Auf ihren Spuren

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Z serii: Cecilia Hyde #1
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Ich hatte nicht mal mitbekommen, dass er wieder Zuhause ist. Wahrscheinlich war ich erneut in ein Zeitloch gefallen. Außerdem bin ich froh, dass es Manuel ist und nicht Katja. Käme sie jetzt mit der Geschichte von einem Gruselfilm und Angst und wäre in mein Bett geklettert, ich hätte für nichts garantieren können. Aber Manuel bringt mich ganz schnell wieder auf Normalmodus. Er trägt immer noch seine schwarze Kappe auf den viel zu langen, schwarzen Haaren und seine Jeans hängt unter seinem Bauch, der sie in tiefere Regionen verbannt. Sein etwas zu kleines, schwarzes T-Shirt schiebt sich am Rücken etwas hoch, als er sich stehend über den Laptop beugt und gibt seinen Rettungsring über den Hüften und einen Teil seines sehr haarigen Hintern frei.

Ich flitze zu ihm und schiebe mich neben ihn, während er grinsend den Desktop präsentiert.

„Sind wir drin?“, frage ich aufgedreht.

„Ja! Und das Passwort ist Agamemnon.“

„Agamemnon?“, frage ich fassungslos und nehme mir ein Blatt und schreibe das auf.

„Das ist irgend so ein Griechischer Herrscher aus dem Jahre schlag mich tot. Keine Ahnung. Aber halt irgend sowas. Voll abgefahren. Da kommt doch keine Sau drauf.“

Nein, wirklich nicht.

„Und sie hat noch Windows 7“, stellt er fest. Er drückt auf den Tasten herum und atmet scharf ein. „Verdammt, nicht zu fassen.“

„Was?“, frage ich beunruhigt.

Er hat die Programme geöffnet und murrt. „Scheiße ist. Da ist auf alle Fälle auch so ein Programm drauf, dass die Sicherheit auf dem PC gewährleistet. Wer auch immer das Handy säuberte, wird es wahrscheinlich auch mit dem Laptop gemacht haben.“

Ich zische aufgebracht. „Ist da nichts drauf?“

„Schau doch!“ Er klickt im Schnellverfahren in alle Ordner und alle geben nur ein leidvolles Leer sein an.

„Das gibt es doch gar nicht!“, zische ich und frage mich, wo Mamas Bilder hin sind, ihre gespeicherten Dokumente und Downloads, von denen ich weiß, dass sie da sein müssen, weil ich sie mit ihr zusammen auf ihren Laptop speicherte. Ich erinnere mich an Urlaubsfotos von ihrem und meinem Handy und ein paar Alben von ihren Lieblingsbands, die ich ihr heruntergeladen hatte.

„Wenn sie alles als privat markierte oder verschlüsselte, dann sind sie gelöscht oder unsichtbar. Sorry Joel. Aber ich kann nichts mehr tun.“ Manuel scheint wirklich geknickt zu sein. Nachdem wir wochenlang wegen dem Passwort kämpften, scheint uns der Ausgang unserer Laptop-Recherche wirklich niederzudrücken. Doch plötzlich raunt Manuel: „Hey, schau mal. Deine Mutter hat den Tor Browser. Soso!“

Ich starre ihn an. „Den Tor Browser?“

„Damit kannst du ohne Rückverfolgbarkeit der IP Adresse ins Internet gehen. Viele nutzen das vorwiegend für das Darknet. Das ist Internet, wo du alles bekommst und alles angeboten wird, was nicht legal ist. Und der Tor Browser ermöglicht, dass man anonym bleibt.“

Ich hatte schon davon gehört, mich aber niemals damit auseinandergesetzt, weil ich nicht im Internet einkaufe, sondern nur Spiele spiele. Legale Spiele.

„Und auf dem Laptop ist dieser Browser?“

Manuel zeigt mir den Button und grinst: „Also war deine Mutter bestimmt im Darknet unterwegs.“

Weil er wohl sieht, wie mich diese Aussage fast zum Heulen bringt, lenkt er ein: „Oder sie hat ihn nur benutzt, um bei Zalando zu shoppen und weil sie nicht will, dass sie der Staatsüberwachung oder Verkaufsmacht zum Opfer fällt. Die sind wie die Geier und nehmen deine Daten, um dich gezielt mit Werbung zu bombardieren, was echt ätzend ist.“

Ich weiß, er will mich trösten und weiß nicht, wie wichtig mir Trost ist, nach dem, was ich mittlerweile alles von Mama weiß, und nach dieser erschreckenden Geschichte, die mir Bilder von ihr in einem Hoteldress in den Kopf geschoben hatte.

