Engelslügen

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4

Manakel

Wasser das auf ihre Stirn tropfte, weckte sie. Sie brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass sie nicht zu Hause in ihrem kuschelig warmen Bett aufgewacht war. Nur wo war sie und was war geschehen? Schleichend kamen die Erinnerungen zurück, als sie den Raum näher untersuchte. Von der Decke tropfte Wasser an mehreren Stellen herunter. Die Wände sahen wie blanker dunkler Fels aus und auch der Boden war sandig wie in einer Höhle. Das Bett war eher ein Strohballen, der lieblos auf dem Boden verteilt und mit einer Decke verhüllt wurde. Kleine diamantglänzende Steine an der Decke und in den Wänden sorgten für ein diffuses schwaches Licht. Wovon sie angestrahlt wurden, oder ob sie von selbst leuchteten, konnte sie nicht erkennen.

Olivia geriet in Panik, da sie keinen Ausgang sehen konnte. Hoffnungsvoll räumte sie die dürftige Schlafstelle beiseite, in dem Glauben, darunter könnte sich eine Falltür befinden. Doch auch unter dem Stroh war nichts außer Sand und Stein.

An einer Wand konnte sie verschiedene Zeichen und Formen erkennen. Instinktiv fuhr sie mit ihrem Zeigefinger die ägyptische Hieroglyphe für Wasser nach. Als sie die letzte Welle des Zeichens nachgefahren hatte, zischte die Wand und aus dem rohen Fels, wurde eine Mauer aus Wasser. Vorsichtig streckte sie ihre Hand hindurch. Sie bemerkte, dass der wässrige Vorhang nicht sehr dick war. Dahinter ging es offenbar weiter, denn sie konnte kein Hindernis ertasten. Unsicher überlegte sie, warum sie die Hieroglyphe als die Bedeutung für Wasser erkannte, das letztlich auch die Tür darstellte. Vorsichtig schlüpfte sie hindurch.

Von ihrer kleinen Zelle aus gelangte sie in einen schmalen Gang, der an einen größeren Raum grenzte. Leise und behutsam schlich sie ihn entlang. Die Höhle war riesig und in deren Mitte, kniete der Engel mit angezogenen Flügeln vor einem runden Stein. Neben ihm lagen ein paar Decken und Tüten mit Chips und Knabbereien.

»Guten morgen Olivia«, bemerkte der Engel ihre Anwesenheit.

»Was …«, weiter kam sie nicht, da der Engel wieder zu sprechen begann.

»Mein Name ist Manakel, ich bin, wie ich bereits sagte, ein Freund deines Vaters. Die Kraft in dir ist stark, wie ich sehe!«, sprach er ruhig, fast wie ein Vater.

»Sie kannten meinen Vater«, forschte sie nach.

»Dazu kommen wir später. Wie hast du aus dem Raum gefunden?«, fragte er und sie konnte ehrliches Interesse in seiner Frage hören.

»Warum sollte ich ihnen das sagen? Ich vertraue ihnen nicht!«, gab sie entschieden zurück.

»So aber deinem Freund dem Taugenichts vertraust du so blind? Er wollte dich ausliefern, wusstest du das?«

Kurz überlegte sie. Schließlich hatte er sie nicht umgebracht. Gabriel sagte, dass Engel nach ihrem Leben trachten würden. Da sie nicht tot war, und er außerdem vorgab, ihren Vater zu kennen, entschied sie sich, ihm zumindest ein wenig Vertrauen vorzuspielen.

»Er ist nicht mein Freund, ich habe ihn wie dich erst gestern kennengelernt. Oder heute? Welchen Tag haben wir denn?«, fragte sie verwirrt.

»Dann mein Kind hast du einen schlechten Umgang. Heute ist dein Geburtstag. Alles Gute zu deinem zwanzigsten Jahrestag. So sagt man es bei den Menschen doch oder?«, grinste er.

»Oh dann hast du definitiv die Falsche erwischt, denn ich werde heute 18 nicht 20!«, konterte sie selbstzufrieden.

Tief blickte er ihr in die Augen. Durch das dunkle Ambiente, dass nur durch die glimmenden Steine aufgehellt wurde, meinte sie eine leichte Regung in der sonst eisernen Maske seines Gesichtes zu sehen. Doch ehe sie sich versah, verschwand sie wieder und er schaute sie ausdruckslos an. Durch das diffuse Licht schien es so, als würden seine lockigen Haare von selbst leuchten und die Schatten ließen die Konturen seines Brustpanzers markanter erscheinen.

