Nur ein kleiner Verdacht

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Am nächsten Morgen weckte sie ihn zu spät.

„Musst gehen“, sagte sie liebevoll und zerzauste ihm das Haar.

„Bist starker Junge. Wirst viel schaffen in Leben.“

Karl zog sich an, gab ihr einen Kuss, damit sie ihn nicht vergaß, und lief im leichten Dauerlauf zurück ins Hotel.

Als er verschwitzt in dem schäbigen Hotel ankam, stand sein Vorgesetzter bereits unten in der Lobby.

„Wo kommen Sie her?“

„Ich habe nur einen kleinen Dauerlauf gemacht.“ Karl schaute unschuldig in sein rotes Gesicht.

„Die ganze Nacht?“

„Nein.“

„Sie wissen, dass es untersagt ist, sich von der Gruppe abzusetzen?“

„Herr Presser“, Karl versuchte es auf die vertrauliche Art.

„Verstehen Sie doch. Da war diese schöne Ewa. Sie hat mich geradezu aufgefordert, mitzugehen. Hätten Sie da an meiner Stelle Nein gesagt?“

Das Gesicht von Professor Presser lief noch röter an.

„Selbstverständlich hätte ich Nein gesagt. Erstens ist es untersagt, sich unerlaubt vom Kader zu entfernen, und zweitens bin ich verheiratet. Das wird ein Nachspiel haben.“

Es hatte ein Nachspiel. Erst wurde Karl für alle Auslandsreisen gesperrt, dann im Betrieb aus der Forschung genommen und in den Vertrieb versetzt.

Daraufhin beschloss er zu türmen.

Das war 1958.

Karl hatte sich von Anfang an mit dem Sozialismus und seinen Beschränkungen schwergetan. Anfangs glaubte er noch an die gute Idee. Er konnte umsonst studieren, bekam für sage und schreibe zehn Mark im Monat ein Zimmer, aber nach und nach wurde ihm bewusst, dass er in einer Falle saß. Hier wurde jeder Schritt kontrolliert, an freie Forschung war nicht zu denken, geschweige denn an Bewegungsfreiheit. Er wollte etwas von der Welt sehen, etwas erleben.

Also lud er Maggie auf einen Ausflug aufs Land ein. Dort unterbreitete er ihr seinen Vorschlag. Sie würden getrennt abfahren. Maggie sollte einen Antrag auf Besuch bei ihrer kranken Mutter in Augsburg stellen. Wenn der genehmigt war, würde sie den Zug nach München nehmen und dort auf ihn warten. Er selbst würde mit dem Motorrad über die Grenze fahren. Man musste vorsichtig sein, die Mauer war zwar noch nicht gebaut, aber sobald ein Grenzsoldat Republikflucht vermutete, war man verloren.

Sechs Wochen dauerte es, bis Maggies Mutter das Attest schickte, in dem ein Arzt eine Herzschwäche diagnostizierte. Bis zur Genehmigung des Besuchsantrags dauerte es weitere drei Wochen. Dann brachte Karl Maggie zum Zug. Sie hatte Gepäck für drei Tage dabei, alles andere musste sie zurücklassen. Beim Abschied schwammen ihre Augen.

„Nicht weinen, Kleines. Sonst werden die misstrauisch.“ Karl sah sich besorgt um, ein paar Soldaten patrouillierten auf dem Bahnsteig.

„Es sind nur ein paar Tage, dann sind wir wieder beieinander.“

„Sei vorsichtig“, flüsterte Maggie ihm ins Ohr. „Ich brauche dich, das weißt du.“ Karl nahm ihren Kopf in beide Hände, sah ihr fest in die Augen und küsste sie auf den Mund. Dann löste er ein paar Haarsträhnen, die sie sich hinter das Ohr gesteckt hatte, und strich sie sanft ins Gesicht. „So sieht es weicher aus“, sagte er. Er drückte sie an sich und hielt sie einen Moment lang fest umschlossen.

„Na, sie wird doch nicht für immer weggehen“, tönte der Schaffner hinter ihnen. „Natürlich nicht“, murmelte Karl und schob Maggie in den Zug, denn er sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

„Denn reißen Sie sich ma’ los.“

Karl winkte. Maggie winkte.

