Das Vermächtnis aus der Vergangenheit

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Nun stehen wir in meinem Zimmer und halten uns nur fest. Marcel muss bald gehen und ich will ihn nicht gerne gehen lassen. Es ist so schön, dass wir uns wiedergefunden haben.

„Süße, ich muss jetzt los“, raunt er mit belegter Stimme. „Meine Eltern warten und sei mir nicht böse, aber ich werde ihnen sagen, dass wir wieder zusammen sind. Dann regen sie sich noch mehr auf und sehen, dass die ganze Aktion von Katja rein gar nichts gebracht hat, außer dass ich jetzt dreißig Kilometer entfernt wohne. Das ist für meine Mutter das Schlimmste.“

„Das wäre es für meine auch, wenn ich auch noch weg wäre“, erwidere ich und muss an Julian denken, der noch immer in dieser geschlossenen Anstalt sitzt und auf seine Verhandlung wartet.

Wir lösen uns widerwillig voneinander und sehen uns an.

„Ich liebe dich!“, flüstere ich, und Marcel flüstert: „Und ich liebe dich.“

Wir können noch nicht auseinandergehen. Es erscheint uns unmöglich.

Wir küssen uns und Marcel lacht auf einmal sein tiefes, raues Lachen, dass ich so an ihm liebe.

Ich drücke ihn von mir weg und sehe ihn an. „Hey, warum lachst du?“ Dabei knuffe ich ihn verspielt. Es freut mich, ihn wieder lachen zu sehen.

„Weil ich einfach glücklich bin, dass wir die Kurve noch mal gekriegt haben und ich sicher weiß, dass es diesmal für immer ist.“

„Das glaube ich auch. Ich möchte nicht noch mal so leiden, weil du mich verlässt“, sage ich ernst.

Er nimmt mich wieder in den Arm. „Ich danke Kurt Gräbler für diesen Fluch, der aus irgendeinem Grund mich in dein Herz brachte, statt jemand anderen“, säuselt er mir ins Ohr.

„Glaub mir, das war nicht in seinem Sinne. Du bist von der Gegenseite, schon vergessen? Dass ich dich so liebe ist eine andere Macht. Deine Macht.“, kann ich nur antworten und bin überrascht, dass ich erneut meine Gefühle dermaßen vor ihm ausbreite. Irgendetwas hat mich verändert. Ich habe heftigsten Schmerz ertragen und ihn in allen Facetten ausleben müssen. Vielleicht kann ich deshalb nun auch besser Gefühle zeigen.

Wir küssen uns noch einmal und Marcel löst sich endgültig von mir.

„Ich muss jetzt wirklich los. Ich sollte schon vor einer Stunde bei meinen Eltern sein.“

Ich bringe Marcel zu seinem Auto und wir hängen uns abermals an den Lippen, als müssten wir Jahrhunderte überstehen. Nur widerwillig schaffen wir es, uns voneinander zu lösen.

„Ich melde mich später bei dir, wenn ich wieder in meiner Wohnung bin. Ich werde heute erneut mein Auto vollpacken und einiges mitnehmen. Mein altes Zimmer sieht aus wie nach einem Bombenangriff.“ Er lacht und ich liebe es, ihn Lachen zu sehen.

Auch meine Welt ist wieder in Ordnung.

Als er vom Hof braust und noch einmal hupt, winke ich ihm nach.

In meinem Zimmer schnappe ich mir mein Handy und rufe Ellen an. Sie wollte mich doch am Nachmittag angerufen haben. Jetzt ist es schon Abend.

Ellen meldete sich sofort. „Hallo Carolin!“

„Hi Ellen, alles klar bei dir? Du wolltest dich doch bei mir melden.“

Ellen klingt schuldbewusst. „Ich weiß, aber heute ist alles so blöd gelaufen. Wie ist es denn bei dir? Geht es dir gut? Ich schwör dir, hätte ich gewusst, was bei uns zu Hause abläuft, hätte ich dich nicht dagelassen. Du solltest niemals mit dem Scheißzeug in Berührung kommen. Ich könnte Erik dafür töten, dass er das zugelassen hat. Der hat nicht ein Fünkchen Verantwortungsbewusstsein“, schimpft sie.

„Das war alles gar nicht so schlimm. Außerdem wäre ich sonst wohl nicht wieder mit Marcel zusammengekommen. Das war so ein Drogenrausch wert“, sage ich lachend.