»Tochter Jabamiahs, leibliches Kind von Christine Jacob und aufgewachsen bei Heather Jacob. Glaube mir, ich weiß wen ich vor mir habe!«, raunte er. Sein Mund bewegte sich dabei kaum, nur seine Augen begannen zu glühen.

Unheimlich kam ihr das vor und sie sehnte sich zurück in ihr trautes Heim bei ihrer Tante, die immer so offen und herzlich war. »Ich muss nach Hause! Meine Tante sorgt sich sicher schon«, formulierte sie ihren Gedanken aus.

»Nach Hause?«, er lachte. »Da wirst du jetzt eine ganze Weile nicht mehr hin können. Dafür kannst du deinem Freund danken! Seinetwegen weiß jetzt die halbe Unterwelt und wenigstens genauso viele Engel, wo das genau ist!«, spottete er.

»Aber was ist mit meiner Tante? Und mit Gino?«, seufzte sie. »Und was hast du mit Gabriel getan? Warum glaubst du, dass er mir etwas antun wollte?«, verwirrt und immer noch misstrauisch schaute sie ihn direkt an.

Wieder fing er an zu lachen, es war ein kaltes herablassendes Lachen, so als würde ein kleines Kind eine furchtbar blöde Frage stellen. Sie spürte wie der Zorn und die Wut in ihr hochkochte, am liebsten würde sie diesem Engel eine mit ihrem blauen Blitz verpassen. Ironischerweise begann ihre Hand zu funkeln und sie begriff, dass Wut und Anspannung der Auslöser dafür waren.

Wie komme ich hier raus?, überlegte sie.

Ohne mich gar nicht!, hallte die Stimme des Engels in ihrem Kopf. Und wenn du jetzt gehst, wirst du sterben mein Kind! Du bist dir noch immer nicht im Klaren, dass dein altes Leben aufgehört hat zu existieren. Du solltest schnell lernen, wenn dir etwas an ihm liegt!, hörte sie ihn ohne das er laut etwas zu ihr gesagt hätte.

»Ok ich verliere den Verstand, ganz eindeutig«, hörte sie sich selbst laut murmeln.

Manakel sah sie erneut finster an und hob seinen Kopf. »Benimm dich nicht wie ein Balg! Ich gab deinem Vater ein Versprechen und daran werde ich mich halten! Mein Name bedeutet: Der alle Dinge bewahrt und erhält. Ich werde mich um deine Tante und deinen Menschenfreund kümmern und nun geh dich ausruhen! Du hast morgen einiges vor dir!«, befahl er.

Ohne ein weiteres Wort der Erklärung, wie er ihrer Tante und Gino helfen wollte oder was sie denn am nächsten Tag zu erwarten hätte, drehte er sich um und starrte auf seinen Stein. Er hob lediglich seine Hand und winkte ihr als Zeichen, dass sie sich entfernen dürfe.

Trotzig hob sie ihren Arm und entließ den Blitz, der sich in ihrer Hand formte auf ihn. Zischend sprang er von ihrem Finger direkt auf Manakel zu. Sie konnte das Knistern, das er auf seinem Weg durch den Raum verursachte, wie in Zeitlupe hören. Der Blitz wurde kurz vor dem Engel von einer unsichtbaren Barriere adsorbiert und sein Schutzschild flackerte kurz auf. Manakel tat so, als hätte er von ihrem törichten Versuch, ihm zu schaden nichts mitbekommen.

Zurück in dem Raum, aus dem sie gekommen war, setzte sie sich auf den kargen Boden und rekapitulierte die Fakten. Er kennt meinen Vater, er weiß, wer ich bin, ich kann Blitze schleudern und er kann in Gedanken mit mir sprechen. Was kann ich noch? Ich sollte mal probieren, ob ich einen Laserblick habe. Sie musste lachen, obwohl ihr die Tränen in den Augen standen. Mit einem hatte er aber vollkommen recht, ihr Leben, wie sie es kannte, war ganz offensichtlich vorbei.

Das Stroh pikste sie in den Po und Rücken, fluchend stand sie auf und sah sich die verschiedensten Symbole an der Wand an. Wie bei dem Symbol für Wasser erkannte sie instinktiv ein weiteres Zeichen, eine Rune, die ihr das Wort Portal vor ihr inneres Auge brannte.

