Nicht ohne Jasper

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Nicht ohne Jasper

Sabine Prigge


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Titelbild: Heike Georgi

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2010

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

ISBN: 978-3-940367-75-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-299-9 - E-Book (2020)

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Inhalt

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Für Lara

*

1.

Kim erinnerte sich später genau an den Tag im Juni, der alles änderte.

Es regnete ganz feinen leichten Sommernieselregen und es roch gut – nass und warm und würzig. Sie schloss die Haustür auf und stutzte einen Moment. Die Jacke ihrer Mutter hing an der Garderobe. Das war ungewöhnlich. Ihre Mutter arbeitete bis in den späten Nachmittag als Verkäuferin in einer Bäckerei. Das Mittagessen kochte Kims Vater.

Kim stellte ihre Schultasche in die Ecke, schmiss die Jacke darauf und zog sich mit den Füßen wechselseitig die Schuhe aus. Sie schnupperte. Pommes frites? Die gab es eigentlich nur zu besonderen Gelegenheiten – wegen des Fritteusengestanks. Hatte sie etwas vergessen? Ihr Geburtstag war im Februar, Zeugnisse gab es erst in einem Monat. Erwartungsvoll trat sie in die Küche, gab zur Begrüßung erst ihrer Mutter, dann ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und setzte sich.

Frank Heinrich sah richtig glücklich aus und auch Sylvie Heinrich wirkte nicht so gestresst wie sonst.

„Wie war es in der Schule?“, erkundigte sich die Mutter.

„Okay“, erwiderte Kim. „Nichts Besonderes.“ Unsicher schaute sie ihre Eltern an. „Warum bist du zu Hause, Mama? Was ist los?“

„Ich bin nur kurz hier, muss gleich wieder weg.“

„Und warum?“

„Weil ich wieder arbeiten muss.“

„Warum du hier bist, will ich wissen.“

„Um mich ganz doll mit Papa und mit dir zu freuen.“

„Mensch Mama! Sagt mir endlich, was los ist!“

„Frank“, lachte Frau Heinrich. „Sag es ihr, sonst platzt sie.“

Frank Heinrich sah seine Tochter liebevoll an. „Kim“, sagte er dann, „ich habe wieder eine Stelle!“

„Papa“, juchzte Kim. „Das ist ja obercool.“

Sie sprang auf und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn.

Ihr Vater litt so sehr darunter, arbeitslos zu sein, und das seit mehr als zwei Jahren.

„Mit über vierzig Jahren bist du zu alt, dann will dich keiner mehr“, seufzte er, wenn wieder eine Absage auf eine Bewerbung kam. Sie lebten eine Weile nur von seinem Arbeitslosengeld. Dann fand Sylvie Heinrich eine Arbeit als Verkäuferin in einer Bäckerei.

„Was soll’s, bin ich eben der Hausmann“, hatte er gelächelt und seine Tochter an sich gedrückt. „Wir schaffen das schon.“

Kim war ziemlich stolz auf ihren Vater.

Jetzt setzte sie sich wieder und schob sich mit der Gabel fünf Pommes auf einmal in den Mund. „Wo denn?“, fragte sie. Es hörte sich an wie: „Ho henn?“

„Kim, mach den Mund leer, bevor du sprichst“, rügte sie ihre Mutter.

Kim schluckte. Ihr Gesicht war gerötet vor Aufregung, die blauen Augen schauten neugierig hin und her.

„Bleibt Mama dann wieder zu Hause?“, fragte sie. „Oder geht ihr beide? Das fände ich aber doof, es ist schön, wenn einer von euch zu Hause ist.“

„Erzähl du, Sylvie“, forderte der Vater seine Frau auf.

„Na gut, also: Papa hat wieder eine Stelle in einem Krankenhaus gefunden. So wie er sich das gewünscht hat. Er wird dort stellvertretender Abteilungsleiter sein.“ Das sagte sie mit so viel Stolz in der Stimme, als würde ihr Mann der nächste Papst. Liebevoll legte sie ihre Hand auf seine.

Kim verdrehte die Augen. Immer dieses peinliche Getue.