„Was? Ihr seid wieder zusammen?“, brüllt sie in ihr Handy und klingt völlig außer sich. „Das finde ich jetzt echt gut.“

Mir ist nicht klar, warum sie sich darüber so freut. Irgendwie irritiert mich das.

Aber Ellen fügt sofort hinzu. „Dass der, ohne zu fragen warum und weshalb, sofort angerast kam, fand ich voll lieb. Wer macht so etwas schon für seine Ex? Zumal wenn sie seine Ex ist, weil sie mit einem anderen gepennt hat. Und außerdem freue ich mich schon drauf, dass Erik als Ergebnis für seine Bemühungen unter die Nase zu reiben. Der wird ausflippen!“ Ellen lacht schadenfroh.

Nun bin ich noch irritierter. „Warum sollte ihn das interessieren?“

Einige Zeit ist es still am anderen Ende. Dann raunt Ellen: „Manoman! Bist du wirklich so schwer von Begriff?“

„Wieso?“ Mir ist schon klar, dass Erik den letzten Abend an mir klebte. Aber das hatte bestimmt nicht viel zu bedeuten. Er wollte halt nicht verpassen, wie ich auf die Drogenkekse reagiere und glaubte, mich dann locker abschleppen zu können. Was hatte Ellen gesagt? Für ihn gibt es nur einmal und dann schießt er alle wieder in den Wind. Er will nur Sex und sonst nichts.

Ellen raunt leise und verunsichert: „Du hättest den sehen sollen, als ich hinter dir die Tür zugeschlossen habe. Der ist völlig ausgeflippt! Erst dachte ich ja, es wäre, weil ich ihm sein Spielzeug weggenommen habe. Aber er wollte genau wissen, wieso du doch gegangen bist, statt bei uns zu schlafen. Er war voll geknickt. Und ich habe ihm reingedrückt, dass ich deinen Ex angerufen habe, damit er dich aus seinen Klauen befreit. Ich dachte, der bringt mich um, so wütend war er. Ich habe keine Ahnung, was ihr alles gemacht habt, aber er ist richtig abgedreht. So kenne ich den gar nicht.“

Entrüstet fauche ich: „Wir haben gar nichts gemacht! Überhaupt nichts! Mal getanzt, weil er das wollte. Aber sonst …“

Ellen scheint zu überlegen. „Wie kam es eigentlich, dass du bei der Bande gelandet bist? Du solltest doch in meinem Zimmer bleiben.“

Ich fühle mich genötigt, mich auch dahingehend zu verteidigen. „Nachdem du weg warst, kam Erik in dein Zimmer und fragte mich, ob ich nicht mit zu ihnen kommen wolle. Das wollte ich natürlich nicht und habe ihm gesagt, dass ich lieber den Film zu Ende sehen möchte …“

„Das wollte er aber nicht“, unterbricht mich Ellen besserwisserisch.

„Doch, das war für ihn völlig in Ordnung“, antworte ich ihr und füge hinzu: „Er wollte daraufhin den Film mit mir zusammen weiterschauen. Das wollte ich wiederrum nicht, weil ich nicht gerne mit deinem Bruder allein in deinem Bett liegen wollte. Sorry, dass ich das sage, aber manchmal ist er mir etwas unheimlich. Er war zwar total nett, so nicht, aber ich wollte halt nicht in deinem Zimmer mit ihm allein sein.“

Einen Augenblick ist es still in der Leitung. Leise raunt sie: „Das verstehe ich. Jetzt weiß ich auch, wieso du diesen seltsamen Trupp von zusammengewürfelten Leuten auf dich genommen hast. Oh Mann! Du Arme! Und ich habe dich da voll hängen lassen.“

Das Thema endlich abhakend, frage ich nach Jasmin und Tina.

„Hör bloß auf! Jasmin ist voll sauer auf mich, weil ich sie ins Krankenhaus gebracht habe. Sie hat jetzt voll die Probleme wegen ihrem Drogenkonsum. Und Tina ist noch nicht wieder aufgetaucht, wurde aber heute Morgen schon gesehen. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich gestern einfach auch nur völlig überreagiert, als Daniel das mit dem schlechten Speed erzählte, das im Umlauf ist und dass Katrin ihn anrief, weil es Jasmin so schlecht ging und Tina voll zugedröhnt abgehauen ist. Aber seit das mit Alex war …“

„Ellen, das ist doch logisch! Ich weiß gar nicht, wie du das überhaupt überstehen konntest“, sage ich, mich daran erinnernd, wie es mir nur damit ging von Marcel getrennt zu sein, ohne dass ihm etwas passiert war. Sollte ihm wirklich etwas zustoßen … poor, das will ich mir nicht mal vorstellen müssen. Dann werde ich auch sterben. Auf der Stelle.