Wieder fuhr sie es mit ihrem Finger nach, und als sie die letzte Linie zog, begann die Rune zu glühen. Klackend löste sich eine Verriegelung an der gegenüberliegenden Wand. Ein Oval hob sich langsam vom Fels ab und bildete in seinem inneren einen Spiegel. Vorsichtig trat sie darauf zu.

»Bleib!«, knurrte Manakel.

Erschrocken fuhr sie zusammen und drehte sich zu ihm um. Er wirkte müde und verbraucht, die Jahrhunderte mussten ihm übel mitgespielt haben.

»Komm, lass uns reden«, bat er sie mit sanfter Stimme und führte sie zu dem großen Raum mit dem Stein in der Mitte zurück.

Der Stein glühte nun golden, als sie sich davor gegenüber voneinander hinsetzten.

»Hier iss, so etwas esst ihr Menschen doch oder?«, vermutete Manakel, als er ihr eine Tüte Chips reichte. »Nimm dir auch eine Decke, falls dir kalt ist. Ich habe das Essen und die Decken für dich hierher gebracht«, erklärte er. Dankend nahm Olivia die Kartoffelchips und mampfte sie genüsslich.

»Ist zwar nicht sonderlich gesund und nahrhaft, aber ich danke dir!«, nuschelte sie mit vollem Mund.

Sie sprachen eine ganze Zeit lang und immer wieder sah sie Bilder seiner Erzählungen auf dem golden leuchtenden Stein schweben. Sie waren so detailreich und plastisch, dass sie immer wieder den Drang unterdrücken musste hineinzugreifen. Abbildungen von Engeln und Menschen waren zu sehen und wie aus ihren Kindern Halbwesen wurden. Immer wenn eine Frau das Kind eines Engels austrug, wurde aus dem Kind ein Nephilim. Halb Mensch und halb Engel.

»Warum werden die Nephilim von allen gejagt?«, brannte sie darauf zu erfahren.

»Du bist auch eine vergiss das nicht! Die Nephilim sind zu einem Teil menschlich und zu einem anderen Teil Engel oder Dämon. Obwohl die Dämonen auch gefallene Engel sind. Nun, uns ist es verboten mit Menschen Kinder zu zeugen und zur Strafe werden die Kinder getötet. Trotzdem schaffen es immer wieder welche, zu entkommen. Wie du, wenn du auf mich hörst! Deine Flügel müssen sich noch ausbilden, sie wurden mit einem Bannzauber verborgen. Ein mächtiger Zauber, aber du hast sie vielleicht sogar schon gespürt. Ein kribbeln oder jucken im Rücken, dürften die ersten Anzeichen dafür sein«, erzählte er. Nickend bestätigte sie, da sie schon öfter diesen Juckreiz auf ihrem Rücken verspürte.

 

Flügel, na klar. Ich mit meiner Höhenangst werde mich in die Lüfte erheben, kicherte sie in Gedanken. Das ihr tatsächlich Flügel wachsen sollten, glaubte sie nicht.

»Dein Vater wollte dem Himmel abschwören und sterblich sein. Einen Bannzauber, der deine Nephilim Kräfte unterdrücken sollte, hatte er schon sprechen lassen. Zu seinem letzten Schritt kam er nicht mehr. Er wollte das Blutritual durchführen, dass ihn von seinen Flügeln befreien und ihm Sterblichkeit schenken sollte«, fuhr er fort.

»Woher kanntet ihr euch? Und warum hilfst du mir?«, wollte sie wissen.

Der Engel seufzte und starrte zum sandigen Boden. Sie konnte spüren, dass ihm die Geschichte nahe ging. Obwohl er ihr anfangs berichtet hatte, wie gefühlskalt die Heerscharen des Himmels sein konnten. Sie entschied sich, ihm die Frage später erneut zu stellen, und es für den Moment dabei bewenden zu lassen. Vergessen wollte sie ihre Frage auf keinen Fall. Ihr anfangs vorgespieltes Vertrauen baute sich zu echtem aus. Die Dinge die er erzählte, schienen wahr zu sein. Für eine simple Lüge, war sein Wissen um sie und die Geschichten um ihre Eltern zu detailreich.

Ihr Blick glitt von den Tüten Chips, zum goldig glimmenden Stein und auf einem der real wirkenden Bilder sah sie ihre Tante Heather. »Ist das so was wie ein Videotelefon?«

Manakel besann sich wieder und sagte: »Man kann mit seiner Hilfe die Vergangenheit eines jeden Wesens sehen, das sich ihm öffnet. Und mit einem zusätzlichen Stein könnte man auch einen Ort überwachen.«

Freudestrahlend starrte sie ihn mit offenem Mund an. Kapiert er denn nicht?, überlegte sie und verdrehte die Augen.