Danach lief alles wie geplant, bis zu dem Tag seiner Abreise. Er wollte zusammen mit seinem Kollegen Peter Reisfeld abhauen. Dessen Frau wartete bereits mit den beiden Kindern in München. Peter hatte eine EMW – das Ganze sollte nach einem Tagesausflug aussehen. An der Grenze wurden sie von Soldaten angehalten. Ausweise, Motorrad-Papiere.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Och, nur eine kleine Tour nach Westberlin.“

„Einkaufen?“

„Nö, Kaffee trinken und Mädels gucken.“

„Machen Sie mal die Seitentasche auf.“

Peter Reisfeld zuckte leicht zusammen. Er bückte sich und öffnete den Riemen der Ledertasche, die seitlich an dem Sozius hing. Er nahm eine Tageszeitung heraus.

„Sonst nichts?“, wollte der Beamte wissen.

„Nein, nichts“, stammelte Peter Reisfeld. In diesem Moment wusste Karl, dass Peter einen Fehler gemacht hatte. Der Beamte beugte sich hinunter und ließ seine Hand in die Tasche gleiten. Nichts. Karl wollte erleichtert aufatmen, als der Beamte anfing, ihn und Peter Reisfeld abzuklopfen. In Peters Jacke knisterte es. „Ziehen Sie mal die Jacke aus“, forderte der Beamte Peter Reisfeld auf.

„Warum denn?“

„Fragen Sie nicht blöd, machen Sie, was ich Ihnen sage.“

Peter Reisfeld zog seine Jacke aus, und der Beamte tastete das Futter ab. Dann rief er einen Kollegen:

„Hans, bring mal ne Schere raus.“ Hans kam mit einer Schere, und der Beamte zerschnitt das Futter. Peter Reisfeld protestierte, aber da zog der Beamte auch schon einen dünnen Stapel Papiere aus dem Jackeninneren hervor.

„Und was ist das?“

„Keine Ahnung“, log Peter Reisfeld, aber Karl erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um Laborauswertungen handelte. Er stöhnte innerlich auf und überlegte blitzschnell, was zu tun sei.

„Dann kommen Sie mal beide mit“, raunzte der Beamte sie an. Peter sah Karl verzweifelt an, aber der zuckte nur mit den Schultern. Die drei Männer wandten sich zum Gehen, da sprang Karl auf das Motorrad, der Schlüssel steckte noch, trat das Gaspedal los und raste wie ein Blitz davon. Es war seine einzige Chance, hier noch wegzukommen. Er musste das Überraschungsmoment nutzen.

„Stehenbleiben, oder ich schieße!“, hörte er noch hinter sich. Aber er war schon zu weit weg. Sie konnten ihn nicht mehr erwischen.

Peter Reisfeld musste für vier Jahre in den Bau. Seine Frau ließ sich in der Zwischenzeit von ihm scheiden und heiratete einen Arzt in München. 1963 wurde er aus der DDR abgeschoben. Soweit Karl gehört hatte, war er nach Spanien ausgewandert.

Für Karl ging alles gut. Nach sieben Stunden Fahrt durch Sturm und Regen kam er in München an. In einem Auffanglager am Stadtrand fand er seine Maggie. Er brauste mit dem neuen Motorrad in den Hof der ehemaligen Kasernen und rief: „Maggie Marchwicz – komm heraus und heirate mich!“

Fenster gingen auf, Gesichter starrten auf ihn hinab, einige lächelten. Dann tauchte Maggies kleines Gesichtchen hinter einer dicken, teigigen Frau auf. Sie winkte ihm zu, verschwand von der Bildfläche und war in weniger als einer Minute unten in der Tür. Karl breitete seine Arme aus, und Maggie flog ihm entgegen. Sie hatten so viel Hoffnung in ihre Zukunft.

Das Drücken in seinem Oberbauch war schlimmer geworden. Karl schenkte sich einen weiteren Magenbitter ein und ging nach oben ins Badezimmer. Er hatte sich gerade bettfertig gemacht, als das Telefon durch die Stille des Hauses schrillte. Um diese Zeit? Das konnte nur Susanne sein! Jeden anderen hätte er durch den Hörer angebrüllt, aber Susanne konnte er nicht böse sein.

„Na, mein Schatz?“, sagte er, nachdem er den Hörer abgenommen hatte.

„Hallo Papa, ich hab dich doch nicht geweckt, oder?“

„Nein, nein. Ich bin doch kein Opa, der um zehn schlafen geht.“

„Wie geht’s?“

„Gut, und selbst? Was liegt dir auf der Seele? Du rufst doch nicht einfach so an, um deinen alten Vater zu fragen, wie es ihm geht, oder?“

„Schläft Mama schon?“

„Ja, die schläft schon.“

„Okay, dann rufe ich morgen noch mal an – du bist sicher auch müde und willst ins Bett.“

„Nicht die Bohne“, log er und unterdrückte ein Gähnen.