Zum ersten Mal habe ich ansatzweise das Gefühl, Marcels Angst an dem Tag nachvollziehen zu können, als er mich aus dem Labor holte. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein, als er dachte, ich sterbe in seinen Armen. Ich hatte das nie richtig nachvollziehen können.

„Ich will so etwas auch nie wieder erleben müssen“, murmelt Ellen und sie tut mir schrecklich leid. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, frage ich sie nach den Hausaufgaben und ob sie die Seite Mathe schon fertig hat, die unser durchgeknallter Mathelehrer uns aufgebrummt hat.

„Verflixt, stimmt! Das habe ich völlig vergessen“, brummt sie missmutig.

Im Hintergrund höre ich eine Stimme.

„Ah, Erik ist wieder da. Ich muss jetzt erst ein Hühnchen mit ihm rupfen. Der ist gestern Nacht noch abgehauen, nachdem er mir den Schlüssel weggenommen hat und du weg warst. Wir sehen uns dann morgen, okay?“

„Ja klar! Aber es ist wirklich alles in Ordnung. Lass ihn am Leben! Ich möchte nicht, dass du dich mit ihm anlegst“, füge ich schnell hinzu.

Ellen sagt lachend: „Du gönnst mir auch gar nichts. Ich freue mich schon den ganzen Tag darauf, ihn in Grund und Boden zu stauchen.“

So verabschieden wir uns und ich lege auf. Allein und mir etwas verlassen vorkommend, hocke ich auf meinem Sofa. Ellen hatte wirklich schon viel Schlimmes erlebt. Wenn es irgendetwas gibt, was ich für sie tun kann, dann werde ich es tun. Und wenn es nur meine Freundschaft und Schulter zum Ausweinen ist, die ich ihr anbieten kann. Ich mag Ellen echt gerne.

Mich an meinen Schreibtisch setzend, hole ich meine Schulsachen aus der Tasche und mache mich an meine Hausaufgaben. Die Schule ist total schwer. Da kommt man gar nicht durch, ohne zu lernen.

Es klopft an meiner Tür und meine Mutter schaut herein. „Hallo, bist du allein?“

„Ja, sieht wohl so aus“, brumme ich, weil ich gerade keine Lust auf ein Gespräch mit ihr habe.

Sie kommt ins Zimmer und fragt vorsichtig: „Marcel … ist er wieder da? Habt ihr euch wieder zusammengerauft?“

„Haben wir. Er hatte doch keine andere. Das war nur von einem Mädel so hingestellt worden, weil sie sauer war, dass er mit mir zusammen sein will. Es ist alles wieder in Ordnung.“

 

„Schön, das zu hören. Ich mag den Jungen.“ Meine Mutter grinst zufrieden. „Vielleicht bist du dann auch nicht mehr so viel unterwegs.“

Was soll ich sagen?

„Marcel hat jetzt eine eigene Wohnung in Bramsche. Ich denke, ich werde doch ganz viel weg sein.“

Sofort ändert sich Mamas Laune. „Ach so! In Bramsche!“

„Joup, bei seinem Großonkel im Haus.“ Das hört sich wenigstens seriös an.

„Ah, bei seinem Großonkel! Okay! Nah dann! Wir können dich sowieso nicht mehr aufhalten, erwachsen zu werden.“ Ihr trauriger Unterton entgeht mir nicht. „Was ich noch sagen wollte … wir fahren übermorgen zu Julian. Möchtest du vielleicht mit?“

Ich schüttele den Kopf. „Ich habe den ganzen Tag Schule.“ Mir ist nicht klar, warum ich sofort abblocke.

„Gut.“ Meine Mutter schleicht resigniert aus meinem Zimmer.

Ich werde halt wirklich erwachsen und habe mein eigenes Leben … und meinen eigenen Kopf, und ich will Julian nicht sehen. Mein Traum in der letzten Nacht sitzt mir noch in den Knochen. Sie wollten darin Marcel töten und wenn ich etwas in der vergangenen Nacht gelernt habe, dann, dass ich es nicht überstehe, wenn ihm etwas zustößt.

Ich versuche mich auf meine Schulsachen zu konzentrieren. Aber es fällt mir schwer. Es ist so viel an diesem Wochenende geschehen. Ich begreife das alles noch gar nicht richtig.