Er weiß das alles nicht und das ist gut so. Was würde er sonst von ihr denken?

„Hey, Alter. Mach dir keinen Kopf“, will er mich beruhigen.

Ich wanke zum Sofa und lasse mich darauf fallen. Ich will alles von Mama erfahren, wissen, was sie trieb und was diese Geschichten auf sich haben. Aber jedes Mal ziehen mich neue seltsame Aufdeckungen runter, weil ich eigentlich wohl hoffe, dass ich einfach nur eine gute Erklärung für alles finde, die mir den Glauben an meine Mutter, wie ich sie kannte, wiedergibt. Stattdessen finden wir Sicherheitsprogramme, die Daten unsichtbar machen oder löschen, wenn Gefahr droht und Browser, die Identitäten im Internet verschleiern.

Mit jedem dieser Entdeckungen habe ich das Gefühl, meine Mutter noch weniger gekannt zu haben. In was war sie verstrickt und was tat sie, wenn sie nicht die brave Hausfrau und Mutter mimte?

Ich habe keine Ahnung von all dem Dunklen im Leben. Ich hatte noch nicht mal Sex!

„Kannst du rausfinden, was Mama da im Tor Browser gemacht hat?“

Manuel sieht mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. „Joel, deine Mutter war über den Tor-Browser ins Net gegangen, damit keiner herausfinden kann, was sie da so trieb.“

Ich schüttele resigniert den Kopf. „Okay. Also wars das?“

Manuel nickt bedächtig. „Ich denke schon. Ende mit dem Sherlock Holms Spiel.“

Ich überlege. Ich will nicht, dass er aufgibt. Er ist meine einzige Hilfe.

„Ich hole uns ein Bier“, raune ich, weil ich mir noch nicht sicher bin, ob ich wirklich tun will, was mir vorschwebt.

Als ich mit den zwei Bierflaschen in mein Zimmer zurückkomme, sieht Manuel mich mitleidig an. „Ich verstehe ja, dass du mehr von deiner Mutter wissen willst. Aber sie hat wahrscheinlich ihr Handy und ihren Laptop nur mit diesem Sicherheitsprogramm gesichert, falls es mal geklaut wird. Mittlerweile haben viele Menschen eine regelrechte Paranoia entwickelt und wollen ihre Daten schützen. Und darum der Tor Browser. Mach dir da mal keinen Kopf.“

Ich glaube, seine Worte geben den Stein des Anstoßes. Ich winke ihn zum Sofa, drücke ihm eine Flasche in die Hand, als er Platz nimmt und bitte leise: „Manuel, wenn ich dir etwas anvertraue, behältst du das dann für dich? Es darf niemand erfahren. Vor allem Timo und Katja nicht.“

Manuel sieht mich verunsichert an. Ich weiß nicht, ob ihn verwirrt, dass ich ihm klar den Vorzug gebe oder dass es doch noch etwas Geheimnisvolles gibt. „Sicher. Ich werde schweigen wie ein Grab.“

Ich atme tief ein und erzähle Manuel, dass Mamas Zimmer schon in unserer alten Wohnung immer Tabu war und was ich nach ihrem Tod dort fand. Er kannte weder mich noch meine Mutter zu der Zeit. Wir lernten uns ja erst nach ihrem Tod kennen. Dann erzähle ich ihm, warum ich dieses Zimmer wollte und warum wir überhaupt diese Wohnung bewohnen können.

„Das ist deine?“, ruft er völlig perplex. „Ich dachte, sie gehört deinem Onkel.“

Ich schüttele den Kopf. „Meine Mutter hat sie gekauft und sie mir dann vererbt. Ich wusste nicht, dass sie die überhaupt hat.“ Ich trinke einen Schluck und erkläre leise. „Sie war wohl einige Male hier.“

Manuel sieht mich nur groß an und ich erzähle ihm, was ich vorfand, als ich das erste Mal hier drinnen war und dass sie hier ganz anders gewesen sein muss, als zuhause. „Ich schwöre dir, sie hat bei uns nie etwas herumliegen lassen. Aber hier lag alles kreuz und quer. Und sie hat niemandem gesagt, dass sie diese Wohnung hat. Sie war immer extrem kniepig und dennoch wohnten wir weiter in der Mietwohnung, obwohl es diese Wohnung gab.“

Ich sehe Manuel an, dass er langsam anders über meine Mutter denkt. Vor allem die nuttigen Dessous lassen ihn unruhig auf dem Sofa herumrutschen. Dabei zieht er die Kappe von seinem Kopf und streicht sich die viel zu langen Haare zurück.