Dabei freute sie sich eigentlich, dass ihre Eltern sich so gut verstanden. Die Eltern ihrer Freundin Hanna lebten seit einiger Zeit getrennt. Hannas Vater wohnte jetzt mit einer anderen Frau zusammen. Seitdem war Hanna ziemlich bedrückt und viel ernster als früher. Sie trafen sich auch seltener. Kim besuchte Hanna nicht mehr so gerne, weil deren Mutter oft weinte oder auf Hannas Vater schimpfte. Und Hanna kam kaum noch zu Kim, weil sie ihre Mutter nicht immer alleine lassen wollte. Das war alles ganz schön blöde. Kim fürchtete manchmal, ihren Eltern könnte es genauso gehen. In der letzten Zeit stritten sie öfter. Aber das lag daran, dass ihr Vater unzufrieden wegen seiner Arbeitslosigkeit war. Außerdem fehlte immer Geld, weil ihre Mutter nicht so viel verdiente. Sie mussten dauernd sparen, fuhren nicht in Urlaub und so weiter. Aber am Tag nach einem Streit gingen ihre Eltern immer ganz besonders nett miteinander um. Dann wusste Kim, sie würden sich nie trennen.

„He, Träumerle“, holte ihre Mutter sie aus ihren Gedanken und strich ihr über die kurz geschnittenen blonden Haare. „Freust du dich?“

„Na klar, freue ich mich“, beeilte Kim sich zu sagen und spießte ihr Würstchen auf. „Dann kommt alles wieder in Ordnung.“

Ihre Eltern sahen sich bedeutungsvoll an.

Kim bemerkte den Blick. Sie legte die Gabel auf den Teller.

„Was stimmt nicht?“, fragte sie misstrauisch.

„Papa wird nicht im Diakonie-Krankenhaus arbeiten“, antwortete Sylvie Heinrich.

„Wo denn dann?“, fragte Kim. „Hier gibt es doch nur das eine Krankenhaus.“

„In einer großen Klinik am Rhein, in Ensburg. Das ist in der Nähe der holländischen Grenze“, sagte Herr Heinrich ganz vorsichtig, als könne etwas explodieren.

„Wo?“, fragte Kim ungläubig.

„In einer großen ...“, wollte Frank Heinrich wiederholen, doch seine Frau unterbrach ihn.

„Du hast schon verstanden, Liebes“, sagte sie zu Kim. „Papa kann nächsten Monat anfangen. Er wird sich zuerst irgendwo ein Zimmer nehmen und schauen, ob alles klappt. Dann sucht er uns eine Wohnung und wir ziehen um.“

„Umziehen?“, fragte Kim. „Wir können doch nicht umziehen! Hier ist unser Zuhause. Ich will das nicht, ich will in Neustadt bleiben!“

„Ich weiß, Kim. Aber es geht nicht anders“, erwiderte die Mutter.

„Ohne mich“, sagte Kim. „Das ist euch ja wohl hoffentlich klar.“

„Nein“, sagte Sylvie Heinrich. „Mit dir, du bist nämlich erst elf und damit definitiv zu jung, um alleine zu bleiben.“ Sie lächelte dabei, aber es wirkte wenig überzeugend.

Kim funkelte sie an. „Ich bin alt genug. Ich kann bei Hanna bleiben.“

„Kim, hör auf“, mischte sich jetzt ihr Vater ein. „Wir wissen, dass es dir schwerfallen wird, aus Neustadt wegzuziehen. Uns übrigens auch. Aber wir werden neue Freunde finden.“

„Ich will keine neuen Freunde.“ Auf einmal wurde ihr erst richtig klar, was das alles bedeutete. „Was ist mit Jasper?“

Ihre Mutter seufzte: „Kim, Frau Hansen wird jemand anderen finden, der sich um Jasper kümmert.“

Entsetzt sah Kim ihre Mutter an. „Jasper ist mein Hund.“

„Nein“, sagte ihr Vater ungeduldig. „Du weißt genau, dass Jasper nicht dein Hund ist. Er gehört Frau Hansen und sie ist glücklich, dass du dich so viel um ihn kümmerst, weil sie es nicht mehr kann. Aber er ist und bleibt ihr Hund und eben nur ein Tier. Deshalb kann ich keine Arbeitsstelle sausen lassen.“

„Nur ein Tier.“ Mit leiser, wütender Stimme wiederholte Kim die Worte ihres Vaters. „Jasper ist mein bester, mein allerbester Freund und ohne ihn gehe ich nirgendwohin, dass ihr es wisst.“ Kim sprang vom Stuhl auf und rannte in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür hinter sich zu, warf sich auf ihr Bett und schluchzte in ihr Kopfkissen.