Irgendwann habe ich zumindest das Wichtigste geschafft und werfe mich auf mein Bett. Müde und noch völlig gerädert von dem Wochenende nehme ich mein Handy in die Hand. Ich will Marcel anrufen. Noch in Gedanken an das Erlebte der letzten Stunden verstrickt, drücke ich auf meinem Handy herum und halte mir den Hörer ans Ohr. Hoffentlich hat er auch Zeit für mich?

„Carolin?“, höre ich eine vorsichtige Stimme erstaunt fragen und erschrecke. Ich habe Tim am Handy, der nun erfreut ruft: „Hallo, schön, dass du mich anrufst! Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, dass du dich bei mir noch mal meldest.“

Ich bin irritiert und sprachlos, muss aber schnell schalten, will ich mich nicht zum Trottel machen. „Hallo Tim. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht“, raune ich völlig neben der Spur. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, weil mich mein eigener Anruf aus der Bahn wirft. Wie konnte mir das nur passieren?

Tim meint zurückhaltend: „Was denkst du? Ich versuche mein Leben in den Griff zu bekommen. Seit zwei Tagen proben wir jetzt hier im Theater und das macht Laune. Wenn ich das nicht hätte, dann müsste ich dich doch noch in einen Flieger zerren und auf einer einsamen Insel mit mir aussetzen.“ Er lacht leise und ich erinnere mich an die Geschichte, die er mir schon mal angedroht hatte. Dass er wenigstens noch etwas lachen kann, baut mich auf.

„Tim, es tut mir alles echt leid und ich bin froh, dass du da jetzt in dem Orchester mitspielst. Und schau mal, du hättest gar nicht in Ruhe dabei mitmachen können, wenn wir zusammengeblieben wären“, versuche ich das Ganze als für ihn gut hinzustellen.

Einen Moment ist es still, dann höre ich ihn brummen: „Stimmt, du bist ja nicht zu bremsen. Verdrehst allen den Kopf, wie es dir gerade in den Sinn kommt. Ich hätte keine ruhige Nacht gehabt.“

Ich schnappe nach Luft. Was soll das denn jetzt? Will er mir allen Ernstes die ganze Schuld in die Schuhe schieben und so tun, als hätte ich es die ganze Zeit drauf angelegt, ihn ins Bett zu kriegen?

„Sag mal …,“ schimpfte ich wütend los. „Was denkst du dir? Ich habe dich schließlich nicht gezwungen, mich mit zu dir zu nehmen und auch nicht, mit mir zu schlafen. Ich habe teuer dafür bezahlt.“

Ich weiß schon, dass ihn das treffen wird. Aber ich bin wirklich wütend. Schließlich springe ich nicht mit jedem einfach so ins Bett. Also, was will der überhaupt?

Leise und mit vor Wut bebender Stimme raunt Tim: „Warum rufst du mich überhaupt an? Ich habe dich auch nicht gezwungen und du wolltest bei mir bleiben. Das hast du zumindest gesagt. Ich habe auch teuer dafür bezahlt, dir das zu glauben. Also lass mich doch einfach in Ruhe.“

Ich würde ihm am liebsten sagen, dass der ganze Anruf nur ein Versehen war und ich ihn gar nicht anrufen wollte. Aber das hätte er mir in hundert Jahren nicht geglaubt.

„Okay, sorry dass ich dich gestört habe. Wird nicht wieder vorkommen“, brumme ich. „Schönes Leben noch.“ Ich drücke das Gespräch aus und starre ungläubig auf mein Handy. Was für eine Scheiße!

Meine Hand, die das Handy hält, zittert und es tut weh, dass von unserer Freundschaft nichts mehr übriggeblieben ist. Aber es ist hauptsächlich meine Schuld. Ich hatte ihm eine neue Hoffnung gegeben und sie auch genauso wieder zerstört.

Mir fällt der Ausspruch von Marcel ein: Ich danke Kurt Gräbler für diesen Fluch, der aus irgendeinem Grund mich in dein Herz brachte, statt jemand anderen.

Vielleicht ist es ein Fluch, wenn man der Arme ist, der sich in mich verliebt. Vielleicht bin ich ein Fluch, der nur Unglück über jeden bringt, auf den ich treffe? War Marcel je wirklich glücklich mit mir?

Ich will darüber lieber nicht nachdenken. Der Gedanke verunsichert mich zu sehr.

Für immer und ewig?

