Nur ein kleiner Verdacht

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Irgendwann stieg sie aus und ging zur Straßenecke. „Kornstiegstraße“ stand auf dem Schild. Sie setzte sich wieder ins Auto, ließ die Seitenscheibe runter, machte das Licht an und studierte den Plan. Nachdem sie sich den Rückweg eingeprägt hatte, lehnte sie den Kopf an die Nackenstütze und atmete tief ein. Die Luft roch nach verbranntem Laub. Maggie mochte diesen Geruch, er erinnerte sie an ihren Vater. Besonders an ihre letzte Begegnung, die sie sich immer wieder ins Gedächtnis rief:



Sie spielte auf der Straße mit einem Ball, den sie aus alten Zeitungen zusammengeschnürt hatte. Sie warf das Bündel gegen eine Hauswand und fing es wieder auf. Einmal sprang der Ball hinter sie. Sie drehte sich um, und ein großer, hagerer Mann hielt ihn ihr hin.



„Hier, fang!“, rief er und warf ihr den Ball zu. Erst da erkannte sie seine Stimme. Er sah anders aus mit seinem dunklen Vollbart. Sein Gesicht war schmal geworden und die Augen viel größer. Mit einem Freudenschrei warf sie sich in seine Arme.



„Auf den Arm kann ich dich nicht mehr nehmen, du bist ganz schön gewachsen.“ Er streichelte ihr über das Haar.



„Wo ist deine Mutter?“



„Beim Arbeitsdienst.“



Sie erklärte ihm, wo das war, und er machte sich auf den Weg. Maggie wartete mit ihrem Bruder den ganzen Nachmittag vor der Haustür. Endlich sahen sie ihre Eltern Arm in Arm die Straße entlangkommen. Der Vater lachte. Die Mutter blieb ausdruckslos. Am frühen Abend ging er mit der ganzen Familie hinter das Haus. Dort machten sie ein Feuer, ein schönes, großes, warmes Feuer aus Ästen und Herbstlaub. Der Vater hielt jedem eine Kartoffel am Stock hin. Er hatte einen ganzen Sack organisiert, was in diesen Zeiten den Himmel auf Erden bedeutete. Maggie lehnte sich an ihn, während sie in die Flammen träumte. Sie bemerkte nicht, wie sich ihr Stock entzündete. Plötzlich machte es ‚knacks’, und ihre Kartoffel landete im Feuer. Sie heulte auf und stürzte sich in die Flammen, um ihre Knolle zu retten, und dabei fing einer ihrer Zöpfe Feuer. Als Nächstes spürte sie eiskaltes Wasser auf ihrem Kopf. Dann blickte sie in die Augen ihrer Mutter, die sie tadelnd ansahen.



„Mein Mädchen.“ Die sanfte Stimme ihres Vaters holte sie zurück ins Leben.



„Keine Kartoffel der Welt ist es wert, dafür seine Zöpfe zu lassen.“



Vier Tage später fuhr der Vater zurück an die Front. Am selben Abend schnitt die Mutter ihr die Zöpfe ab. Eine Maßnahme, die Maggies Leben verändern sollte und die sie ihrer Mutter nie verziehen hatte.



Es war nicht einfach, sich in dem Wirrwarr der Stadt zurechtzufinden. Maggie brauchte fünfundvierzig Minuten für den Heimweg. Als sie zuhause ankam, war Karl noch nicht zurück.







Karl 1





Karl öffnete lautlos die Schlafzimmertür. An Maggies unregelmäßiger Atmung hörte er, dass sie nicht schlief.



Ein schmaler Lichtstrahl fiel aus dem Flur auf den Sessel neben dem Kleiderschrank. Seine Krawatten hingen über der Lehne. Maggie hatte sie nicht in den Schrank gehängt. Er zog die Tür zurück ins Schloss und ging ins Badezimmer, wo er sich die Socken von den Füßen streifte und sie in den Wäschekorb warf. Jackett, Krawatte, Hemd und Hose hängte er ausnahmsweise über den Handtuchhalter. Sein stummer Diener stand im Schlafzimmer. Die Unterwäsche landete ebenfalls im Wäschekorb. Bevor er seinen Pyjama überzog, stellte er sich auf die Waage. 82 Kilo bei 1,85 Meter Körpergröße, kein Gramm zu viel. Er betrachtete sich im Spiegel. Das Rückentraining, das er wegen seines Bandscheibenvorfalls aufgenommen hatte, hatte ihm ein paar zusätzliche Bauchmuskeln beschert, seine Arme waren ohnehin gut bestückt. Auch sein Po war für einen Anfang Sechzigjährigen einwandfrei in Form, das viele Radfahren. Er stellte sich vor die Toilette, klappte die Brille nach oben und ließ seinen kräftigen Strahl in das Wasserbecken rauschen. Danach ging er leicht in die Knie, in der Hoffnung auf einen erlösenden Furz, aber sein Darm ließ ihn im Stich.