Die Heinrichs liefen ihrer Tochter nicht nach. Sie blieben in der Küche und sagten erst einmal eine ganze Weile gar nichts. Sylvie Heinrich stocherte mit ihrer Gabel in dem mittlerweile kalten Essen herum, der Appetit war ihr vergangen. „Das mit dem nur ein Tier war nicht gut“, sagte sie.

„Ich weiß“, sagte Frank Heinrich traurig. „Aber was sollen wir denn machen? Ich muss diese Stelle annehmen.“

„Ja, natürlich“, erwiderte seine Frau. „Mit meinem Gehalt kommen wir einfach vorne und hinten nicht aus. Kannst du nicht mit Frau Hansen reden? Vielleicht gibt sie den Hund ab.“

„Vergiss es“, sagte Frank. „Sie hängt an dem Hund genauso wie unsere Tochter, mit dem Unterschied, dass es ihrer ist. Nein, Kim wird damit klarkommen müssen. Sie muss sich an den Gedanken gewöhnen.“

„Ich glaube, da kennst du deine Tochter schlecht“, seufzte Sylvie Heinrich. Sie stand auf. „Ich muss wieder los. Machst du die Küche?“

„Ja, klar mach ich die Küche. Eine Weile spiele ich noch ganz gerne den Hausmann.“ Er nahm seine Frau in den Arm. „Alles wird gut“, sagte er.

„Ja, alles wird gut“, antwortete Sylvie. Aber so ganz sicher war sie sich nicht.

Kurze Zeit später verließ Kim wortlos die Wohnung. Ihr Vater hielt sie nicht auf, er wusste, wohin sie wollte. Er wartete darauf, sie die Treppe herunterpoltern zu hören. Ständig musste er sie ermahnen, ein wenig Rücksicht auf die Nachbarn zu nehmen. Diesmal jedoch ging sie ganz leise und das bedrückte ihn. Er seufzte und nahm das Geschirrtuch zur Hand.

 

Das Mädchen ging zu Frau Hansen. Die alte Dame wohnte ein paar Häuser weiter. Ihre Wohnung befand sich im Erdgeschoss, sodass sie keine Treppen steigen musste.

Kim klingelte und sofort schlug Jasper an. Es dauerte einige Zeit, bis Frau Hansen öffnete. Selbst die kurzen Wege innerhalb der Wohnung fielen ihr schwer. Sie konnte nur auf einen Stock gestützt gehen. Endlich ertönte der Summton des Türöffners. Kim drückte die Haustür auf. Jasper, ein wunderschöner Collierüde mit langem seidigen Fell drängte an Frau Hansen vorbei und sprang freudig jaulend an Kim hoch.

„Ist ja gut, Japper, ist ja gut.“ Kim klopfte und streichelte ihn. Sie nannte ihn oft Japper. Jasper gehörte Frau Hansen, Japper ihr.

„Hallo Kim.“ Frau Hansen lächelte das Mädchen an. „Schön, dass du da bist. Wir haben schon auf dich gewartet.“

Jasper setzte sich zwischen sein Frauchen und seine Freundin und schaute beide im Wechsel an. Frau Hansen lachte. „Ja, nicht wahr? Du bist auch froh, dass wir die Kim haben, du läufst doch so gerne.“ Jasper bellte einmal kurz auf. Es klang, als wolle er „Ja“ sagen.

Frau Hansen nahm die Leine von dem Garderobenhaken und befestigte sie an Jaspers Halsband. Der Hund hielt manierlich still.

„Soll ich Ihnen etwas mitbringen, Frau Hansen?“, fragte Kim.

„Oh ja, Kind, das wäre schön, wenn du mir ein paar Sachen einkaufen könntest. Hast du denn Zeit? Musst du keine Hausaufgaben machen?“

Hausaufgaben. Natürlich musste Kim Hausaufgaben machen. Schlagartig war sie wieder da, die Sache mit dem Umzug. In den letzten Minuten hatte sie überhaupt nicht daran gedacht. Sie seufzte und fuhr mit der Hand über Jaspers schmalen Kopf.