„Du kannst mir ruhig sagen, was los ist.“

„Ach, nichts. Frauensache …“

„Ach, geht es mal wieder um einen Mann?“ Karl seufzte.

„Ja, so ähnlich.“

„Wer ist es denn?“

„Kennst du sowieso nicht.“

„Und wo liegt das Problem? Vielleicht kann dir dein alter Herr ja mit einem Rat helfen. Immerhin habe ich ein paar Jährchen mehr Lebenserfahrung auf dem Buckel als du.“

„Danke, Papa, aber ich glaube nicht, dass du mir da weiterhelfen kannst. Obwohl …“ Einen Moment lang hörte Karl nur das Rauschen in der Leitung.

„Du, Papa, darf ich dir mal eine Frage stellen?“

„Ja, natürlich.“

„Es ist aber etwas Privates.“

„Nur zu.“

„Unter welchen Umständen hättest du die Mama betrogen?“

Karl schluckte.

„Was ist das denn für eine Frage?“

„Ich kann es auch anders formulieren. Wenn du die Mama mit einer anderen betrogen hättest, wäre es dann deshalb gewesen, weil du sie nicht mehr geliebt hättest? Oder hättest du es zu deinem reinen Vergnügen getan?“

Karl überlegte einen Moment.

„Ich hätte es wahrscheinlich zu meinem reinen Vergnügen getan.“

„Und hätte es trotzdem passieren können, dass du dich in eine andere verliebt und die Mama und uns verlassen hättest?“

„Kann ich mir nicht vorstellen. Wieso?“

„Nur so.“

„Nee, mein Schatz, so kommst du mir nicht davon. Wieso willst du das wissen?“

„Kannst du dir das nicht denken?“

„Keine Ahnung.“

„Komm, Papa, jetzt stell dich doch nicht so dumm an.“

„Jetzt hör mir mal gut zu, Susanne – es gibt bestimmte Dinge, die gehen nur deine Mutter und mich etwas an.“

„Papa!“ Susannes Stimme unterbrach seinen Vortrag.

„Ich habe ein Verhältnis mit einem Mann, der verheiratet ist.“

Mein Gott. In Gedanken schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Herrje, sag das doch gleich!“

„Diesmal ist es der Richtige, Papa. Ich weiß es.“

 

„Ach, und woher weißt du das so genau?“

„Alles passt. Er ist erfolgreich, sieht großartig aus und ist sehr großzügig. Außerdem …“

„… ist er verheiratet. Das ist allerdings ein Handicap.“

„Aber warum betrügt ein Mann seine Frau? Doch nur, wenn er sich von ihr nicht mehr geliebt fühlt.“

„Oder weil er ein bisschen Spaß braucht. Vielleicht wächst ihm die Sache zuhause über den Kopf. Zwei kleine Kinder, die ständig schreien, eine Frau, die keine Zeit mehr hat, sich um ihn zu kümmern, Schulden auf dem Haus, ein Chef, der mehr Einsatz verlangt. Was macht er überhaupt beruflich?“

„Er ist Coach.“

„Aha. Und in welcher Sportart?“

„Nicht im Sport. Im Management.“

„Wer braucht denn so etwas?“

„Manager zum Beispiel. Er berät Führungskräfte oder solche, die es werden wollen. Das heißt, er trainiert sie mental für ihre neue Aufgabe.“

„So ein Quatsch. Wenn die erst für ihre neue Aufgabe trainiert werden müssen, sind sie doch ohnehin nicht geeignet. Das kann ich dir gleich sagen.“

„Das ist kein Quatsch, Papa. Das ist ein anspruchsvoller Job, bei dem man bis zu hundert Dollar in der Stunde verdient.“

Karl war zu müde, um sich auf eine Diskussion einzulassen.

„Und, hat er dir schon sein Leid geklagt?“

“Inwiefern?“

„Na, dass seine Frau keine Zeit mehr für ihn hat, dass er einsam ist, keine Liebe mehr bekommt, sich scheiden lassen will und all das Gefasel?“

„Nein, hat er nicht“, gab Susanne zurück.

„Er hat mir noch nicht einmal erzählt, dass er verheiratet ist.“

„Und woher weißt du es dann?“

„Ich habe es eben rausgefunden.“

„Dass ihr Frauen immer so neugierig sein müsst. Jetzt weißt du es, und was hast du nun davon?“

„Na, ich weiß, woran ich bin.“

„Und das macht die Sache einfacher?“

„Nicht einfacher, aber klarer.“

„Aber wenn er es dir nicht gesagt hat, wird er doch seine Gründe dafür haben.“

„Ja, und die wüsste ich gern. Vielleicht hat er ja auch Angst, ich würde mich von ihm abwenden, wenn er es mir sagt.“

Du lieber Himmel, wie romantisch waren die Frauen?