Bevor er ins Schlafzimmer schlich, schaute er auf seine Armbanduhr: zwei Uhr morgens. Er bemühte sich, möglichst geräuschlos unter die Decke zu schlüpfen. Das Bett war frisch bezogen. Wie jeden Donnerstag. Das mochte er an Maggie. Auf sie war Verlass. Wann immer er den Kleiderschrank öffnete, stets lagen frische Unterwäsche, Socken und Hemden griffbereit. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er das jemals beanstanden musste.



Er rollte sich auf die rechte Seite, von seiner Frau abgewandt, in seine Schlafstellung. Er konnte nicht einschlafen, wenn er jemandem zugewandt lag. Heute fand er allerdings auch auf der rechten Seite keine Ruhe.



Der Abend war wie immer ausgeklungen. Nach dem Essen bei ‚Da Pasquale’ waren sie noch in

ihre

 Wohnung gefahren. Eine schöne Flasche Wein, ein nettes Schäferstündchen und zum Abschied einen doppelten Cognac und einen Espresso. Nein, Maggies Agententätigkeit hatte nichts an seiner Liebesfähigkeit geändert. Aber wie war sie ihm nur auf die Schliche gekommen? Woher hatte sie Namen und Adresse des Restaurants? Hatte er einen Fehler gemacht? Was hatte sie überhaupt dazu gebracht, ihm nachzuspionieren? Seiner Meinung nach hatte sie kein Recht, in seine Intimsphäre einzudringen.



Schließlich war er seiner Verantwortung als Familienoberhaupt immer nachgekommen. Hatte Maggie nicht ein schönes Zuhause? Kümmerte er sich nicht um die Finanzen? Was wollte sie mehr? Sollte er so ein Alters-Stoffel werden, der bei Regen einen karierten Hut aufsetzte? Dem seine Frau die Schuppen von den Schultern klopfte und der zum Rauchen vor die Tür ging? Er lag inzwischen auf dem Rücken, und seine Gedanken kreisten und kreisten. Mit jeder neuen Runde wurde er innerlich zorniger.



Stunden später, hinter den Vorhängen schimmerte bereits die Sonne, stand Maggie auf. Erleichtert drehte er sich auf die rechte Seite und versank in einen verschwitzen Morgenschlaf, aus dem er erst zwei Stunden später erwachte. Schon elf Uhr! Karl sprang aus dem Bett, öffnete das Fenster, atmete zehnmal tief durch und begann mit seinem Frühprogramm: fünfzig Kniebeugen und zwanzig Liegestütze, nein dreiundzwanzig. Die letzten drei waren die reinste Qual, aber es nützte nur etwas, wenn es schmerzte. Anschließend ging er unter die Dusche: Heiß, kalt, wieder heiß und zum Schluss noch einmal eiskalt.



Er rasierte sich elektrisch, cremte sein Gesicht mit einer Feuchtigkeitscreme und legte sein Rasierwasser auf. Er benutzte seit zwanzig Jahren dasselbe, ein leichter, würziger Duft, männlich und nicht aufdringlich. Im Schlafzimmer zog er eine beigefarbene Cordhose, ein braunes Hemd und einen leichten braunen Kaschmirpullover über.



Es war kühl geworden, der Winter kündigte sich an. Leichtfüßig sprang er die Treppe hinunter, offenbar etwas zu leichtfüßig, denn auf der vorletzten Stufe rutschte er aus und knallte mit voller Wucht auf seinen Steiß. Zwischen dem Bewusstwerden über das, was passiert war und dem einsetzenden Schmerz lagen zwei Sekunden, in denen ihm komplett die Luft wegblieb. Danach raste ihm ein Stich vom Rücken ins Gehirn. Ausgerechnet auf die Bandscheibe!



„Hilft mir vielleicht mal jemand?“, rief er in die Diele.