»Ja ich werde einen dort hinterlegen, aber sie sind selten, deshalb kann ich nicht jeden deiner Freunde überwachen!«, stellte er klar.

Zufrieden führte sie das Gespräch mit ihm fort, bis sie müde wurde und auf eine der Decken fiel, die neben den Knabbersachen lagen. Ihre Träume waren endlich wieder keine schlimmen. Nichts deutete auf einen brennenden Baum oder menschliche Schädel hin, stattdessen träumte sie von ihrer Mutter.

Durch ein scharrendes Geräusch wachte sie auf. Sie sah sich nach dem Engel um und fand ihn ein paar Meter weiter neben sich. Mit seinem Fuß scharrte er auf dem felsigen Boden. Erst als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass es kein normaler Fuß war, den er hatte, es waren statt Zehen Krallen. Hatte er die vorher schon? Räuspernd machte sie auf sich aufmerksam. Manakel drehte sich um, ließ seine Hose über sein Bein gleiten und entschuldigte sich bei ihr, dass er sie geweckt hatte. Er kam zu ihr und sie bemerkte zu spät, dass sie noch immer auf seine nun in Stoff verhüllten Beine starrte.

»Entschuldige bitte, es muss dich irritieren. Das ist eine Nebenwirkung, wenn man aus dem Kreis der Erlauchten ausscheidet.« Kurz hob er ein Hosenbein an, dass sein behaartes Bein und die klingenartigen Krallen zeigte. »Wenn wir verbannt werden, entstellt man uns, damit die Menschen sich vor uns fürchten. Zu meinem Glück, traf es mich nur an den Beinen, anderen wachsen Hörner«, offenbarte er lächelnd. »Jetzt solltest du wieder schlafen, morgen werden wir zu einem Schamanen gehen, der dir bei deinen Flügeln helfen wird!«, fügte er an.

Sie schüttelte unmerklich den Kopf, an die Geschichte mit den Flügeln glaubte sie nach wie vor nicht. Das ihr Vater ein Engel war, dagegen schon, schließlich sprach sie soeben mit einem.

5

Verbunden

Kühl fühlte sich die Salbe an, die ein Medizinmann Olivia auf den Rücken rieb. Wie man sich einen Indianerhäuptling vorstellte, führte der Schamane ein Ritual auf. Dabei trug er einen wahnsinnig ausladenden Federschmuck. Mit einem rasselnden Stab, tanzte er um sie herum und murmelte Beschwörungsformeln. Die Creme auf ihrem Rücken zog schnell und deutlich spürbar in ihr Fleisch ein und entließ eine Hitzewelle, die sie bis in die Füße spüren konnte. Schmerz durchzuckte sie, und zwang sie kurz in die Knie, als der Bann von ihrem Körper glitt. Pochend reckten sich zwei Flügel von ihrem Rücken.

Ach du Scheiße. Ist das wahr? Ich glaube es ja nicht!

»Wie Prachtvoll!« Manakel stellte fest, dass ihre besonders waren, da sie nicht nur silbrig wie bei allen Nephilim, oder pechschwarz wie bei den zu Dämonen degradierten gefallenen Engeln waren. Sondern ihre waren silbern leuchtend mit einer feinen Verästelung von goldenen Schlieren, als hätte jemand feinste Goldfäden über ihr ausgekippt. Manakel wusste um das Abblassen der Helligkeit seiner Schwingen. Je länger ein Engel vom Himmel verbannt war, um so dunkler wurden dessen Flügel.

Olivia konnte sie spüren wie einen Fremdkörper auf der Haut. Sie bat um einen Spiegel, doch darin konnte sie sie nicht erkennen. Nur wenn sie ihren Kopf nach hinten hielt, erspähte sie einen Teil der Schwingen erkennen. Fragend schaute sie zu Manakel.

»Menschen können nicht sehen, was wir sind! Und ein gewöhnlicher Spiegel zeigt nur das, was Menschen sehen. Einige besitzen die Gabe, uns als das zu sehen, was wir wirklich sind«, erklärte er ihr sanft und liebevoll.

Enttäuscht breitete sie die Schwingen aus und versuchte sich in die Luft zu erheben.

»Warte nicht so schnell, du musst dich erst an sie gewöhnen und mit ihnen üben! Andere Nephilim haben den Vorteil, dass sie sie schon früher ausprobieren können, du musst das erst nachholen«, unterband er ihren ersten Flugversuch.