„Mach dir nichts vor, mein Schatz. Du bist ein Verhältnis für ihn, und er hat dir nichts gesagt, weil er dich ins Bett kriegen wollte“, sagte Karl bestimmt.

„Woher willst du das so genau wissen?“, fragte Susanne.

„Weil ich ein Mann bin“, gab Karl zurück.

„Es gibt aber auch andere Männer als dich“, gab Susanne trotzig zurück.

„Setz ihm die Pistole auf die Brust und schau, was passiert. Dann hast du Klarheit.“ Karl tat Susannes Naivität fast körperlich weh.

„Hab ich dich all die Jahre zu Selbstbewusstsein erzogen, hab ich dich zum Gymnasium geschickt und durchs Studium gebracht, damit du dich derartig von männlicher Blendkunst hinter das Licht führen lässt?“

„Natürlich nicht.“ Susannes Stimme wurde schroffer.

„Also Kopf hoch“, munterte Karl sie auf. „Du bist eine attraktive, kluge Frau, die es nicht nötig hat, sich von einem kleinen verheirateten Berater ausnutzen zu lassen. Verstanden?“

„Ja, ja“, gab Susanne zurück.

„Also, dann mach’s mal gut, mein Schatz.“

„Du auch, Papa.“

„Weißt du eigentlich, wer der Vater von dem Kind deiner Schwester ist?“

„Keine Ahnung.“

„Meinst du, du kannst es herausfinden?“

„Ich kann’s versuchen, aber du kennst sie ja. Sie spricht mit keinem von uns wirklich offen.“

„Ja, sie war schon immer anders als wir anderen“, seufzte Karl.

„Weiß der Himmel, woran das liegt.“

„Am Blut des Russen. Hast du doch selbst immer gesagt.“

„Hab ich das?“, murmelte Karl.

„Ja, früher, wenn sie etwas ausgefressen hatte oder frech war, hast du immer gesagt: ‚Das kommt nicht von uns, das ist das Blut des Russen‘.“

„Dann wird es wohl so sein.“

„Also bis bald, Papa.“

„Bis bald, mein Schatz.“

Der Sonntag war verregnet, aber Karl plante trotzdem eine lange Radtour.

„Du brauchst heute Mittag nicht mit mir zu rechnen“, sagte er beim Frühstück.

„Ich esse auswärts.“

Maggie schaute ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht.

„Ich habe aber Königsberger Klopse vorbereitet“, sagte sie mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.

„Die kann ich ja heute Abend essen“, antwortete er.

„Hauptsache, ich habe mir die Mühe nicht umsonst gemacht.“

Königsberger Klopse waren sein Leibgericht. Hatte sie die extra für ihn zubereitet?

„Tiefgefroren?“, fragte er.

„Nein, ich habe sie gestern gekocht, als du im Fitnessstudio warst. Zumindest hast du gesagt, du warst im Fitnessstudio.“

„Ich war im Fitnessstudio“, sagte Karl.

„Du kannst gerne dort anrufen und es überprüfen!“ Wütend warf er seine Zeitung auf den Tisch und stand auf.

„Die Nummer findest du im Telefonbuch. Body-Care.“

Er stapfte aus dem Zimmer.

Sein Weg führte ihn durch das kleine Ortszentrum. Einem plötzlichen Impuls folgend, machte er einen Schlenker an dem Reihenhaus vorbei, in dem sie 14 Jahre lang gewohnt hatten. Wie schmal ihm der Weg zu dem Grundstück heute vorkam. Er lehnte sein Fahrrad an den Zaun und ging außen um den Garten herum. Die meisten Bäume, die er einst gepflanzt hatte, waren noch da. Sogar die Birke, die inzwischen über zehn Meter hoch war und dem Garten viel Sonnenlicht nahm, stand an ihrem Platz. Wahrscheinlich war es ihr gut bekommen, dass er all die Jahre an ihr Wurzelwerk gepinkelt hatte. Die Beete waren mit Unkraut überwuchert. Wie viele Stunden hatte er hier mit Gartenarbeit verbracht? Als sie einzogen waren, waren die Häuser gerade neu gebaut worden. Mit einem kleinen Schmiergeld an die „Aufbau West“ hatte er den Zuschlag für das Endreihenhaus bekommen. In den darauffolgenden Jahren, also 1964, 1965 und 1966, hatte er regelmäßig den ersten Platz im Gartenwettbewerb gewonnen. Die Urkunden hatte er aufgehoben. 1967 hatte Familie Wendtnitz von gegenüber gewonnen, aber das machte ihm nichts aus, denn im selben Jahr kaufte er sich einen Opel. Sie hatten schöne Jahre hier verbracht, und Karl hing an seinem ersten eigenen Haus. Aber Maggie hatte darauf gedrängt, sich zu vergrößern. Der Umzug in die schickere Villa erfolgte Ende der Siebziger, kurz nachdem er Jutta kennengelernt hatte. Und kurz nachdem seine Mutter gestorben war. Frau Hübel von nebenan hatte damals das Telegramm in Empfang genommen.