Nichts.



„Maggie!“



Keine Antwort.



Er wurde wütend.



„Maggie?!“



Mit äußerster Anstrengung zog Karl sich am Treppengeländer hoch. Gebeugt schlich er ins Wohnzimmer.



Der Frühstückstisch war gedeckt. Auf dem Stövchen stand die Glaskanne mit Tee, der schon ziemlich dunkel geworden war. Die Zeitung lag auf seinem Platz und obendrauf ein Zettel. Er bemühte sich, das leichte Beben seiner Hand zu ignorieren, als er das Papier nahm, um die Nachricht zu lesen. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Mit der rechten Hand setzte er seine Brille auf. In der linken hielt er Maggies Zettel:



„Bin auf dem Markt. Komme zum Mittag zurück. Maggie“



Alles eigentlich normal, obwohl – das obligatorische Herzchen fehlte unter Maggies verschnörkelter Mädchenschrift. Er nahm Platz. Langsam ließen die Schmerzen nach, und die Spannung kehrte in seinen Körper zurück. Der Tee schmeckte bitter, und in der Zeitung stand nichts Neues. Es wurde kein langes Frühstück, und als er fertig war, konnte er sich nicht entscheiden, ob er abräumen oder alles stehen lassen sollte. Dies war eine Ausnahmesituation. In den letzten dreißig Jahren hatte Maggie bei keinem Frühstück gefehlt. Er entschied sich schließlich, die Lebensmittel wegzuräumen, aber was kam wo hinein? Er öffnete die verschiedene Tupperware, um sich zu orientieren. Maggie hatte ihre eigene Ordnung, Frauen waren in diesem Punkt empfindlich. Seine Mutter konnte es auch nicht leiden, wenn jemand ihr etwas durcheinanderbrachte. Sie war, wie Maggie, eine perfekte Hausfrau gewesen. Selbst in den schlechtesten Zeiten hatte sie zum Essen ein Tischtuch unter und Stoffservietten in Silberringen neben die Teller gelegt. „Nur, weil wir nichts zu essen haben, heißt das noch lange nicht, dass wir unsere Manieren ablegen.“ Seine Mutter hatte Stil gehabt. Zumindest in Haushaltsdingen.



Karl ließ sich Zeit beim Abräumen. Wahrscheinlich würde Maggie gleich zurückkommen und den Rest übernehmen.



Aber sie kam nicht. Unschlüssig trug er die Teetassen in die Küche, dann reichte es ihm. Wie würde sie auf gestern Abend reagieren? Würde sie ihn anschreien, ihm Vorwürfe machen? Ihn der Untreue bezichtigen? Das wäre lächerlich. Sie hatte doch selber kein Interesse mehr an Sex. Als sie noch jung war, hatte er sie begehrt. Ihre Scheu hatte ihn verrückt gemacht, er wollte sie besitzen. Sie hatte ihm willig nachgegeben, aber er hatte nie das Gefühl, dass Sex ihr wirklich etwas bedeutete. Nach den ersten aufregenden Jahren war die Luft bei beiden raus. Sie pendelten sich auf ein Minimum ein. Er machte andere, neue Erfahrungen und interpretierte ihre spröde Art nicht länger als Verheißung, sondern schlicht als Verklemmtheit. Vielleicht war sie sogar frigide. Wie sagte sein Freund Theo immer: „Auch verschlossene Schränke können leer sein.“

 



Aber er war ein Mann, er brauchte Sex. Erst kürzlich hatte er im Wissenschaftsteil der Tageszeitung einen Artikel über die Unterschiede von Männern und Frauen in puncto Fortpflanzung gelesen. Danach hatten Männer den Urinstinkt, ihr Erbgut so breit wie möglich zu streuen. Frauen hingegen wollten sich binden, um den Nachwuchs gut versorgt zu wissen. Wie war noch die Überschrift gewesen? „Männer sind Jäger – Frauen Sammler.“



Außerdem hatten Frauen ohnehin nur in den ersten Monaten des Kennenlernens Interesse an Sex. Es sei denn, man hielt sie auf Distanz.



Das Telefon schrillte ihn aus seinen Überlegungen.