Mit einem seltsamen Drücken im Magen berichte ich ihm letztendlich sogar von Mamas Heft und den Geschichten, die ich fand.

„Was sind das für Geschichten?“, fragt er und versteht nicht, warum mich gerade das so aufregt.

Ich gehe zu meinem Bett und ziehe die Seite mir der Hotel-Vergewaltigungs-Geschichte hervor. Ich reiche sie ihm und setze mich mit meinem Bier auf meinen Schreibtischstuhl. Ich denke, Manuel braucht etwas Privatsphäre, wenn er den kranken Scheiß liest.

Während er die Seite überfliegt, sieht er mich immer wieder verwirrt an. Als er zum Ende kommt, ist er mehr als verwirrt. „Was ist das?“, fragt er, als hätte ich eine Ahnung.

„Weiß ich nicht. Kranker Scheiß.“

„Und das kommt von deiner Mutter? Das hört sich eher so an, als hätte das ein Mann verfasst. Ein Mann mit Vergewaltigungsfantasien, der eine Nutte beauftragt, das Opfer zu spielen.“

Ich starre Manuel an.

„Ja, oder?“

Ich kann nur die Schultern hochziehen. Aber Manuel kommt schon eine neue Idee. „Vielleicht war deine Mutter Drehbuchautorin für Pornos?“

Ich starre ihn wieder nur an.

„Ja überleg mal. Das ist doch wie in einem Porno. Fünf Männer machen sich einen schönen Abend und als ein Mädel dazukommt, vernaschen sie sie. Porno! Glaubs mir!“

Ich springe auf und gehe zum Schrank. Meine Mutter als Porno-Schreiberin zu sehen, fällt mir leicht. Aber ihre Dessous sagen, dass sie nicht nur Schreiberin war.

Ich schließe ihn auf, als Manuel murmelt: „Aber die Buchstaben und Nummern am Ende sehen aus, als wären sie ein Zugangscode zu irgendwas.“

Ich ziehe das Heft hervor, lasse aber die anderen einzelnen Blätter im Schrank. Damit kehre ich zu Manuel zurück. „Die hat Mama geschrieben.“

Manuel sieht mich nur an, ohne das Heft anzurühren.

„Lies das. Dann sag mir, ob du immer noch denkst, dass sie Porno-Drehbücher schrieb.“

Manuel starrt mich immer noch an, streckt aber langsam die Hand aus. „Okkayy“, raunte er eher verunsichert und als wäre er sich nicht sicher, ob er das wirklich tun will. Dann erhebt er sich aus dem Sofa. „Wenn du das willst, mache ich das. Aber sorry, Joel. Ich bin auch nur ein Mann. Und Männer lesen so was lieber allein und mit der Hand unter der Bettdecke, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er grinst schief.

 

Was soll ich darauf antworten? Zumindest finde ich tröstlich, dass nicht nur meine Hormone ab und an übersprudeln.

„Aber pass auf, dass niemand sonst das Heft in die Hand bekommt. Vor allem Katja nicht. Dann weiß Timo auch sofort Bescheid. Ich will nicht, dass er irgendeinen Scheiß über seine Tante denkt.“

„Ne, klar. Ich passe auf. Ich werde mich sowieso einschließen.“ Manuel grinst wieder.

„Ist vielleicht besser“, sage ich und grinse zurück, obwohl mir immer weniger gefällt, dass noch jemand von dieser dunklen Seite meiner Mutter erfährt. Aber nun gibt es kein Zurück mehr.

Manuel taucht erst am nächsten Mittag aus seinem Zimmer wieder auf, als Timo und ich am Frühstücken sind. Es ist Sonntag und wir haben alle lange geschlafen.

Ich hatte mich am vergangenen Abend noch bis zwei Uhr mit meinem Spiel abgelenkt und dann geschlafen, ohne seltsam zu träumen.

Das ist keine Selbstverständlichkeit, bei dem, was im Moment alles in meinem Kopf herumschwirrt.

Katja kommt zeitgleich aus dem Badezimmer, als Manuel sich auf einen Stuhl fallen lässt. Er sieht mich einen Moment an, als müsse er auf der Stelle etwas sagen. Aber weil in dem Augenblick Katja an unserem Tisch vorbeirauscht, gleitet sein Blick zu ihr und er schluckt nur, als müsse er ein ganzes Brötchen im Stück herunterbringen.