„Ihre Mutter ist heute morgen gegen 9.00 Uhr im Krankenhaus Rostock verstorben. Gezeichnet: A. v. Büchel.“

Viel konnte er nicht über ihren Tod herausfinden. Sie hatte die letzten Jahre an schwerem Asthma gelitten und war an einer Lungeninsuffizienz gestorben. Mit siebenundsechzig Jahren. Er hatte zuletzt vor über einem Jahr von ihr gehört. Sie schrieb, die Lebensmittel drüben seien knapp. Er möge ihr Kaffee und Schokolade schicken. So ein Brief kam einmal im Jahr. Karl meldete sich nie zurück. Maggie übernahm diese Aufgabe.

Die Königsberger Klopse schmeckten auch am Abend noch köstlich.

„Ausgezeichnet, Maggie“, lobte er seine Frau. „Niemand macht sie besser als du.“

„Danke“, lautete die einsilbige Antwort.

Im Hintergrund lief eine Reportage über den Osten.

„Unglaublich, wie die das alles haben runterkommen lassen“, sagte er. „Die reinste Schande. So schlimm sah es dort nicht aus, als wir weg sind, oder, Kleines?“

„Bitte nenn’ mich nicht mehr Kleines.“

„Das kann doch nicht nur an dem System gelegen haben, dass da alles brachliegt.“

„Wie in Russland“, sagte Maggie. „Da ist auch alles verfallen.“

„Woher willst du das wissen, du warst doch noch nie dort?“

„Hat mir eine aus meinem Italienischkurs erzählt. Die war dort auf Rundreise.

‚Alles kaputt’, sagt sie.“

„Also, mit Russland hat das hier aber nichts zu tun. Die DDR war ganz allein für sich verantwortlich.“

„Ich sage ja nur, dass die Russen auch schlampig sind. Ich hab’ doch selbst gesehen, wie die in unseren Wohnungen gehaust haben, nachdem sie uns dort rausgeschmissen haben. Wie wilde Tiere. Alles voll mit Wodkaflaschen. Echtes Meissener Porzellan stand stapelweise ungespült in der Küche, unzählige Stücke sind zu Bruch gegangen. Und alles voll mit Zigarettenstummeln.“

„Du bist einfach zu emotional in diesen Dingen. Deine persönlichen Erfahrungen mit den Russen tun doch überhaupt nichts zur Sache.“

Er war fertig und stand auf. Sein Magen drückte heute Abend noch heftiger als am Morgen. In seinem Bauch grummelte es, und in der Hoffnung auf einen anständigen Furz ging er ein paar Schritte vor das Haus. Die Luft war angenehm kalt und klar. Er hasste es, wenn Maggie diese alten Geschichten hervorkramte. Hatten sie nicht alle schreckliche Kriegserlebnisse hinter sich? Er hatte seinen Bruder verloren. Oder die Geschichte, als ihm der Kopf des Oberkommandierenden Schneider direkt vor die Füße gerollt war. Dabei hatte er noch Sekunden vorher mit ihm gesprochen.

„Bring heute erst den anderen Kaffee“, hatte Schneider ihm von seinem Kontrollturm zugerufen. Karl sattelte wieder auf und radelte zum zweiten Stützpunkt. Nach wenigen Metern hörte er die Bomber. Er warf sich mit seinem Fahrrad in den Straßengraben und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. So kauerte er eine Ewigkeit, bis das Donnern wieder in der Ferne verschwand. Um ihn herum herrschte Stille. Langsam erhob er sich und lugte aus dem Graben. Nichts. Vor ihm nur plattes Land. Die beiden Kontrolltürme waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. In der Dunkelheit hörte er hier und dort ein leises Wimmern. Hilfe holen, war sein erster Gedanke. Er kletterte aus dem Graben, zog sein Fahrrad nach sich, sattelte auf und trat in die Pedale. Aber er kam nicht voran. Ein Hindernis lag vor seinem Vorderreifen. Karl wurde nervös, er wollte nur weg. Er drückte das Rad mit Gewalt nach vorn, aber das Hindernis war zu groß. Also stieg er ab, um es mit dem Fuß zur Seite zu kicken. Er konnte den großen Klumpen nicht genau erkennen und bückte sich. Als er seinen Kopf über den dunklen Schatten am Boden senkte, blickte er direkt in die aufgerissenen Augen des Oberkommandierenden Schneider. Sein Schädel war durch die Wucht der Bombe über hundert Meter weit geschleudert worden. Karl würgte, aber er riss sich zusammen.