»Flugschule! Verstehe«, zwinkerte sie. »Aber das heißt auch das mich Gino nur fliegen aber nicht meine Flügel sehen kann oder?«, fragte sie.

»Ich sage es nicht gern, aber wenn man es will, kann man seine wahre Gestalt jedem zeigen, aber immer nur für einen Moment«, gab er ihr Hoffnung. Manakel reichte ihr einen langen schwarzen Mantel aus Fischleder. »Pass mit Nylon auf, da kommen deine Flügel nicht so leicht durch wie bei allen anderen Materialien.«

Tatsächlich bemerkte sie, wie ihre Flügel durch das Leder glitten, so als wäre er gar nicht da. Eingehüllt in ihr neues Outfit, bestehend aus einem schwarzen Tanktop, schwarzer Hot-Pan, Kniehohen schwarzen Lederstiefeln mit Messerfach und dem Mantel, der sich perfekt um ihre Taille legte. Wirkte sie plötzlich nicht mehr wie ein Mauerblümchen, sondern wie eine rothaarige Amazone.

Sorgenvoll erblickte Olivia um das Zelt des Schamanen verteilt andere Nephilim. Obwohl Manakel sagte, dass Engel die Nephilim töten wollten, schien sie seine Präsenz nicht zu stören. Der Engel bemerkte ihre Unsicherheit und klopfte ihr freundlich auf die Schulter.

»Sie sind im Kreis. Der Kreis ist eine Verbindung von Nephilim, Engeln und Dämonen, die sich dem Frieden verschrieben haben. Sie werden dir nichts tun. Dieser Ort hier …« Er hob den Arm und machte eine ausladende Geste. »… ist vom Himmel nicht zu sehen. Unser trautes Heim. In der Menschenwelt nennt man es auch den Limbus!«, beruhigte er sie und ging wieder zum Schamanen.

Limbus?, hallte es durch ihre Gedanken. Verdammt das heißt doch Vorhölle!, fiel es ihr ein. Und das nennt er trautes Heim? Ganz toll, ganz toll!

Vom Engel noch unbemerkt, schlich sich Gabriel an sie heran. Vorsichtig streifte er sie an der Schulter. Alarmiert drehte Olivia sich um und sah ihm direkt in seine grünen Augen.

»Du? Was willst du?«, giftete sie ihn an.

»Mich entschuldigen. Es tut mir leid, ich hätte das nicht tun dürfen!«

Manakel bemerkte ihn und lud einen bläulich funkelnden Blitz in seine Hand und streckte sie ihm entgegen. Noch bevor er ihn aus seiner Hand entlassen konnte, drückte der Schamane sie hinunter und die Entladung versank knistend im Boden. Wutschnaubend blickte Manakel den Schamanen an. Er ballte seine Fäuste und packte den Indianer an der Kehle. Der Schamane hingegen lächelte. Es war kein spöttisches oder herablassendes Lächeln. Es schien ein Lächeln für die Erfüllung einer Erwartung zu sein. Der Medizinmann reckte seinen Hals und flüsterte dem zornigen Manakel etwas ins Ohr. Manakel nickte, ließ von ihm ab und schaute finster zu dem jungen Nephilim, der mit stolz aufgeblasener Brust neben Olivia stand. Wieder flüsterte der Schamane etwas in sein Ohr, und diesmal schien die Miene des Engels noch finsterer zu werden, als sie schon war.

Unbehagen machte sich in Olivia breit und sie spürte wie die Selbstsicherheit, die sie gerade erst mit ihren neuen Kleidern gewonnen hatte, schwand.

»Du hast eine Schuld zu begleichen!«, raunte Manakel.

Erst war sie sich nicht sicher, wen er meinte, doch dann bemerkte sie, dass er noch immer auf Gabriel starrte und ihn mit seinem Blick fixierte. Erstaunt schaute nun Gabriel den Medizinmann an, der noch immer ein Lächeln im Gesicht trug.

»Dein Onkel hat es mir eben erzählt. Die Strafe für Verrat ist Dienerschaft oder Tod!«, klärte Manakel ihn auf.

»Onkel …«, rief er. »Ich habe mich schon bei ihr entschuldigt!«, verteidigte er sich.

»Begleiche deine Schuld und du hast eine reine Seele«, kommentierte sein Onkel.

»Was verlangt ihr von mir?«, wandte sich Gabriel an den Engel.