Ich sehe Katja auch hinterher. Sie stakst barfuß, nur mit einem sehr dürftigen Handtuch bekleidet und nassen Haaren zu ihrem Zimmer.

„Du solltest mal mit ihr darüber reden, dass wir hier eine Männer WG sind und dass sie sich im Badezimmer anziehen soll“, murre ich an Timo gewandt.

„Mach du das doch.“

„Katja ist dein Ding. Außerdem hat sie mir gestern schon gesagt, dass ich ihr nichts zu sagen habe.“

„Hat sie das?“, fragt Timo belustigt und streicht mit einer Hand über sein sehr kurzes, blondes Haar, das frisch geschnitten ist. Manuel wirkt gegen ihn wie ein behäbiger Bär mit seinen struwweligen, zu langen schwarzen Haaren.

Katja kommt aus ihrem Zimmer, mit einem T-Shirt und einer Hot Pants am Leib. Erneut fällt Manuels Blick auf sie und scheint sich nur schwer losreißen zu können.

Ich mustere ihn misstrauisch. Sind ihm die Geschichten aus Mamas Buch nicht bekommen?

Unweigerlich drängen die Inhalte in mir hoch. Sie sind fast alle in der ich-Form und ziemlich vulgär. Es wiederstrebt mir, sie als Mamas Fantasien anzuerkennen. Mama war nicht pervers oder so. Bestimmt nicht.

„Joel möchte, dass du dich im Badezimmer anziehst, statt hier halbnackt herumzuspazieren“, sagt Timo amüsiert.

Katja greift sich ein Brötchen und grinst mich an. „Hat der Kleine Angst, dass seine Hormone mit ihm durchgehen?“

Ich hasse das, wenn sie sich für unwiderstehlich hält und mich als Kurzschwanz der WG abstempelt.

„Nein, ich will nur, wenn du dich an die Regeln hältst. Wir laufen doch auch nicht nackt durch die Wohnung“, brause ich auf.

„Uuuh, wäre aber wünschenswert“, säuselt Katja und sieht demonstrativ an mir herunter, soweit es der Tisch zulässt.

„Wir können ja mal einen Schönheitswettbewerb machen“, meint Timo grinsend. „Wir ziehen uns alle aus und schauen, wer das meiste zu bieten hat.“

Ich starre ihn an. Das ist doch nicht sein Ernst?

„Aber nur, wenn Katja anfängt“, mischt Manuel sich ein und seine Augen leuchten auf.

Katja schießt von ihrem Stuhl hoch. „Jetzt gleich? Aber ihr müsst mitziehen! Gleichzeitig!“

„Hallo? Kann man nicht mal in Ruhe frühstücken?“, zische ich. „Setz dich hin und iss“, fauche ich aufgebracht. Ich will weder Katja nackt sehen, noch will ich mich ausziehen. Und ich kenne Timo mittlerweile genug, dass ich ihm zutraue, das auch durchzuziehen. Wahrscheinlich holt er auch noch einen Meterstab und macht Schwanzlängenvergleich.

Ohne mich.

Weder meine Mutter noch ich rannten Zuhause unbekleidet herum. Ich hatte ab und an nur meine Boxershort an. Aber Mama war immer voll bekleidet und schloss auch immer die Badezimmertür zu, wenn sie duschte.

An solchen Tagen wie diesem fehlt sie mir unglaublich und ich möchte einfach nur mit ihr in unserer alten Wohnung sein. Ich würde dafür auf alles verzichten. Auch auf diese Wohnung hier.

Katja setzt sich und macht einen Schmollmund. Aber dann zwinkert sie Timo zu und ich habe ein ungutes Gefühl. Wollen die beiden mich provozieren?

„Schade!“, lässt Katja dann auch nicht locker. „Wo unser Joel doch so ein hübscher ist.“

Ich glaube, ich werde rot. Dass Katja das sagt, bringt mich durcheinander. Ich dachte immer, sie steht nur auf Timo oder bestenfalls Manuel und sieht mich nur als Kind der WG.

Timo grinst mich an und ich stehe auf und gehe Orangensaft aus dem Kühlschrank holen. „Will noch jemand?“, versuche ich das Thema zu wechseln und sehe, dass Katja und Timo sich erneut breit grinsend einen Blick zuwerfen.

Da keiner antwortet, nehme ich nur mir ein Glas mit zum Tisch und sehe erneut, dass Manuel verstohlen Katja mustert. Was ist nur mit ihm los?