Eigentlich wollte ich Marcel, statt Tim, anrufen und nun bin ich nicht mehr in der Stimmung. Der Streit mit Tim wirft mich unglaublich aus der Bahn. Warum tun wir uns das an? Wie konnte aus einer unglaublich starken Liebe erst nur Freundschaft und dann sogar Feindschaft werden?

Ich beschließe erst einmal einen Gang ins Badezimmer anzutreten und mich bettfertig zu machen.

Als ich unten an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbeikomme, höre ich meinen Vater schimpfen: „Und was soll das heißen? Dass sie jetzt bei dem einzieht? Das kann sie vergessen. Sie ist noch nicht achtzehn!“

Ich bleibe stehen und lausche. Meine Mutter höre ich nur undeutlich. „Niklas, wir können nichts daran ändern, dass Carolin ihren eigenen Weg gehen wird. Wir treiben nur einen noch größeren Keil zwischen sie und uns, wenn wir versuchen, sie aufzuhalten.“

Dass meine Mutter sich so für mich ins Zeug legt, finde ich wirklich toll. Aber es erschreckt mich ein wenig, dass sie so tut, als hätte ich mit ihnen Stress. Bisher hatten sie mir wenige Vorschriften gemacht. Oder waren diese Vorschriften meines Vaters nur bis zu meiner Mutter vorgedrungen und sie hatte sie nicht in seinem Sinne weitergeleitet? Zumindest wird mir klar, dass mein Vater kein Fan mehr von Marcel ist. Warum auch immer.

Ich setze meinen Weg ins Badezimmer fort. Mir ist egal, was mein Vater über Marcel denkt. Ich gehöre zu ihm und fertig.

Es ist schon nach zweiundzwanzig Uhr, als ich mich erneut entschließe Marcel anzurufen. Ich finde, ich habe lange genug gewartet.

Sofort nimmt er ab und ruft mit schuldbewusster Stimme: „Oh Mann, Süße! Tut mir leid. Aber ich bin so im Stress! Drei Mal bin ich jetzt von zu Hause nach Bramsche gefahren und habe alles rüber geschafft, was ich nur konnte. Meine Eltern hatten heute die Absicht, mir mein Vorhaben mit der Wohnung auszureden und ich habe ihnen erklärt, dass ich auf alle Fälle nach Bramsche ziehe, weil das auch näher an deiner Schule ist. Nah, du kannst dir ja denken, wie dumm die geschaut haben. Als ich dann noch einen draufsetzte und ihnen mitteilte, dass wir wieder zusammen sind, meinten sie doch tatsächlich, sie könnten mir noch irgendetwas verbieten. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht und ich habe angefangen alle meine Sachen abzutransportieren. Ich habe die Schnauze so was von voll.“

Er redet sich richtig in Rage. Scheinbar gibt es nichts und niemanden auf dieser Welt, der mit unserer neugezimmerten Liebe einverstanden ist.

Traurig darüber sage ich: „Ich habe meiner Mutter auch mitgeteilt, dass ich wohl ab und an bei dir bleiben werde. Eigentlich hatte sie sich erst noch gefreut, dass wir wieder zusammen sind. Allerdings nur, weil sie meinte, dass ich mich dann nicht mehr so viel in Osnabrück aufhalte und wir wieder hauptsächlich hier sein werden. Ich habe ihr den Zahn aber gleich gezogen. Du hättest sie sehen sollen, als ich ihr sagte, dass ich vorhabe, viel Zeit mit dir in deiner neuen Wohnung zu verbringen und dass ich natürlich auch viel in Osnabrück bin. Schon wegen Ellen. Jetzt hängt auch hier der Haussegen schief.“

Es ist still am anderen Ende und ich bin etwas verwirrt, ob ich Marcel vielleicht mit der Aussage, dass ich viel bei ihm sein will, zu viel zumute.

„Hallo Marcel?“, frage ich vorsichtig: „Stimmt etwas nicht?“

Er scheint sich am anderen Ende der Leitung langsam zu fangen. „Doch, schon! Aber …“ Er ist sich wohl nicht sicher, ob er das wirklich anbringen soll, was in seinem Kopf herumspukt.

„Aber?“, hake ich etwas ängstlich nach. Hat er sich das Ganze anders überlegt und mich nur vor seinen Eltern vorgeschoben? Wieder einmal.

„Das mit dem vielen in Osnabrück bleiben … darüber müssen wir noch einmal reden. Ich möchte das eigentlich nicht. Das ist nicht gut für dich. Du hast doch gesehen, wie es dir ergehen kann, und ich kann nicht immer da sein und dich retten“, raunt er, sich wahrscheinlich schon sicher, dass das abermals in Streit ausarten wird.

