. Dazu gibt es Cheesecake-Cookies mit weißen Schokoladensplittern. Ich könnte süchtig nach den Dingern werden. Meine Haare müssen wie ein Vogelnest aussehen, da ich sie nur mit einem Handtuch frottieren konnte. Der Anzug, das Hemd und die Krawatte hängen auf Kleiderbügeln über Nathans Badewanne und tropfen vor sich hin. Die Schuhe sind mit Zeitungspapier ausgestopft. An den Füßen trage ich inzwischen geliehene dicke Stricksocken, da meine eigenen über dem Wannenrand liegen.

Nathans Zuhause ist gemütlich. Kein Möbelstück passt zum anderen und gerade deshalb harmoniert alles miteinander. Er hat die einzelnen Teile vom Sperrmüll geholt oder auf Trödelmärkten erworben und aufgearbeitet. Bunte Kissen und in knalligen Farben gestrichene Wände vermitteln die behagliche Fröhlichkeit aus der Hippiezeit. Das habe ich ihm nicht zugetraut. Bislang hat er sich ja dauernd grummelig-mysteriös gegeben. Er sitzt mir gegenüber, anstatt sich an mich zu kuscheln.

Hey!

Es stört mich ungemein, dass er Abstand hält, da sein Verhalten an meinem Ego kratzt. Schließlich bin ich bis auf die Boxer unter der Decke nackt, bin gepflegt, müffele nicht und befinde mich optisch betrachtet im oberen Ranking der Sexiest-Man-Alive. Wieso liegen wir uns nicht längst in den Armen und haben schmutzigen Sex? Weil SIE es ihm verbieten?

Nathan schweigt schon seit geraumer Zeit. Bestimmt hängt er eigenen Gedanken nach. Es wäre nett, wenn er sie mit mir teilen würde, immerhin hat sich jemand in meinem Haus herumgetrieben. Oder überlegt er sich insgeheim, wie er mich am geschicktesten wieder loswird? Nein! Nie und nimmer. Dennoch fühle ich mich trotz der Decke, den Keksen und dem Tee allmählich wie ein Störenfried.

„Es tut mir leid, wenn ich dir Umstände bereite.“

Nathan hebt den Kopf, als würde er aus einer Trance erwachen.

„In Bloomwell helfen wir einander“, rattert er den häufig verkündeten Spruch herunter, als wäre der den Einwohnern per Gehirnwäsche eingetrichtert worden. Unwillkürlich schneide ich eine Grimasse.

„Wenn du heute nicht nach Hause möchtest, kann ich das verstehen. Du darfst gerne bei mir bleiben.“

Sofort habe ich unsere ineinander verschlungenen Körper vor Augen.

„Ich könnte dir das Gästezimmer herrichten.“

Bye, bye, du schöner Traum!

Soll ich etwa die ganze Nacht wach liegen und an den knusprigen Kerl denken, der sich mit mir unter einem Dach befindet?

„Nein, danke. Ich werde zu Hause schlafen.“

„Wie du willst.“ Nathan erhebt sich, als hätte ich ihm mit meiner Entscheidung das Startzeichen gegeben. „Ich bringe dir etwas zum Anziehen.“

Offenbar hat er es doch eilig, mich loszuwerden.

„Wir könnten uns vorher einen Film reinziehen“, schlage ich vor. „Bei mir gibt es bloß zwei Sender.“

Nathan schüttelt den Kopf. „Ich habe überhaupt keinen Fernseher.“

„Oder wir spielen Karten? Scrabble? Kniffel? Beschäftigen uns mit Huckekästchen?“

„Ich bringe dich jetzt nach Hause“, sagt Nathan sanft. An der Tür stockt er. „Besitzt du eigentlich eine Waffe?“

„Nein. Ich habe Pfefferspray für den Notfall.“ Lediglich 4,9 Prozent der britischen Polizei trägt eine Schusswaffe. Nach den Terroranschlägen haben die Bobbies ein wenig aufgerüstet, trotzdem sind die meisten einzig und allein mit ihren Schlagstöcken auf Streife.

„Warum willst du das wissen?“, erkundige ich mich.

„Wo ist es?“

„Im Büro in einer Schreibtischschublade.“

„Trag es lieber bei dir.“

Ich lache. „In Bloomwell? Wo sich alle so ungemein liebhaben?“

Nathan seufzt. „Bist du absichtlich beratungsresistent?“

„Und du? Bist du Schreiner oder Lebensberater?“, erkundige ich mich böse.

Auch Nathan scheint die Geduld zu verlieren. „Du benimmst dich wie eine Diva, die Entzugserscheinungen hat, weil sie nicht genug hofiert wird.“

Autsch!

Das hat er nicht wirklich gesagt! Empört schnappe ich nach Luft. Bevor ich zu einer Retourkutsche ansetzen kann, ist Nathan aus dem Wohnzimmer verschwunden.

Arsch!

Riesenarsch!

Entzückender Arsch ...

Wütend auf ihn, auf mich, auf Bloomwell und die ganze Welt schlinge ich die Decke fester um meinen Leib und stapfe ins Bad. Grollend zupfe ich den Anzug vom Bügel, lege ihn, das Hemd und die Krawatte einigermaßen ordentlich zusammen und packe die Socken obendrauf.

„Hier.“ Nathan taucht hinter mir auf und reicht mir eine Jogginghose und ein T-Shirt.