„Hallo Papa, hier ist Andrea.“



„Andrea.“



„Ihr solltet mich doch zurückrufen.“



„Sollten wir? Davon wusste ich nichts.“



„Ich habe schon vor drei Tagen angerufen und Mama gesagt, sie soll mich zurückrufen.“



„Also mir hat sie nichts davon gesagt. Was ist denn so wichtig?“



Im Hintergrund hörte Karl das Garagentor aufgehen.



„Es ist ein Junge.“



„Was?“



„Euer Enkel. Es ist ein Junge. Ich dachte, das interessiert euch.“



Mein Gott, er wurde ja Opa! Das hatte er ganz vergessen. Maggie kam mit ihrem geflochtenen Einkaufskorb in die Diele. Karl hielt den Hörer hoch und rief:



„Es wird ein Junge, Maggie. Unser Enkel wird ein Junge.“



Maggie verzog keine Miene.



„Nun, deine Mutter nimmt diese Nachricht mit der ihr eigenen Gelassenheit auf“, sagte Karl in den Hörer. „Aber ich bin sicher, sie freut sich genauso wie ich. Nicht wahr, Maggie?“



Karl verlieh seiner Stimme ein wenig Nachdruck.



„Natürlich“, sagte Maggie und ging mit den Einkäufen in die Küche.



„Wie geht es denn der werdenden Mutter?“, fragte Karl.



„Alles bestens“, antwortete seine Tochter. „Ich frage mich nur, wann ich platze.“



Karl lachte laut.



„Und? Wann lernen wir den Vater kennen?“



„Hör auf, Papa.“



„Man wird ja wohl noch fragen dürfen.“



„Aber nicht hundert Mal dasselbe.“



„Also komm, hundert Mal. Du musst zugeben, dass es für einen Vater seltsam ist, wenn seine Tochter keinen Mann zu ihrem Kind hat.“



„Papa, vergiss es.“



„Zahlt er wenigstens Unterhalt?“



Schweigen.



„Aha, ins Schwarze getroffen! Lässt dich also einfach sitzen, der Kerl, oder was? So ein Versager. So was hätte ich nie getan.“



Schweigen.



„Wer ein Kind in die Welt setzt, muss auch die Verantwortung dafür übernehmen …“



„Er hat mich nicht verlassen.“



„Dann hast du ihn also rausgeworfen. Was war los mit ihm? Hat er Drogen genommen? Arbeitslos? Als ich mit deiner Mutter von drüben gekommen bin, hatten wir nichts. Kein Geld, kein Dach über dem Kopf, keine Eltern, die uns unterstützt haben, und ich hatte trotzdem keine Angst und habe mich nicht vor der Verantwortung gedrückt. Weil ich nämlich zwei Hände hatte, mit denen ich arbeiten konnte.“



„Ja. Du hast immer alles richtig gemacht. Das wissen wir doch.“



Hörte er da Spott?



„Stimmt doch.“



„Träum weiter, Papa. Bis bald.“



„Bis bald.“



Ganz schön frech, die Kleine. Aber so waren die Kinder. Sie mussten sich gegen alles sträuben, was aus dem Elternhaus kam, außer – Karl seufzte bei dieser Einsicht – außer es handelte sich um Geld.



„Na, dann bekommst du ja doch noch deinen Jungen“, sagte Maggie spitz, als er die Küche betrat. Karl registrierte nebenbei, dass sie dabei war, Möhren zu schälen. Es würde also Eintopf geben. Wie jeden Samstag.



„Wieso ich? Du wolltest doch unbedingt einen Jungen haben“, gab er zurück.



„Ich? Wer hat denn den Hörer aufgelegt, als das Krankenhaus anrief und sagte, es sei ein Mädchen?“



„Den Hörer aufgelegt? Wir hatten damals doch noch gar kein Telefon!“



„Ach. Und wie hast du dann überhaupt erfahren, dass Andreas eine Andrea war?“



„Ich habe in der Klinik gewartet.“



„Karl.“ Maggies Stimme hatte jetzt dieses unterdrückte Pressen, das ihr den nötigen Ernst verleihen sollte. „Du hast bei keiner der Geburten in der Klinik gewartet. Du hast dich schlafen gelegt.“



„Natürlich war ich in der Klinik. Ich weiß sogar noch den Namen der Schwester. Lucinde hieß sie.“



„Schwester Lucinde, ja, das war die Schwester in der Kinderklinik, in der Andrea dann lag.“



„In der du sie über zwei Monate lang nie besucht hast.“



„Weil ich krank war, ein Kleinkind hatte und du immer das Auto zur Arbeit mitgenommen hast.“



„Du hattest ja überhaupt keinen Führerschein. Wenn ich dir nicht das Fahren beigebracht hätte, würdest du heute noch zu Fuß gehen.“



Maggie schwieg.