„Das habe ich auch gar nicht so vor, wie es sich anhört“, beruhige ich ihn. „Aber ich gehe dort nun mal zur Schule und habe da meine Freundinnen. Außerdem will ich Ellen nicht hängen lassen. Ich mag sie wirklich gerne. Du musst dir aber keine Sorgen machen. Ich werde jetzt besser auf mich aufpassen.“

Marcel brummt nur etwas und ich muss lachen. „Du klingst wie mein Vater.“

Mich darum bemühend, ihn auf ein anderes Thema einzuschwören, frage ich ihn, was ihm in seiner Wohnung noch fehlt und was er schon alles geholt hat. So schaffe ich es, ihn von dem leidigen Thema abzulenken.

Marcel macht Pläne für die kommende Woche. Er hat Spätschicht und will die Vormittage nutzen, um einen Kleiderschrank und ein Bettgestell zu organisieren und erzählt mir von seiner Liste, die er sich zusammenschreibt, um einen Überblick zu haben, was er noch unbedingt braucht. Das erinnert mich an die Liste, die ich mit Tim für seine Wohnung zusammengestellt hatte. Es versetzt mir einen kleinen Stich. Tim hasst mich jetzt und ich bin für ihn Geschichte.

„Leider kann ich dir diese Woche nicht helfen. Aber wenn du nächste Woche Frühschicht hast, können wir uns nachmittags zusammen um das eine oder andere kümmern, wenn du willst“, sage ich und spüre schon wieder die Sehnsucht nach ihm durch meine Adern kriechen. Aber ich muss mich zusammenreißen. Unsere Liebe steht noch auf zu wackligen Beinen, als dass ich schon zu viele Ansprüche stellen darf.

Zu meinem Erstaunen raunt Marcel im nächsten Moment: „Carolin!“ Seine Stimme klingt so sehnsuchtsvoll, wie ich mich fühle. „Kann ich dich morgen Abend abholen? Schläfst du bei mir? Ich bringe dich auch am nächsten Morgen pünktlich zur Schule. Versprochen!“

Wie er das anbringt, berührt mich und ich will nichts lieber als das.

„Natürlich komme ich mit zu dir. Aber ich befürchte mein Vater macht einen Aufstand, wenn ich so spät noch wegwill. Der ist so schon nicht gut auf alles zu sprechen.“

„Kann ich denn zu dir kommen?“, fragt Marcel und es tut mir leid, dass ich auch das ausschlagen muss. Aber ich habe eine bessere Idee.

„Ich gehe morgen nach der Schule noch mit den Mädels lernen und fahre dann mit dem Zug um Zehn. Dann bin um halb elf bei dir. Das müsste doch passen, oder?“

Nicht gerade glücklich über diese Planung, raunt er: „Okay, gut. Aber musst du denn schon wieder …?“ Weiter kommt er nicht.

„Marcel, hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass du mir ein wenig die Möglichkeit gibst, mich meinen Weg finden zu lassen. Ich möchte auf keinen Fall den Anschluss an die Klasse verlieren, wie ich das in meiner alten Klasse hatte.“

Mit unsicherer Stimme fragte er: „Wie, den Anschluss verlieren? War das in der alten Klasse denn so?“

Ich will eigentlich nicht mehr daran denken und schon gar nicht darüber reden. Aber ich muss wohl Rede und Antwort stehen. „Leider. In meiner alten Klasse war ich zwei Jahre lang der Außenseiter. Darum war ich auch immer mit Christiane und den anderen aus der Realschule zusammen. In meiner Klasse hielten sie mich für etwas verrückt.“ Ich versuche ein Lachen erklingen zu lassen, was mir auch mehr schlecht als recht gelingt. Marcel wusste davon genauso wenig wie meine Eltern.

„Okay, es ist natürlich klar, dass es dir diesmal bessergehen soll“, brummt er. „Ich verstehe nicht, wie die so zu dir sein konnten.“

 

„Ach Schatz! Diese ganzen Träume und durchwachten Nächte und meine seltsame Art waren schuld, und dass ich nicht von Anfang an in der Klasse war. Aber das ist vorbei und vergessen. In meiner neuen Klasse geht es mir total gut.“

Ich höre Marcel schlucken. Meine Worte scheinen ihm nahe zu gehen.

„Gut, dann machen wir es so. Hauptsache ich sehe dich morgen wieder. Da habe ich den ganzen Tag etwas, worauf ich mich freuen kann“, sagt er mit seiner dunklen, weichen Stimme, die ich so sehr vermisst habe.