„Natürlich habe ich Zeit“, sagte sie. „Ich mache das doch gerne.“ Was interessierten sie noch Hausaufgaben, es waren ohnehin bald Ferien. Konnte sie die Zeit auch besser nutzen! Sie nahm den Einkaufszettel und einen 20-Euro-Schein entgegen, griff Jaspers Leine und zog los.

Es regnete nicht mehr. Eine warme Sommersonne blickte ab und an zwischen den Wolken hervor. Kim konnte das jedoch nicht genießen. In Gedanken versunken schlug sie automatisch den Weg zum Stadtwald ein. Nach einer Weile setzte sie sich am Wegrand auf einen Baumstumpf. Jasper kam sofort zu ihr und schaute sie fragend an. Seine feinfühlige Hundeseele spürte die Sorgen seiner Freundin. Er setzte sich neben sie und legte seine Schnauze auf ihr Bein.

„Japper“, sagte Kim. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, das mochte er besonders gerne. „Was soll ich nur tun? Meine Eltern wollen wegziehen, weißt du. Ganz weit weg. So weit, dass ich nie wieder mit dir spazieren gehen kann.“

Jasper stand auf und leckte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Kim ließ es geschehen. Sie schlang die Arme um ihn und schluchzte in sein Fell. „Ich will nicht weg, Japper. Ich hab dich doch so lieb. Was soll ich nur ohne dich machen?“

Der Hund jankte, wusste keinen anderen Trost, als seiner Freundin immer wieder über das Gesicht und die Hände zu lecken. So saßen sie eine ganze Weile da, das Mädchen und der Hund.

„Ich lasse mir was einfallen, Japper“, sagte Kim, als das Weinen nachließ. Mit dem Ärmel wischte sie sich die restlichen Tränen und Jaspers Liebesbeweise aus dem Gesicht.

„Noch haben wir Zeit. Es wird ein paar Wochen dauern, bis dahin weiß ich, was zu tun ist. Ganz bestimmt.“ Ihre Traurigkeit wich trotziger Entschlossenheit. Sie sprang auf, nahm einen Stock und warf ihn. Freudig rannte Jasper dem Stock hinterher, um ihn zurückzuholen. Er liebte dieses Spiel.

Der Rückweg führte die beiden an einem kleinen Lebensmittelladen vorbei. „Sitz und bleib“, sagte sie zu dem Collie. Das hatte sie Jasper beigebracht und sie war sehr stolz darauf. Der Hund würde vor dem Geschäft sitzen bleiben und nichts und niemand würde ihn dazu bewegen, sich von der Stelle zu rühren.

Etwas später klingelte sie wieder bei Frau Hansen, um Hund und Einkäufe abzugeben. Sie sagte der alten Frau nichts von den Plänen ihrer Eltern. Bestimmt würde ihr etwas einfallen, um die Trennung von Jasper zu verhindern. Warum also die Pferde scheu machen? Der Spaziergang hatte ihr gutgetan. Sie fühlte sich nicht mehr so verzweifelt und ohnmächtig. Trotzdem bestrafte sie ihre Eltern am Abend mit eisigem Schweigen.

*

2.

Am darauffolgenden Tag kam Kim nicht gleich dazu, Hanna die Neuigkeiten zu erzählen. Hanna erschien zu spät zum Unterricht. Die Klassenlehrerin, Frau Otter, sagte nichts dazu. Überhaupt verhielten sich alle Lehrer Hanna gegenüber ausgesprochen rücksichtsvoll. Sie wussten von der Trennung der Eltern und wollten ihr nicht unnötig das Leben schwer machen.

In der Pause erzählte Hanna Kim unter Tränen, dass ihre Eltern sich um das Sorgerecht stritten.

„Mama und Papa wollen jetzt von mir, dass ich sage, bei wem ich bleiben möchte“, erzählte sie.

„Bei wem willst du denn bleiben?“, fragte Kim.