Auf dem Heimweg murmelte er ununterbrochen die sieben Schwertworte des Jungvolks: „Jungvolkjungen sind hart. Jungvolkjungen sind tapfer. Jungvolkjungen sind gehorsam. Jungvolkjungen sind gerade und treu. Jungvolkjungen sind schweigsam und wahr. Jungvolkjungen sind Kameraden. Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.“ Das machte ihn ruhiger.

Jeder hatte seine Erinnerungen, aber damit musste man allein fertigwerden. Es half nichts, anderen in den Ohren zu liegen. Im Gegenteil, oft trat man mit solchen Geschichten ganze Lawinen von Kriegserinnerungen los, die man sich lieber nicht antun wollte. Eine grausamer als die andere. Auf Trost war nicht zu hoffen.

Wieder im Wohnzimmer streckte er sich auf dem Sofa vor dem Fernseher aus. Nach einer Weile kam Maggie. Sonst nahm sie meist an seinem Fußende Platz. Diesmal setzte sie sich in einen Sessel.

„Sag mal, Maggie. Gibt es eigentlich irgendetwas, das du für den Winter brauchst?

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Etwas für die Küche oder für das Haus?“

„Nein.“

„Na komm, irgendetwas wird dir doch einfallen. Eine neue Kaffeemaschine vielleicht. Da gibt es jetzt welche, die machen sogar Espresso.“

„Na, der wird den beim Italiener wohl kaum ersetzen können.“

„Oder etwas für das Bad – neue Matten vielleicht. Du wolltest doch mal auf Rot umstellen, oder?“

„Ich habe neulich im Ausverkauf rote Matten gekauft. Ich muss sie nur waschen, dann lege ich sie aus.“

„Nun mach es mir doch nicht so schwer. Sag mir einfach, womit man dir eine Freude machen kann.“

Maggie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Ich möchte einen Nerzmantel.“ Karl zog die Brauen hoch.

„Wie bitte?“

„Einen Nerzmantel“, sagte Maggie ein zweites Mal, ohne dabei ihren Blick von der Mattscheibe zu wenden oder auch nur mit der Wimper zu zucken.

„Also, findest du das nicht ein bisschen …“ Karl suchte nach dem richtigen Wort. „Unangemessen? Einfach so, einen Nerzmantel?“

„Du hast mich gefragt, womit du mir eine Freude machen kannst, und ich habe dir geantwortet.“

Ein Nerzmantel.

Zum Sonntagskrimi verzog Karl sich in sein Büro. Ihm ging die frostige Stimmung auf die Nerven. Der nette Kommissar, der ihn immer ein wenig an seinen Lehrer aus der achten Klasse, Herrn Hirschmeier, erinnerte, musste einen Mord lösen. Ein Geschäftsmann war tot in seinem Ferienhaus gefunden worden. Die Todesursache deutete zunächst auf Herzinfarkt hin, aber die Obduktion gab den Ermittlern ein Rätsel auf. Der Mann war offenbar vergiftet worden. Schleichend. Aber womit? Und von wem? Es folgte die langwierige Spurenlegung des Regisseurs: Sein Partner hätte es sein können, weil der dunklen Geschäften nachging, denen der Tote auf die Schliche gekommen war. Sein Bruder kam ebenfalls infrage, weil er mehr Anteile an der Firma forderte. Eine weitere Spur führte ins unvermeidliche Prostituiertenmilieu, in dem sich der Ermordete aufgrund seiner bisexuellen Veranlagung herumtrieb.

 

Am Ende war es seine Frau gewesen, die ihren Mann schon seit langem mit einem anderen betrog, aber nicht auf das Geld verzichten wollte.