„Was gibt es zu essen?“, fragte er.



„Möhreneintopf.“



„Ruf mich, wenn wir essen können. Ich bin solange in meinem Büro.“



Nachdem Karl die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, versuchte er, Witterung aufzunehmen. Was hatte Maggie auf die Spur gebracht? Auf den ersten Blick war nichts verändert. Er nahm den Hörer vom Telefon und drückte die Wahlwiederholungstaste. 0. Das hatte er also nicht vergessen. Vorsichtig hob er die Schreibtischunterlage an. Alle Rechnungen lagen genau dort, wo er sie hinterlassen hatte. Karl hatte ein fotografisches Gedächtnis. Die Restaurantrechnungen waren nach Datum sortiert. Allerdings: Maggie war ebenfalls sehr genau. So leicht würde ihr kein Fehler unterlaufen. Er öffnete die Schubladen, alles unverändert. Er zog einen Stapel Unterlagen heraus und blätterte sie durch. Sie lagen in der Reihenfolge, an die er sich erinnerte. Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Das Foto hinter dem New York Bild! Er hatte es hinten im Rahmen versteckt. Es zeigte ihn und Jutta auf einer kleinen Yacht auf dem Comer See. Hier verbrachten sie jedes Frühjahr zwei „Kuschelwochen“, wie Jutta es nannte. „Ti amo“, unterschrieben mit „Kleines“, stand in großen, selbstbewussten schwarzen Buchstaben hinten drauf. Es musste am Anfang ihrer Beziehung, also Ende der Siebzigerjahre, aufgenommen worden sein. Karl hatte Jutta auf einer Geschäftsreise kennengelernt, genauer gesagt im Flugzeug. Er kam von einem Kongress in Vancouver, auf dem er eine Rede über die damals neueste Generation von Anti-Depressiva halten musste. Der reinste Horror. Erst der lange Hinflug mit drei Stunden Verspätung, dann konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Das Hotel lag direkt neben einer Großbäckerei, in der ab vier Uhr die Öfen auf Hochtouren brummten und ab fünf die Laster zum Ausliefern an- beziehungsweise abfuhren. Dazu der Jetlag. Er suchte Hilfe in der Minibar, aber auch das brachte nicht die gewünschte Nachtruhe. Die Rede am nächsten Vormittag hatte er schließlich mit zwei Wodkas über die Bühne gekriegt. Glücklicherweise gehörte ein harter Drink am Morgen damals noch zur Tagesordnung. Danach blieben sie noch zwei Tage in der Stadt, aber auch der Rest der Reise verlief mehr als unerfreulich: Auf den Straßen lagen Berge von Schnee, überall herrschte Chaos. An Vergnügen war unter diesen Umständen nicht zu denken, zumal Karls junger Begleiter, ein Forschungsassistent aus der Serologie namens Jens Schöneich, sich als Kulturbesessener entpuppte, der in seiner Freizeit ein Museum nach dem anderen abklapperte. Wenn Karl mit seinem Teamkollegen Rolf unterwegs war, ließen sie es richtig krachen. Rolf war ebenfalls verheiratet und hatte ähnliche Vorstellungen von einem gelungenen Geschäftstrip wie Karl. Aber dieses Mal war an so etwas nicht zu denken. Herr Schöneich war seit einem Jahr verheiratet und erwartete sein erstes Kind.



„Wer weiß, wie lange ich dann aussetzen muss“, sagte er augenzwinkernd zu Karl, als er am letzten Tag wieder zu einem seiner Museumsmarathons aufbrach. „Mein Junge“, sagte Karl. „Wenn Sie eine Ahnung davon hätten, wie lange Sie mit anderen Dingen aussetzen müssen, würden Sie sich nicht mit fleischloser Kunst beschäftigen.“



Herr Schöneich machte nicht den Eindruck, als hätte er verstanden, worauf Karl anspielte.



„Also dann, bis nachher.“



Ein halbes Jahr später, bei einem Abteilungsempfang, kam Herr Schöneich leicht betrunken auf Karl zu und legte ihm die Hand auf den Arm. „Herr Nienstetten, hätten Sie nicht mal wieder eine Auslandsreise für mich?“



„Wohl länger nicht zum Zuge gekommen, was?“



„Kann man so sagen“, stöhnte Herr Schöneich.