„Wenn ich ehrlich sein soll, bei meiner Mutter“, erklärte Hanna. „Aber das kann ich meinem Vater doch nicht sagen. Stell dir nur vor, wie traurig er wäre. Und wenn ich es nicht sage, ist Mama enttäuscht. Was ich auch mache, entweder tue ich ihr weh oder ihm.“

Kim überlegte, ob sie sich für ihre Mutter oder ihren Vater entscheiden würde. Sie fand den Gedanken schrecklich und fegte ihn ganz schnell beiseite. Arme Hanna! Es schien keinen Ausweg zu geben. Kim versuchte, sie so gut wie möglich zu trösten.

„Kommst du heute Mittag?“, fragte sie. „Ich muss dir auch was erzählen. Wir können zusammen mit Japper in den Wald gehen. Und dann machen wir ein Picknick. Was hältst du davon? Wir nehmen Apfelsaftschorle mit und Obst. Ich glaube, wir haben sogar noch ein bisschen Kuchen vom Wochenende.“

Hanna schniefte. „Das klingt gut“, sagte sie. „Ich glaube, Mama wollte heute Nachmittag sowieso zum Friseur. Ich frage, sobald ich zu Hause bin und dann rufe ich dich an. Was willst du mir denn erzählen?“

Es klingelte zum Ende der Pause, keine Zeit mehr zum Reden. Die nächsten zwei Stunden paukten sie Mathe. Kim mochte Mathe nicht besonders gerne, konnte es aber trotzdem ganz gut. Überhaupt fiel ihr das Lernen leicht. Sie ging jetzt in die sechste Klasse und schrieb meist gute Noten, ohne sich übermäßig anstrengen zu müssen. Eine Streberin war sie trotzdem nicht. Streber schnippten beim Aufzeigen mit dem Fingern, wussten alles besser, ließen nie jemanden abschreiben und keiner konnte sie leiden. Die meisten Jungen und Mädchen aus der Klasse mochten Kim gerne. Sie war immer freundlich und lachte gerne. Aber an gemeinsamen Aktivitäten, wie Städtebummel, Gesprächen über Jungen oder dergleichen nahm sie nie teil. Ihre Freundin Hanna und der Hund genügten ihr.

Hanna kam dann am Nachmittag tatsächlich. Sie sah sehr blass aus. Zuerst machten sie zusammen Hausaufgaben. Hanna fiel das Lernen schwerer als Kim, vor allem in der letzten Zeit, seit der Trennung der Eltern. Kim half ihr, so gut es ging. Als sie endlich Hefte und Bücher weglegten, wurde es Zeit für Jasper.

„Jetzt muss er aber dringend raus“, sagte Kim mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.

Morgens vor der Schule ging sie immer ein kleines Stück mit ihm. Mittags ließ Frau Hansen ihn zur Türe raus. Jasper lief dann zum nächsten Baum, hob sein Bein und kehrte wieder um. Nachmittags, wenn Kim ihn abholte, wurde er für seine Genügsamkeit belohnt. Mindestens eine Stunde liefen sie durch Wald und Wiesen, jeden Tag, bei Wind und Wetter. Die Eltern fanden das in Ordnung, wussten sie ihre Tochter doch gut beschützt.

An diesem Tag schien die Sonne. Die beiden Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, zogen los. Hanna hatte lange gelockte dunkle Haare, trug einen roten Rock, dazu ein weißes Top. Kim, etwas kleiner als sie, sah mit den kurzen Jeans und dem blauen T-Shirt eher wie ein Junge aus.

Hanna begleitete Kim oft bei ihren Wanderungen mit Jasper. Im Gegensatz zu Kim blieb sie aber lieber auf den Wegen. Dabei ließ es sich überall so wunderbar rumstromern. Kim ging oft querfeldein. Nie hatte sie Angst, dass sie sich verlaufen könnte, Jasper war bei ihr. Er führte sie immer sicher zurück.

Lange gingen die Mädchen schweigend nebeneinander her, jede in Gedanken versunken. Jasper blieb in der Nähe, spürte er doch die gedrückte Stimmung. Erst im Wald begann Kim zu sprechen.

„Papa hat eine neue Stelle“, sagte sie.