Bevor ich mich wieder an den Tisch setze, steuere ich lieber auf mein Zimmer zu. „Sagt Bescheid, wenn ich abräumen helfen soll.“ Meine Zimmertür lasse ich krachend ins Schloss fallen. Irgendwie regt mich heute alles auf.

Keiner holte mich zum Abräumen. Ich werde wach und sehe auf meinem Nachttischeckregal das volle Glas Orangensaft stehen. Mamas Radiowecker sagt mir, dass es schon Nachmittag ist.

Mein Herz pocht dumpf bis in meine Schläfen und ich fühle mich verschwitzt und unruhig. Ich weiß, es liegt an dem Traum. Darin kam ich in unsere Wohnung und hörte Katja aufkreischen. Als ich ins Wohnzimmer stürmte, lag sie auf dem Tisch, nackt und mit Schokolade besudelt, die Timo und Manuel von ihrer Haut leckten.

Statt ihr zu helfen, zog ich mich aus. Ich weiß, ich wollte sie in dem Moment und das war es, was mich entsetzt aufwachen ließ.

Ich will Katja nicht. Auf keinen Fall. Sie ist ein Störenfried in unserer WG und wir ohne sie besser dran.

Aber mein Herz pocht und auch mein Freund, der sich schmerzhaft in der Hose Platz zu schaffen versucht. Ich weiß, ich sollte kalt duschen und mal wieder runterkommen. Irgendwie gehen mit mir in letzter Zeit wirklich die Hormone durch.

Als ich mit frischer Wäsche unter dem Arm aus meinem Zimmer ins Wohnzimmer komme, höre ich das leise Klacken der Gewichte des Trainingsgerätes und sehe zum Fenster.

„Hi. Ausgeschlafen?“ Es ist Manuel, der meine Gewichtseinheiten stemmt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass seine eher aus Fettgewebe bestehenden Arme und Beine das hinbekommen. Aber er scheint das nicht zum ersten Mal zu machen und mir wird klar, warum ich immer dachte, dass er das Gerät nicht benutzt. Er verstellt nie die Gewichte.

„Hol dir keinen Bruch“, werfe ich nur mürrisch zurück und frage: „Wo sind die anderen?“

„Weg. Ausgeflogen. Timo trifft sich mit welchen aus der Uni und Katja … keine Ahnung.“

Ich nicke nur und gehe ins Badezimmer, schließe ab und stelle mich unter die Dusche. Irgendwie ist mir unwohl. Aber ich brauche einige Zeit, bis mir klar wird, was es ist. Ich gehe Manuel aus dem Weg.

Ich habe Angst vor dem, was er mir über Mamas Buch sagen wird. Seine Meinung ist mir wichtig und daher fürchte ich sie auch.

Als ich aus dem Badezimmer komme, sitzt er am Tisch und wedelt mit dem Heft nervös durch die Luft. „Ziemlich kranker Scheiß!“

Ich nicke nur und werfe mich angezogen mit T-Shirt und kurzer Hose auf einen Stuhl. Es scheint wirklich schön draußen zu sein. Die Sonne scheint und ich sehe durch die großen Fenster endlos blauen Himmel.

„Alle Geschichten haben diese Kombination aus Buchstaben und Nummern.“ Manuel scheint nicht weiter auf die Inhalte eingehen zu wollen.

Ich bin froh darüber. „Was glaubst du, können sie bedeuten?“

Manuel zieht die Schultern hoch. „Keine Ahnung. Hast du noch mehr davon?“

Ich nicke. „Und Skizzen oder Zeichnungen, die irgendwie zu den Geschichten passen könnten.“

Manuel zieht die Augenbrauen hoch und ich beschließe, ihm einige zu zeigen. „Komm!“ Schwerfällig schiebe ich mich vom Stuhl, als hätte sich die Wohnung gerade mit Gelatine gefüllt und ist daher schwer zu durchqueren.

Er folgt mir und ich schließe erneut den Schrank auf und suche einige Blätter heraus, die ich damals hier von der Wand nahm. Nun fällt mir sofort auf, was ich ansonsten noch nie wahrnahm. „Sie haben die gleichen Buchstaben und Nummern am Ende. Schau mal.“

Manuel greift sich ein Blatt und besieht sich die Nummer. Dann blättert er in dem Heft, findet aber wohl nichts. Er greift eine andere Seite und vergleicht wieder die Kombinationen und ruft: „Hier! Die passt!“

Ich starre ihn an. Aber er durchforstet schon den Text und sieht sich das Blatt an. Dann raunt er entgeistert: „Das Bild zeigt einen Aufbau von etwas, was sie in der Geschichte verwenden, um jemanden daran festzubinden. Siehst du das?“ Er hält mir die Skizze mit dem Andreaskreuz vor die Nase, das an den Eckpunkten an der Decke befestigt ist und deren Seillänge offensichtlich das Kreuz in alle erdenklichen Posen bringen kann. An jedem Ende der Holzlatten sind außerdem Schnallen befestigt.