Mitten in der Nacht erwachte Karl wegen seines Magens. Er nahm sich vor, am nächsten Tag bei der Apotheke vorbeizufahren und Tabletten zu kaufen. Etwas für die Verdauung konnte sicher nicht schaden. Als er nach einer Stunde immer noch nicht eingeschlafen war, zog er mit seinem Bettzeug in das Gästezimmer auf halber Treppe. Der Mond schien durch das schräge Fenster und erhellte den Raum. An der Schräge hing ein Poster aus Andreas Jugendzeit. „El Pueblo Unido Jamas Sera Vencido“ stand in großen schwarzen Buchstaben auf dem vergilbten Plakat. Darunter sah man einen Menschenzug – lauter schwarze Silhouetten. Andrea hatte es aus Spanien mitgebracht. Mein Gott, dieses Mädchen. Wie viel Energie hatte er in sie gesteckt. Sie war anfangs wirklich nicht die Schnellste gewesen. Manchmal saß sie da, den Mund leicht geöffnet, und schaukelte mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin. Bei diesem Anblick konnte einem angst und bange werden. Meistens genügte es, sie streng zu ermahnen, aber manchmal musste er sie regelrecht anbrüllen, damit sie aufwachte. Wenigstens kam sie in der Schule einigermaßen mit, nur fehlte ihr jeder Sinn für Logik. Er versuchte es mit Denksportaufgaben: „Bauer Huber hat sein Obst in drei Kisten einsortiert. In der einen sind nur Äpfel, in der anderen sind nur Birnen, und in der letzten sind sowohl Äpfel als auch Birnen drin. An allen drei Kisten ist jeweils ein Schild angebracht, welches den Inhalt der jeweiligen Kiste angibt. „Äpfel“ steht auf dem Schild, das an der Apfelkiste hängt, „Birnen“ steht auf dem Schild an der Birnenkiste, und „Äpfel und Birnen“ ist auf dem Schild an der Kiste mit den Äpfeln und Birnen zu lesen. Nun kommt der freche Hans und vertauscht zwei Schilder miteinander.

Wie kannst du jetzt herausbekommen, welche Früchte in welcher Kiste sind, ohne hineinzusehen? Dazu darfst du zweimal je eine Frucht aus zwei verschiedenen Kisten nehmen. Du darfst aber nicht herumwühlen und fühlen.“ Sie schaute ihn an.

„Denk nach!“

Panik in ihren Augen.

„Jetzt schalte dein Gehirn ein.“

Sie konnte einen zur Weißglut treiben.

Noch schlimmer war es mit dem räumlichen Denken. Wie oft hatte er versucht, sie mit einfachen Streichholzaufgaben zu fördern. Er legte aus zwölf Hölzern ein Quadrat, das aus vier gleich großen Quadraten bestand. Nun sollte sie drei Hölzchen so umlegen, dass drei Quadrate entstanden. Als sie nach fünf Minuten noch immer keine Lösung wusste, wischte er die Hölzchen vom Tisch.

Das musste sie von ihrer Mutter haben, die hatte es auch nicht mit der Logik. Im Gegensatz zu ihm war es Maggie ganz recht, dass Andrea keine Überfliegerin war.

„Sie muss doch kein Abitur machen, sie kann doch auch eine Lehre machen, zum Beispiel als Krankenschwester.“

„Dann heiratet sie mit achtzehn und hat mit zweiundzwanzig vier Kinder. Ist das das Schicksal, das du dir für deine Tochter wünscht?“

„Es reicht doch, wenn Susanne Karriere macht. Die hat das Talent dazu. Aber Andrea? Das kann man doch nicht erzwingen.“

Von wegen.