„He, das ist doch prima“, freute sich Hanna. „Dann ist er endlich nicht mehr arbeitslos.“

„Ja“, erwiderte Kim. „Das ist so prima, dass wir bald nicht mehr in Neustadt wohnen werden.“

„Bitte?“ Hanna war sicher, sich verhört zu haben.

„Er hat eine Stelle in einem Krankenhaus in der Nähe der holländischen Grenze und deshalb ziehen wir dorthin.“

Hanna hielt Kim am Arm fest und schaute sie an. „Kim, sag, dass das ein Scherz ist.“

„Würde ich gerne, aber es ist leider keiner.“

„Kim, das kannst du nicht machen. Nicht du auch noch. Wenn du weggehst, habe ich hier nichts mehr außer streitenden Eltern. Bitte sag das deiner Mutter und deinem Vater. Sag, dass ich dich hier brauche.“ Die großen braunen Augen glitzerten verdächtig.

Kim schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass ihr mich braucht! Du, Japper und Frau Hansen … und ich brauche euch auch. Und deshalb werde ich nicht gehen! Meine Eltern können dort wohnen, wenn sie wollen, aber ohne mich!“

„Wie willst du das anstellen?“, fragte Hanna ungläubig, aber etwas beruhigt.

„Keine Ahnung.“ Kim zuckte mit den Achseln. „Vielleicht kann ich bei Frau Hansen wohnen. Irgendetwas wird mir einfallen. Oder wir haben Glück und es passiert was, dass Papa die neue Stelle doch nicht kriegt. Es ist ja noch ein wenig Zeit.“

„Ein wenig?“, fragte Hanna. „Wann soll es denn losgehen?“

„Am 1. Juli fängt mein Vater an. Zuerst nimmt er nur ein Zimmer für sich. Aber sobald er eine Wohnung für uns gefunden hat, ziehen wir um. Sie hoffen, dass es noch in den Ferien klappt, damit ich das Schuljahr gleich an der neuen Schule beginnen kann.“

„So bald schon“, flüsterte Hanna. „Du musst dir wirklich etwas einfallen lassen, Kim. Ich werde dir helfen, ganz bestimmt, wenn du nur hierbleibst. Allein mit meinen streitenden Eltern, ohne meine beste Freundin, das ist eine Horrorvorstellung.“

Beim Abendbrot sprachen die Eltern über die bevorstehende Zeit. Es musste einiges organisiert werden. Kim hörte nicht hin. Ihre Gedanken kreisten um Hanna und Jasper.

„Kim, hallo, ich rede mit dir!“ Sylvie Heinrich legte ihre Hand unter Kims Kinn und drehte deren Kopf zu sich. „Jemand zu Hause?“, fragte sie. „Das Ganze geht auch dich an.“

„Ach nee“, antwortete Kim, zog ihren Kopf weg und schaute ihrer Mutter böse in die Augen. „Auf einmal! Die Entscheidung habt ihr getroffen, ohne mich zu fragen, und jetzt geht es mich etwas an? Wisst ihr was: Es interessiert mich nicht. Macht doch, was ihr wollt!“

„Kim, jetzt reicht’s!“, mischte sich ihr Vater ärgerlich ein. „Du bist kein kleines Kind mehr. Und du bist unfair. Es gibt doch keine andere Lösung! Deine Mutter hat in der letzten Zeit nur noch gearbeitet, um uns einigermaßen über Wasser zu halten. Aber sie wird einfach nicht gut genug bezahlt, das Geld reicht vorne und hinten nicht. Unsere Ersparnisse sind fast aufgebraucht. Wir müssen dahin, wo ich Arbeit habe, damit wir ein vernünftiges Leben führen können. Es tut mir sehr leid, dass wir dich von deinem Jasper trennen müssen. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, aber ich sehe keine.“

„Nein“, erwiderte Kim trotzig. „Ihr denkt doch auch gar nicht darüber nach. Es geht nur um eure Probleme.“

„Es geht um unsere und deine Probleme, Kim“, sagte ihre Mutter, um einen sanften Tonfall bemüht. „Und ich möchte, dass du jetzt zuhörst. Wir müssen ein paar Dinge besprechen.“

Trotzig schob Kim die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Mensch Kim“, seufzte Sylvie Heinrich. „Es dauert nur noch zwei Wochen, bis Papa seine neue Stelle antritt. Du hast noch nicht einmal gefragt, wo er wohnen wird. Interessiert dich denn gar nichts mehr?“

„Wo wird er wohnen?“, fragte Kim in einem gelangweilten Tonfall, der ihren Vater fast zur Explosion brachte. Beschwichtigend legte seine Frau ihre Hand auf seinen Arm.