„Warum braucht man sowas?“, frage ich entsetzt, obwohl ich es mir schon denken kann. Es ist die Geschichte mit der gekreuzigten Frau.

„Steht hier ganz klar. Deine Mutter wollte sich daran festbinden lassen, um einem Pulk in Kutten und Kapuzen gekleideter Männer und Frauen ausgeliefert zu sein, die dann machen, was ihnen gerade in den Sinn kommt.“

Ich zische wütend: „Das war nicht meine Mutter! Die hat sowas nicht gemacht!“

„Ist ja schon gut. Vielleicht waren es ja nur Fantasien. Die hat ja jeder und sind nicht verboten.“

Ich bin wirklich wütend, weil es eigentlich offensichtlich ist und mir weitere Skizzen und die vielleicht dazugehörigen Geschichten einfallen. Und was das für ein Licht auf meine Mutter wirft, kann ich fast nicht mehr ignorieren. Aber das kann einfach nicht sein. Meine Mutter war nicht so!

Und um meine Wut rauslassen zu können, zische ich Manuel entgegen: „Ja, deine Fantasien hat man heute beim Frühstück gesehen. Manoman. Dir ist bei Katjas Anblick fast einer abgegangen.“

Manuel öffnet den Mund und schließt ihn wieder, als wäre ihm die Antwort abhandengekommen. Dann setzt er sich in meinem Lederschreibtischstuhl zurück und sieht nur zu mir auf. Leise, als solle das bloß keiner hören, nicht mal ich, raunt er: „Ey, Joel. Sei nicht sauer. Aber du glaubst nicht, was sie gestern gemacht hat!“

Ich kann mir nicht denken, was er meint. Aber er wartet nicht ab, dass ich danach frage.

„Die Lektüre hat mich gestern echt durcheinandergebracht. Sie ist wirklich verstörend und ich war etwas geladen. Aber ich dachte, es schlafen alle, als ich ins Badezimmer wollte.“ Manuel sieht mich nicht an und beginnt das Blatt, dass er noch in der Hand hält, aufzurollen. „Katja war aber noch wach und kam aus dem Bad. Sie sah mich und sie sah … naja.“ Er schluckt schwer und als wolle er es schnell hinter sich bringen, raunt er noch leiser: „Sie hat mir einen geblasen.“ Er sieht auf, weil ihm wahrscheinlich einfällt, dass ich nicht weiß, was er meint. Aber ich weiß das. Ich habe es in einem Porno gesehen.

Er fügt hinzu und kann die Begeisterung in seiner Stimme kaum im Zaum halten: „So richtig. Bis zum End. Ich schwör dir, das war der Wahnsinn!“

Ich starre Manuel nur an und versuche nicht die Bilder hochtreiben zu lassen, die Katja mit einem Schwanz im Mund zeigen. Mit meinem Schwanz. Denn das Bild drängt sich plötzlich in mir hoch.

„Das ist so eine elende Schlampe“, zische ich aufgebracht. „Die macht auch alles, um hier weiterhin umsonst wohnen zu können.“

Manuel sieht mich perplex an. „Hat sie dir auch schon?“

Ich brauche, bis ich erfasse, was er meint. „Neiinnn! Um Gottes willen!“

„Aber du sagtest gestern, dass dir die Wohnung gehört. Dann sollte sie dir besser einen …“, weiter kommt Manuel nicht.

„Sie will uns gegeneinander ausspielen. Deshalb macht sie das. Und sie weiß nicht, dass mir die Wohnung gehört und soll es auch nicht erfahren“, unterbreche ich ihn barsch.

Kurz sperrt sich etwas in mir. Es ist der Gedanke, was sie mit mir alles anstellen würde, wenn sie wüsste, dass die Wohnung mir gehört. „Ich habe ihr angedroht, sie hinauszuwerfen. Deshalb fährt sie schweres Geschütz auf. Und sie weiß, was sie tun muss, um hier weiterhin wohnen zu können.“

 

Ich bin wirklich wütend. Ich weiß nur nicht worauf. Vielleicht, weil Katja mir immer mehr die Möglichkeit nimmt, wirklich etwas gegen sie auszurichten. Das ärgert mich. Sie ist so viel schlauer als wir alle zusammen.