»Nun …« Manakels Mund, den er gerade noch vor Zorn zusammengepresst hatte, verwandelte sich nun zu einem vergnügten Grinsen. »… du wirst sie ausbilden und trainieren! Und du solltest dir Mühe geben, denn fortan, ist dein Leben mit ihrem verknüpft! Stößt ihr etwas zu, so wird dich dasselbe Schicksal ereilen!« Verdutzt schaute Olivia ihren Beschützer an.

»Was er? Er wollte mich ausliefern. Von diesem Lügenbold lasse ich mir nichts beibringen!«, protestierte sie.

»Doch das wirst du, wenn du am Leben bleiben möchtest und deine Familie beschützen willst! Dein eigentlicher Ausbilder ist nicht verfügbar! Also wird er es übernehmen müssen! Gabriel kann dich lehren zu überleben. Keine Sorge, seine Kräfte sind stark, wenn er sie für die richtigen Dinge einsetzt!«

Feixend wandte er sich Gabriels Onkel zu und drehte sich mit einem roten Schal wieder um. »Nehmt euch bei der Hand!«, forderte er die beiden auf.

Olivia dachte nicht daran ihm die Hand zu reichen. Bis der Engel sie eindringlich, aber höflich, erneut dazu aufforderte. »Bitte Olivia reiche ihm die Hand, damit das Ritual durchgeführt werden kann! Er wird dir nichts mehr tun. Er war dumm! Er glaubte, mit der Auslieferung eines anderen Nephilim, könnte er sich Freiheit in der Menschenwelt erkaufen. Sie hätten ihn auf der Stelle getötet, wäre er zu ihnen gegangen. Hier im Kreis, ist die Strafe für Verrat, die Dienerschaft!«

Manakel band den Schal um die Hände und der Schamane führte einen Tanz mit unverständlichen Rufen auf. Gabriel wirkte überaus angespannt, da er im Gegensatz zu Olivia, die Beschwörungsformeln zur Bindung des Lebens, kannte.

»Wir sind jetzt aber nicht so was wie verheiratet? Oder?«, klang ihre Stimme besorgt.

»Tatsächlich ist dieses Ritual dem einer Bindung von Partnern sehr ähnlich. Nur mit dem winzigen Unterschied, dass die nicht beim Tod des anderen auch sterben«, klärte Manakel sie auf.

»Und ich dich mit Sicherheit nicht küssen werde!«, Kommentierte Gabriel die Ausführung von Manakel.

Gabriel holte sich ein paar Sachen aus dem Zelt seines Onkels, schnürte es zu einem Paket zusammen und band es sich auf den Rücken. Böse funkelte er seinen Onkel an, in seinem Blick lagen so viele vorwurfsvolle Worte, dass Olivia sie fast hören konnte. Eilig trat er an Olivia vorbei und streifte sie absichtlich, so, dass sie ins Straucheln geriet. Hustend machte der Engel darauf aufmerksam, dass er es mitbekommen hatte, also ließ er sich wieder hinter sie fallen.

Schwerfällig war der Weg, den sie vom Platz des Kreises zur Höhle nehmen mussten. Auf Olivias Frage, warum sie nicht genauso über ein Portal wieder zurückkehren konnten, reagierte Manakel verächtlich.

»Training Menschenkind, oder glaubst du, egal wo du hinkommst, wird dich immer ein Portal retten können?« Er verschwieg ihr, dass es für dieses Portal nur eine Richtung gab und man, wenn man zurück wolle, immer fliegen oder in diesem Fall, laufen musste. Üblich waren in der Regel ein Portal zum gehen und eines zum kommen. Große dauerhafte Portale funktionierten in beide Richtungen, sofern sie nicht blockiert wurden. Doch eines zum kommen, könnte auch ungebetene Gäste auf den Plan rufen. Gabriel schien das Verschwiegene zu wissen und schaute genervt zu ihr.

»Wenn du wenigstens fliegen könntest, dann …«, weiter sprach er nicht, da er den Zorn des Engels bemerkte.

 

»Dann weißt du ja, was du ihr als Erstes beibringen kannst!«, entgegnete Manakel.