 

„Er wird vorübergehend im Wohnheim des Krankenhauses ein Zimmer beziehen“, erklärte sie. „An den Wochenenden kommt er zu uns.“

Kim horchte auf. „Können wir das nicht immer so machen?“

„Was?“

„Du und ich bleiben hier und Papa kommt an den Wochenenden.“

„Na, vielen Dank“, erwiderte ihr Vater. „Toller Vorschlag. Jeden Freitag nach Feierabend drei bis vier Stunden durch den Berufsverkehr und sonntags wieder zurück. Außerdem möchte ich nicht dauerhaft in einem kleinen Zimmer leben. Nein, kommt nicht infrage. Wir drei gehören zusammen und das nicht nur am Wochenende.“

„Das sehe ich genauso“, bestätigte seine Frau. „Ich möchte Papa die ganze Woche haben, nicht nur am Wochenende, und dir würde er doch auch fehlen, wenn du erst mal wieder deinen Trotz abgelegt hast.“

„Erwachsene denken nur an sich“, zischte Kim. „Ihr wollt zusammenbleiben, aber mich trennt ihr von Jasper und von Hanna. Das ist so gemein.“

„Ja, wir sind grausam“, seufzte Frau Heinrich. „Trotzdem möchte ich jetzt einige Dinge klären. Also: Am 1. Juli ist Papas erster Arbeitstag, der letzte Schultag ist genau eine Woche später. Wir hoffen, dass wir bis August eine Wohnung gefunden haben. Die Schule in Nordrhein-Westfalen fängt nämlich schon am 9. August wieder an, zwei Wochen früher als hier in Hessen. Du hast dieses Jahr also nur vier Wochen Ferien, Kim.“

„Mal sehen“, antwortete diese.

„Nein, nicht mal sehen“, sagte Sylvie Heinrich. „Ganz bestimmt. Nordrhein-Westfalen wird nicht uns zuliebe die Ferien verschieben. Jedenfalls habe ich zu Ende Juli gekündigt, eher ging es nicht. Schließlich kann ich nicht von heute auf morgen aufhören, außerdem brauchen wir das Geld. Eine Woche Urlaub habe ich noch. Und das bedeutet, Kim, dass du etwa drei Wochen lang tagsüber alleine sein wirst. Eine Woche davon bist du noch in der Schule, zwei Wochen hast du Ferien. Wie machen wir das?“

Kim sah ihre Mutter fragend an.

„Ich denke“, fuhr diese fort, „ich werde mit Frau Hansen sprechen, ob du nach der Schule zu ihr kannst. Vielleicht kann sie für dich mitkochen, wenn ich es ihr bezahle. Ich werde wie bisher gegen fünf Uhr zu Hause sein.“

Kim hatte nur eines herausgehört: Frau Hansen. „Hast du schon mit Frau Hansen gesprochen?“ Sie wollte auf gar keinen Fall, dass Frau Hansen etwas erfuhr. Die alte Dame war darauf angewiesen, dass ihr jemand mit Jasper half. Die Vorstellung, dass sie jemand anderen fragen könnte, war unerträglich.

„Nein“, antwortete Sylvie Heinrich und Kim fiel ein Stein vom Herzen. „Es hat sich noch keine Gelegenheit ergeben. Aber sie weiß doch, dass wir wegziehen, oder?“

Kim grunzte etwas, das sowohl nein, als auch ja heißen konnte. Dann sagte sie: „Du brauchst sie nicht fragen, ob ich bei ihr esse. Ich kann doch nach der Schule nach Hause kommen und mir ein Brot schmieren. Und in den Ferien kann ich auch alleine bleiben. Wenn ich mich alleine fühle, gehe ich mit Japper raus oder verabrede mich mit Hanna.“

Ihre Mutter sah sie aufmerksam an.

„Bist du sicher?“

„Ihr habt doch eben selbst gesagt, dass ich kein kleines Kind mehr bin.“

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