„Wie, und sie zahlt nichts dafür?“, fragt Manuel in dem Moment verwirrt. „Wir haben doch unseren Satz extra gekürzt, als sie einzog.“

Ich nicke und sehe ihn nicht an. Ich weiß, ich bin selbst schuld. Ich bin bisher nicht resoluter gegen sie vorgegangen, weil ich immer dachte, dass sie irgendwann von sich aus kommt, wenn sie Geld hat. Aber die zwei Einsätze von ihr blieben bisher aus.

„Sie hat noch nichts gezahlt? Nicht mal für das Essen?“ Manuel ist wirklich aufgebracht.

Ich schüttele den Kopf.

„Was sagt Timo dazu?“ Ihm scheint der Gedanke, dass Katja sich durchschmarotzt, nicht zu gefallen und ich bin froh darüber. Denn als ich es Timo gegenüber erwähnte, meinte der nur: „Sie hat halt noch keinen Job, der genug abwirft.“

Mittlerweile hat sie eine Lehrstelle bei einem Friseur begonnen. Zumindest laut ihren Äußerungen über das Elend, anderen in den Haaren herumwühlen zu müssen, - wenn sie dann jemals soweit mit ihrer Lehre kommt. Im Moment darf sie wohl nur an Plastikköpfen hantieren, obwohl sie schon ein Lehrjahr in einem anderen Friseursalon hinter sich gebracht hat, was sie dann aber hinschmiss. Deshalb setzten ihre Eltern sie wohl vor die Tür. Zumindest stellte Timo das damals so hin. Aber ich weiß nicht, was an ihrer Geschichte wahr ist und was nicht. Wahrscheinlich hat sie schon einige WGs geprellt und musste gehen, als es nicht mehr reichte, die Beine breit zu machen.

„Hm, und wer zahlt ihren Anteil?“, fragt Manuel und sieht mich groß an.

Das ist mir wirklich peinlich. Denn bisher ging das allein auf meine Kappe. Timo hat auch keine Kohle und Manuel wusste bisher nichts davon.

„Du!“, sagt Manuel im nächsten Moment und nickt, als wäre ihm alles klar. Kopfschüttelnd fügt er hinzu: „Unglaublich. Und dann bläst sie dir nicht mal einen.“

„Weil ich die nicht will!“, rufe ich aufgebracht und laufe durch mein Zimmer, als wäre ein beißwütiger Hund hinter mir her. „Ich will doch keine, die für jeden die Beine breitmacht.“

Ich schlucke schwer, als mir in den Sinn kommt, dass alles danach aussieht, als wenn sogar meine Mutter uns so ernährt hatte. Und das macht mich fertig.

Ich sehe Manuel an und er nickt verstehend. Aber er spricht nicht aus, was in seinem Kopf zu rotieren scheint. Nämlich: „Wie deine Mutter!“

Ich werfe mich auf das Sofa und winke ab. „Lass uns das Thema wechseln. Also, eins ist klar. Meine Mutter hat das nicht mit sich machen lassen, was dort steht. Das muss irgendwie anders zusammenhängen und wir beide müssen herausfinden, wie.“

Manuel sieht mich noch einen Moment lang skeptisch an. Doch dann nickt er und raunt: „Überlässt du mir noch ein wenig den Laptop deiner Mutter? Vielleicht finde ich ja doch noch was.“

Ich winke nur zum Schreibtisch. „Nimm mit! Wenn einer etwas damit anfangen kann, dann du.“

Manuel legt das zusammengerollte Stück Papier auf das Heft und greift nach Mamas Laptop. „Ich sage dir Bescheid, wenn ich mehr herausfinde.“

„Danke!“, erwidere ich nur und bin froh, dass er geht. Die Sache mit Katja und Manuels Mutmaßungen über meine Mutter setzen mir zu. Ich brauche etwas Ruhe und Bedenkzeit. Ich muss das erst mal alles verkraften.

Manuel findet nichts Brauchbares. Er regt sich sogar darüber auf, dass meine Mutter nicht mehr Einträge bei Google aufweist. Es gibt nur die Homepage des Internetcafes, die aber wirklich klasse ist. Ich hatte sie mir noch nie angesehen und sie hatte sie mir noch nie gezeigt. Aber selbst Manuel meint, dass die ein professioneller Webdesigner gemacht hat. Also nicht meine Mutter.