Sie durchquerten eine Wüste in sengender Hitze, hin und wieder wurde die karge Landschaft von einigen Felsen durchbrochen. Die Sonne schien immer an der gleichen Stelle wie festgeschraubt zu stehen und brannte unerbittlich auf die Drei Gefährten nieder. Nur dem Engel schien es nichts auszumachen. Wie viele Stunden sie seit ihrer letzten Rast durch die trostlose Einöde marschiert waren, konnte sie nicht mehr abschätzen. Es mussten jedoch einige gewesen sein, da ihre Füße erbarmungslos brannten und Blasen die Haut aufblähten. Endlich schien es auch Manakel die Kräfte zu rauben, und er beschloss, ein Lager aufzustellen. Die Sonne so erklärte er, geht in diesem Teil des Limbus niemals unter. Olivia bekam es kaum mehr mit und schlief schon, während die beiden Männer das Zelt aufstellten.

Erholt wachte sie auf und sah Gabriel noch fest schlafen. Manakel hingegen schien nach wie vor nicht schlafen zu müssen. Er saß im Schneidersitz und beobachtete die Umgebung. Erwartet er jemanden? Sie wand sich wieder ihren Füßen zu. Sie zog vorsichtig einen Strumpf aus und schaute zu der Stelle, wo Stunden vorher noch viele Blasen waren. Statt der schmerzenden Wunden strahlte ihr rosafarbene Haut entgegen.

Diese Turboheilung hat was! Zufrieden zog sie sich den Socken wieder an und setzte sich zu Manakel.

»Warum unterrichtest du mich nicht?«, fragte sie schließlich, als sie einige Minuten lang schweigend neben ihm gesessen hatte.

»Weil ich kein Krieger bin! Mein Name bedeutet, der alle Dinge bewahrt und erhält. Ich kann mich zwar verteidigen und einen Nephilim auch leicht besiegen, trotzdem bin ich nicht im Kampf gebildet, da es meiner Natur widerstrebt zu kämpfen«, sagte er sanft.

Wie aufs Stichwort fegte eine starke Windböe an ihnen vorbei. Sofort sprang Manakel verteidigungsbereit auf und rief nach Gabriel. Ein Bein nach vorn ausgestreckt und das andere in Beuge gehalten hielt er sein Katana vor sich.

Gabriel tat es ihm gleich, auch er hatte sein Schwert gezogen. Es war nicht so strahlend schön wie das Engelsschwert, dennoch war die Klinge beeindruckend. Das Schwert war ein Säbel, dass zum Klingenende hin immer mehr anschwoll und in einer sichelförmigen Spitze mündete. Der Griff war reich mit bunten Steinen verziert. Gabriel erweckte den Eindruck eines persischen Kriegers aus dem Morgenland.

»Ins Zelt! Schnell!«, befahl Manakel.

Olivia löste sich nur langsam aus ihrer Erstarrung, in die sie gefallen war, als sie fasziniert den beiden dabei zusah, wie sie ihre Kampfhaltung einnahmen. Der herumfliegende Sand bahnte sich seinen Weg unter ihre Kleidung und in ihre Augen. Es scheuerte bei jedem Schritt, den sie auf das Zelt zu ging. Wie Feuer brannte der Sand in ihren Augen.

Aus dem Zelt heraus lugte sie mit einem Auge auf das Geschehen. Ihre Augen tränten vom Sand und sie rieb sie sich, um so viel wie möglich mitzubekommen. Sie konnte den Engel und den Nephilim sehen. Rücken an Rücken beugten sie sich zum Sturm auf ihren Gegner bereit. Doch von dem war noch nichts zu sehen. Sand wurde aufgewirbelt und verwandelte das ganze Szenario in einen Wüstensturm.

Aus dem aufgewühlten Sand formte sich eine Gestalt, an der Seite ein Schwert glitzernd. Zischend schnell schoss es um die beiden herum, an Manakels Arm konnte sie eine Schnittwunde erkennen, aus der Blut lief. Doch der Engel rührte sich nicht, hoch konzentriert versuchte er die Gestalt im Gestöber auszumachen. Ein weiterer Schnitt zerfetzte ihm sein rechtes Hosenbein, gleichzeitig schnellte sein Schwert vor und glitt durch den Wind. Gabriel ließ sein Schwert ebenfalls durch die Luft sausen, die Gestalt wurde langsamer und kurz darauf ließ der Sandsturm nach.

Ihre Beschützer blieben angespannt in Position. Vom Angreifer fehlte jede Spur. Manakel und Gabriel schüttelten sich den Sand aus den Haaren.

»Ein Sandgeist. Kopfgeldjäger dunkler Mächte«, erklärte Manakel, als er Olivias fragenden Blick auf sich ruhen bemerkte.

Olivia zog ihre Augenbrauen noch weiter nach oben.