„Ich werde mich auch den ganzen Tag auf dich freuen. Das kannst du mir glauben“, versichere ich ihm.

Kurz darauf verabschieden wir uns. Um halb sechs wird mein Wecker meine Nacht beenden. Marcel kann wenigstens ausschlafen.

Doch erneut ist an Schlaf nicht zu denken. Marcel fehlt mir und ich muss mir eingestehen, dass ich schon wieder so weit bin, meine Zeit mit den Mädels zu kürzen, um jede vertretbare Minute mit ihm verbringen zu können. Und das geht gar nicht. Zumindest seine Spätschichtwoche sollte ich nutzen. Wer weiß schon, wie ich nächste Woche drauf bin, wenn er nachmittags Zeit hat. Ich sehe mich schon brav mit ihm alle Nachmittage verbringen und die Mädels versetzen.

Irgendwann schlafe ich dann doch wohl ein. Zumindest weckt mich etwas, was nicht wie mein Wecker klingt. Irritiert schlage ich die Augen auf und lausche in die Dunkelheit meines Zimmers hinein.

Das war mein Handy, das eine SMS meldete.

„Bestimmt von Marcel“, denke ich und suche es in meinem Bett. Es liegt halb unter meinem Kissen. Einen Knopf drückend, springt das Licht des Displays an und ich sehe den Namen des Absenders. Tim!

Was will der denn mitten in der Nacht? Mich weiter beschimpfen?

Ich öffne die SMS mit einem unguten Gefühl und lese: „Es tut mir leid. Du hast mich bloß wieder so böse erwischt. Ich werde die nächsten vier Monate die Tournee mit dem Orchester hinter mich bringen und hoffe, du siehst dann alles anders. Du hast dann drei Optionen … entweder mit mir zusammen bei dir oder mit mir in Wolfsburg oder … mit mir auf einer einsamen Insel. *grins* Vergiss mich nicht! Dein Tim.“

Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. Das ist wieder der alte Tim, mit seinem unerschütterlichen Charme. Ich muss mir eingestehen, dass seine besitzergreifenden Forderungen und seine unbeirrbare Zuneigung mich berühren. Aber ich glaube nicht, dass ich sie je wieder erwidern werde. Ich bin jetzt wieder mit Marcel zusammen und das mit Tim ist für immer vorbei. Außerdem wird er jetzt vier Monate durch Deutschland touren. Vielleicht trifft er dabei auf ein Mädel, das sein Herz berührt. Ich gönne es ihm von Herzen. Er soll mich vergessen und mir mein Leben mit Marcel lassen. Er ist alles, was ich will.

Nun wieder einzuschlafen fällt unglaublich schwer und als mein Wecker anspringt, bin ich mir sicher, gar nicht geschlafen zu haben.

An meiner Bushaltestelle in Osnabrück wartet Ellen auf mich, was mich unglaublich freut. „Nah, das ist ja ein Empfang!“, rufe ich ihr schon zu, als ich die Stufen des Busses hinunterspringe.

„Guten Morgen! Du siehst immer noch ziemlich mitgenommen aus. Ist das noch von Samstag?“

Ich schüttele den Kopf. „Ne, ich habe nur schlecht geschlafen. Du weißt doch, meine beiden Männer …“ Ich grinse sie an und erzähle ihr von der SMS von Tim, die mich mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt hatte.

„Tja, dann muss ich dir leider deinen Tag noch ein wenig mehr versauen. Erik war an meinem Handy. Ich habe ihn erwischt, wie er es gerade weglegte. Wenn du Pech hast, hat er jetzt auch noch deine Nummer“, sagt sie und ich merke, wie unangenehm ihr das ist.

„Das ist nicht schlimm. Der war Samstag eigentlich ganz nett und die Kekse habe ich schließlich nicht von ihm bekommen. Das waren andere! Eigentlich hat er den ganzen Abend auf mich aufgepasst.“

„Jou!“, meint Ellen. „Bestimmt! Du redest doch wohl kaum von meinem Bruder.“

„Doch, so übel ist der gar nicht.“ Mir geht es viel zu gut, nachdem ich Marcel wiederhabe und Tim mir nicht mehr böse ist, dass ich selbst Erik nicht mehr schlimm finden kann. Alles ist toll, schön und ich bin eigentlich glücklich.