Manuel hat sie außerdem bei den sozialen Netzwerken gesucht. Aber nichts gefunden, obwohl ich weiß, dass sie früher schon bei Facebook war und auch in einem Chat. Aber es gibt keine Daten dazu, die uns auf irgendeine Internetseite von ihr bringen. Aber ihr Mailaccount läuft noch, bietet aber nur Werbung. Da ist nichts Brauchbares bei. Auch keine Einträge, die auf einem Facebookaccount deuten. Es ist enttäuschend.

Ich habe noch in Mamas Koffer aus Kinderzeiten geforscht. Da waren allerlei Briefe drinnen, die man als Liebesbriefe einstufen könnte. Sie sind von verschiedenen Jungen. Mama war früher sehr beliebt.

Dann gibt es ein Tagebuch. Aber es fehlen viele Seiten, die herausgerissen wurden. Daher fand ich nichts Interessantes, was mir erzählt hätte, wie meine Mutter in ihrer Jugend drauf war oder was sie erlebt hatte.

Am Mittwoch bekam ich dann unerwarteten Besuch von Michelle, der anderen Besitzerin des Internetcafes.

Ich stand gerade in der Küche und machte mir ein Sandwich, als es an der Tür klingelte. Da von den anderen noch niemand Zuhause war, ging ich und bediente die Sprechanlage.

„Ja!“

„Hi, hier ist Michelle. Ist Joel zuhause?“

Ich war ziemlich perplex und bat sie nach oben zu kommen. Wenig später machte ich ihr die Tür auf.

Michelle schätze ich als etwas jünger als meine Mutter ein, die nur achtunddreißig Jahre alt geworden war. Sie ist eine gutaussehende Frau mit negerkrausem Haar, rot geschminkten, vollen Lippen, tiefgründigen schwarzen Augen und einem recht dunklen Teint. Offensichtlich hat sie ihre Wurzeln in Afrika oder so, spricht aber absolut gestochen reines Hochdeutsch, was etwas verwirrt.

Sie gab mir die Hand, bevor sie mit hochhakigen Schuhen über die schwarzweißen Fliesen stakte. „Schön, dass ich dich antreffe. Ich fahre damit schon seit zwei Wochen durch die Gegend und dachte eben, ich versuche es einfach.“ Damit hielt sie mir eine Kiste entgegen.

Auf meine perplexe Frage, was das ist, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln: „Sachen von deiner Mutter, die noch bei uns im Büro waren. Ich dachte, bei dir sind sie besser aufgehoben.“

Ich nahm die Kiste entgegen und stellt sie auf den Tisch, während Michelle sich umsah. „Das ist also die Wohnung, die Cecilia sich so hart erkämpft hat?“

Ihre Worte ließen mich sofort hellhörig werden.

„Wie … sie hat sich die erkämpft?“, fragte ich verdutzt.

„Naja. Du weißt schon. Die Banken wegen Kredite anbetteln und Freunde, Verwandte und wer weiß noch wen anpumpen. Sie war damals wirklich viel unterwegs, um das Geld aufzutreiben. Aber sie wollte diese Wohnung unbedingt.“

Ich starrte Michelle verblüfft an und verstand nichts. Aber ich weiß, dass Onkel Andreas den Testamentsvollstrecker gefragt hat, wie hoch die Abzahlungsraten sind. Er erklärte mir, während wir beide vor dem Schreibtisch des ziemlich alt wirkenden Mannes mit Hornbrille standen, dass ich sonst das Erbe nicht annehmen muss. Aber der schüttelte nur den Kopf, sah noch einmal seine Unterlagen durch und meinte: „Es scheint keine Gläubiger mehr zu geben, die ausbezahlt werden müssen. Ihre Schwester hat offensichtlich bei niemandem Schulden.“

Scheinbar hatte Michelle von dem Gespräch nichts mitbekommen, weil sie immer noch glaubt, dass ich nun auf einem Berg Schulden sitze und mein geerbtes Bargeld gleich in die Kredittilgung stecken musste.

„Kann ich dir einen Kaffee oder Tee anbieten?“, fragte ich sie.

„Tee gerne.“ Sie schenkte mir ein Lächeln und musterte mich von oben bis unten. „Du bist richtig groß geworden. Und hübsch. Aber bei den Genen!“

Ich ging in die Küche und setzte Wasser auf. Dabei rief ich ihr zu: „Kennst du meinen Vater?“

Ich dachte wirklich, sie meint ihn. Aber sie lachte nur auf. „Den kennt niemand, nicht mal Cecilia, befürchte ich.“

Um ihren Ausspruch nicht zu herablassend klingen zu lassen, fügt sie hinzu: „Deine Mutter war echt jung, als sie dich bekam.“