»Du bist keine normale Nephilim. Du bist etwas Besonderes, und das wissen leider immer mehr. Nicht nur die Engel wollen dich, sondern auch die, die gegen sie kämpfen und das müssen nicht automatisch die Guten sein. Noch wissen sie aber nicht wer du bist. Und das heißt, dir bleibt nicht mehr viel Zeit«, fuhr Manakel fort.

»Zeit wofür?«, warf sie ein.

»Zeit dich auf den Kampf vorzubereiten! Wir müssen deinen Vater befreien!«, flüsterte er.

»Er lebt?«, kreischte sie. Kann das wahr sein? Warum hat er mir das nicht gleich gesagt? Das kann unmöglich wahr sein! »Wo ist mein Vater? Warum hast du das nicht früher gesagt?«, keifte sie.

Der Engel schien zu überlegen, ob er ihr antworten sollte. »Ja er lebt! Aber lass uns in der Höhle weiter reden! Man weiß hier nie, wer zuhört«, beendete er das Gespräch flüsternd und ließ Sand durch seine Hände rieseln.

Sie setzten ihre Reise zur Höhle am Rand der Wüste fort. Dies bedeutete einen Umweg, doch Manakel hielt es aufgrund der Begegnung mit dem Sandgeist für zu gefährlich, um sie direkt weiter zu durchqueren. Gabriel wand ein, warum sie Olivia nicht zwischen sich nehmen würden und einfach dort hinfliegen könnten. »Training«, kommentierte das der Engel einsilbig und schritt voran. Ihr kam das eher einer Bestrafung gleich, als das sie den Marsch als Training empfand.

Zu Olivias Erleichterung fanden sich am Rand der endlos scheinenden Wüste, häufiger schattige Plätze. Wie Stalagmiten einer Tropfsteinhöhle, ragten Felsen in die Höhe und boten Rastsuchenden einen Platz zum Ausruhen. Olivia geriet an ihre Grenzen, so sehr raubte die Sonne und der Marsch durch die Wüste, ihre Kräfte. Sie war sich sicher, wenn sie nicht bald aus der sengenden Sonne herauskommen würde, dass sie an Hautkrebs sterben müsste.

Bilder ihrer Tante Heather und von Gino huschten immer häufiger vor ihr inneres Auge. Mit jedem weiteren Schritt durch den knirschenden Sand wünschte sie sich mehr, dass sie aufwachen würde, und alles wieder so war, wie noch vor wenigen Tagen. Allmählich kam es ihr vor, als wäre ihr altes Leben nur noch ein Hauch einer Erinnerung aus längst vergangenen Tagen. Oder wie ein Traum, den man am nächsten Morgen für unglaublich realistisch hielt, man aber wusste, dass es nur ein Traum war.

Die Kraft der Sonne ließ nach und sie erreichten die Zwielichtregion, in der Manakels geheime Zuflucht lag. Das Licht wechselte vom gleißenden Schein zu einer Abenddämmerung eines Sommertages. Sie konnten das Gebirge, in welchem die Höhle lag, bereits sehen. Schnee lag auf den Gipfeln und glitzerte von der schrägstehenden Sonne orangegold.

»In vier Stunden sind wir da«, verkündete Manakel.

Völlig erschöpft erreichten sie einige Stunden später die Höhle. Selbst der Engel schien es nicht gewohnt zu sein, solange auf den Beinen zu stehen. Seit den Stalagmiten fiel ihr schon auf, dass er langsamer wurde. Sie glaubte, dass er sich nur ihrer Geschwindigkeit anpassen wollte. Nun aber sah sie ihm seine Erschöpfung deutlich an. Um den glimmenden Stein herum legten sich alle nieder und machten, bis auf Manakel, die Augen zu.

Doch bevor Olivia einschlief, stand Manakel auf und trat zu ihr herüber. »Bist du noch wach?«

Olivia schlug die Augen auf und sah ihn nickend an.

»Es ist so, nur dein Vater kann dich lehren, neue Zeichen zu erschaffen! Du hast die Gabe die Zeichen, Symbole und Wörter in allen Sprachen und Schriften der Menschenwelt zu finden, die magische Kräfte besitzen. Und vor allem auch zu verstehen, was sie bedeuten. In dir steckt aber noch viel mehr, wenn du soweit bist, wirst du vielleicht sogar neue Magie erschaffen können!

Und das mein Kind wollen beide Seiten des Krieges! Wir müssen in den neunten Höllenkreis, dort wird er festgehalten. Bewacht von Dämonen, die mit dem Himmel kooperieren, im Austausch für Erlösung«,