Während wir nebeneinander hergehen, sieht Ellen mich seltsam an. „Hey, glaub mir, du irrst dich. Der steht voll auf Psychospielchen und mag es gar nicht, wenn er seinen Willen nicht bekommt und man ihm sagt, wo es langgeht.“ Sie zieht den Ärmel der Bluse hoch und ich sehe die blauen Flecken rund um ihren Unterarm.

„Oh Mann! Was ist denn mit dir passiert?“, frage ich entsetzt und sofort schießt mir, wer das nur gewesen sein kann.

„Und der andere Arm sieht auch nicht besser aus. Das ist von nachts, als er mir den Schlüssel abgenommen hat … und von gestern, als ich ihn beschimpfte, dass er dich in Ruhe lassen soll. Da ist er auch ausgeflippt und hat mich mal eben durch den Raum gefegt. Mein Bein sieht deshalb auch etwas ramponiert aus. An eine kurze Hose ist diese Woche nicht zu denken.“ Sie grinst mich an, aber ihre Augen schimmern feucht. Offensichtlich ist ihr mehr zum Heulen.

Ich bleibe stehen und sehe sie entsetzt an. Leise brumme ich: „Was, das hat Erik gemacht? Wegen mir? Oh mein Gott, Ellen! Das tut mir leid! Ich werde das selbst mit ihm klären. Bitte misch dich da nicht mehr ein. Ich will nicht, dass dir etwas passiert!“ Dass sie wegen mir so gelitten hat ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.

„Nichts da! Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Er ist mein Problem“, raunt Ellen und geht weiter.

Ich bin sprachlos. Was für eine kranke Welt. Aber ich werde trotzdem mit Erik reden. Vielleicht kann ich ihn mit gutem Willen und guten Worten zur Vernunft bringen. Zumindest, damit er Ellen in Ruhe lässt. So etwas kann er doch mit seiner Schwester nicht machen.

An der Schule sehen die anderen uns schon entgegen. Daher lassen wir das Thema fallen und verschieben es auf den Nachmittag.

Am Nachmittag sitzen Sabine, Ellen, Andrea und ich im Burger King, jede vor einem riesigen Baguette oder Salat, und sinnieren über unsere neue Schule nach.

Sabine murrt: „Das wird noch ziemlich schwierig. Und ich habe gedacht, wir können dort einen lauen Lenz schieben. Aber wenn wir da fertig sind, sind wir Ärzte, Köche, Elektriker, Gärtner, Schneider und sonst noch was.“ Dabei wirft sie ihre langen, dunklen Haare zurück und beißt erneut in ihr Baguette. Ihre dunklen Augen heften sich in unsere Gesichter.

Die anderen nicken. Auch ich muss zugeben, dass ich mir das Ganze weniger inhaltsvoll vorgestellt habe. Das werden die härtesten zwei Jahre meines Lebens. Zumindest schulisch gesehen.

„Vielleicht mache ich nur das erste Jahr“, raunt Andrea und ihre braunen Kulleraugen wandern von einem zum anderen. Wie immer sind ihre Wangen in dem runden Gesicht gerötet und sie streicht nervös durch ihr kurzes, blondes Haar, als müsse sie durch eine Mähne kämmen. Sie isst diesmal wieder nur einen Salat, in dem verzweifelten Versuch, etwas abzunehmen.

„Kommt, jetzt lasst euch nicht schon am Anfang entmutigen. Wir werden einfach alle sehen, dass jeder von uns da durchkommt. Zusammen schaffen wir das“, schalte ich mich ein und meine Stimme strotzt nur so vor Selbstbewusstsein, was mich selbst am meisten überrascht. Aber hier, und in dieser Gruppe, bin ich nicht nur cool, sondern auch weise. Das zeigen mir zumindest die Gesichter, die sich alle dankbar für die aufmunternden Worte auf mich richten. „Also wird hier jetzt keiner mehr Trübsal blasen“, füge ich noch hinzu.

Ellen grinst mich zufrieden und ein wenig stolz an. Ich glaube, sie freut sich darüber, dass wir besonders gute Freunde sind und ich zwinkere ihr zu.

Da das Wetter so unglaublich schön ist, beschließen wir in einem kleinen Park die Sonnenstrahlen zu genießen und zusammen die Verdauungsorgane und die dazugehörigen Enzyme zu lernen. Erstaunlicherweise erweise ich mich sogar als Lehrer als durchaus brauchbar und Wörter wie Pepsin, Trypsin, Ptyalin und Lipase stellen sich nicht mehr als unüberbrückbare Hindernisse auf dem Weg zu unserem Großhirn dar.