Er entwickelte ein straffes Programm, das seine Tochter auf Kurs halten sollte. Das wichtigste war Sport. Wer Sport trieb, kam nicht auf dumme Gedanken. Er entschied sich für Schwimmen. Natürlich hatte er nicht die Zeit, sich selbst darum zu kümmern, das war Maggies Aufgabe. Sie meldete das Mädchen im Schwimmkurs an. Damals war Andrea vielleicht neun. Zwei Mal wöchentlich am Anfang, später wurden daraus drei bis vier Trainingsstunden. Gut, sie hatte kein herausragendes Talent, aber für ein paar Regionalwettbewerbe und Urkunden reichte es. Und sie war versorgt. Nach der Grundschule hatte man ihnen geraten, Andrea auf die Realschule zu geben, aber da machte er nicht mit. Das Mädchen wurde auf dem Gymnasium angemeldet, und zu den Schwimmstunden kamen Nachhilfestunden. Keine einfache Zeit, denn Andrea wurde mit den Jahren immer eigenwilliger. Sie zog sich zurück, sprach nur wenig und las überwiegend. Er sorgte sich um ihre Entwicklung und meldete sie bei den Pfadfindern an. Erst Monate später erfuhr er, dass sie dort nie aufgetaucht war. Nun begann eine schwierige Zeit, die darin mündete, dass Karl Andrea mit sechzehn in ein Internat steckte. Von da an war der Kontakt zwischen Eltern und Tochter fast gänzlich erkaltet. Andrea hatte oft keine Lust, in den Ferien nach Hause zu kommen, und die Eltern hatten kaum Zeit, sie zu besuchen. Einmal sahen sie sich über ein Jahr nicht. Aber gut, am Ende schaffte sie ihr Abitur, und heute war sie erfolgreich an der Uni. Sie hatte eine feste Anstellung und ein gutes Auskommen. Wenn er sie nicht unterstützt hätte, wäre sie wahrscheinlich wirklich Friseuse geworden, wie Maggie vorausgesagt hatte. Gut, sie hatte immer noch ein paar Eigenarten, die ihn befremdeten. Ihr Männergeschmack, oder ihr Fimmel mit den Strichlisten. Offenbar erfasste sie das halbe Leben per Statistik. Aber was kümmerte ihn das, sie war nicht zurückgeblieben, und darauf kam es an.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Maggie Richtung Stadt, um ein paar Besorgungen zu machen. Karl hatte schlecht geschlafen. Seine Magenschmerzen wurden immer heftiger.

Auf dem Weg zur Krankengymnastik hielt er an der Apotheke. An der Ladentür stieß er mit seiner Frau zusammen.

„Was machst du denn hier?“

„Ungeziefer-Vernichtungsmittel.“

Sie hielt eine Plastikdose mit rotem Etikett in die Höhe.

„Das hätte ich dir doch auch mitbringen können.“

„Ich wusste ja nicht, dass du zur Apotheke fährst.“

„Du hättest mich ja fragen können.“

„Schon gut – mach du deine Besorgungen, ich mach meine.“

Sie ging an ihm vorbei.

„Bis nachher dann.“

Karl kaufte Tropfen gegen seine Magenschmerzen und Früchtewürfel für die Verdauung. Beides nahm er noch in der Umkleidekabine der Krankengymnastin ein. Ihn langweilten diese Stunden. Die sanfte Art der Therapeutin und die minimalistischen Übungen gingen ihm auf die Nerven. Er beschloss, nach dieser Stunde Schluss zu machen. In derselben Zeit konnte er im Fitnessstudio das Zehnfache schaffen.

Zuhause war Maggie in der Küche dabei, Kartoffeln zu zerdrücken, als er hereinkam.

„Ich habe uns Blaubeeren zum Nachtisch mitgebracht.“

„Gut, ich werde sie in den Joghurt mischen.“

Sein Blick fiel auf das Insektenschutzmittel.

„Parakill Plus“ gegen kriechende Insekten, stand auf der Dose.

„Musste es denn gleich die chemische Keule sein?“, fragte er. „Frag mich vorher. Wozu hast du einen Experten im Haus?“

„Alles andere bringt nichts“, sagte Maggie.

„Also gesund ist das nicht.“

„Soll es ja auch nicht sein.“

Maggie nahm ihm das Mittel aus der Hand. „Lass das mal meine Sorge sein.“

Sie stellte die Dose oben in den Schrank.

Nach dem Essen setzten die Magenschmerzen wieder ein. Karl nahm seine Tropfen und verzichtete auf den Nachtisch.

„Jetzt habe ich die ganzen Blaubeeren in den Joghurt gemischt.“

„Ich kann nicht mehr – iss du meinen Teil.“

„Nein, danke“, wehrte Maggie ab, als er ihr sein Glasschüsselchen rüberschob.

„Komm schon – du magst doch Blaubeeren so gern.“

„Nein.“

Maggie schob die Schüssel erneut weg.

„Ich stell ihn in den Kühlschrank. Dann kannst du ihn zum Tee oder zum Abendbrot essen. Ich bin heute Abend nicht da.“

„Wo gehst du denn hin?“

„Ich treffe mich mit Karin. Dein Essen ist schon vorbereitet.“

Sie räumte den Tisch ab, und Karl ging nach oben, um sich ein wenig hinzulegen. Er wollte Maggie nicht bei ihrem Mittagsschlaf stören und wählte wieder das Gästezimmer. Eine Wärmflasche auf dem Oberbauch sollte ihm Linderung verschaffen. Während er sich auf seinen Magen konzentrierte, schraubte sich ein Gedanke in seinen Kopf, ganz langsam, Windung für Windung.

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