„Tja, das hätte ich Ihnen gleich sagen können. Wenn erst das erste Kind auf der Welt ist, hat der Spaß ein Ende.“



Er verschaffte Herrn Schöneich einen Kongress in Thailand, aber für diesen Mann gab es keine Rettung. Er kehrte mit einer hübschen Thailänderin zurück, reichte die Scheidung ein und heiratete erneut. Er kapierte nicht, dass eine Ehe eine Sache und Spaß eine andere Sache waren.



Nachdem er sich auf seinen kleinen erfolglosen Streifzügen durch Vancouver auch sein zweites Paar Schuhe gänzlich ruiniert hatte, verbrachte er die letzten zwölf Stunden bis zu seinem Rückflug in seinem Hotelzimmer. Er zappte durch die Fernsehprogramme, schaute sich ein, zwei Bezahlfilme an, aber seine Stimmung blieb auf dem Niveau des Wetters. Und der süßliche Duft, der aus der Bäckerei über die surrende Klimaanlage in sein Zimmer drang, machte die Sache nur noch unerträglicher.



Wie erlöst sank er in die weichen Polster der Businessklasse der Lufthansa. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Aber der Geruch von Gebäck verfolgte ihn immer noch.



„Darf es etwas zu Knabbern sein“, fragte eine freundliche Stimme. Karl schlug die Augen auf und schaute direkt in ein Körbchen mit kleinen Brötchen.



„Ganz frisch gebacken“, warb die Stimme.



„Nein, danke“, sagte Karl und unterdrückte ein Würgen. „Haben Sie auch etwas Schärferes?“



„Zum Essen oder zum Trinken?“



Karl schaute auf und blickte in die strahlendsten blauen Augen, die er je gesehen hatte.



„Wenn Sie mich so fragen“, sagte er, „am liebsten zum Anfassen.“



Die Stewardess lachte. „Wie wäre es damit?“, fragte sie und hielt ihm ein warmes Frotteetuch hin. „Ist zwar nicht scharf, aber fasst sich gut an.“



Karl nahm das Tuch und wischte sich Hände und Gesicht ab. „Sie bringen mich ganz schön ins Schwitzen.“



„Kleine Abkühlung gefällig?“



„Einen Wodka, bitte.“



„Kommt sofort.“



Sie war deutlich jünger als er, vielleicht Ende zwanzig. Ihr blondes Haar war am Hinterkopf mit einer breiten Spange zusammengefasst. Karl fragte sich, wie es wohl offen aussah. An der Art, wie sie ihren prächtigen Hintern in Richtung Kabine bewegte, vermutete er ein leichtes Spiel. Sie war kokett. An ihrem Finger war kein Ring. Wahrscheinlich war sie nicht einmal gebunden. Zu viel unterwegs.



„Wo leben Sie?“, wollte er wissen, als sie ihm den Wodka auf Eis eingoss.



„In der Luft, zumindest die meiste Zeit.“



„Harter Job?“



„Mir macht es Spaß. Man sieht viel von der Welt.“



„Wenig Freunde.“



„Es geht.“



„Keinen Mann.“



„Im Moment nicht.“



„Und wie lange wollen Sie sich diesen Stress noch zumuten?“



„Bis mich jemand zur Landung zwingt.“



Der Rest war leichtes Spiel für Roger Rabbit. Er erkundigte sich bei der Lufthansa nach ihren Flügen und holte sie, wann immer sie in der Stadt war, vom Flughafen ab. Er mochte sie. Sie war unkompliziert, leicht zu begeistern und lachte gern. Eine Eigenschaft, die er bei Maggie stets vermisst hatte. Und: Sie hatte Spaß am Sex. Er begehrte sie, und sie genoss es. Sie liebte ihren Beruf und war viel unterwegs. Am Anfang war er ihr ab und zu nachgeflogen, und sie hatten ein paar Tage im Ausland verbracht. Doch auf Dauer sehnten sich beide nach ruhigeren Stunden. Er kaufte ihr eine Wohnung, sie wechselte auf kürzere Tages- beziehungsweise Wochenendschichten. Die ganze Geschichte spielte sich ein. Zweimal im Jahr fuhren sie für 14 Tage in den Urlaub. Das hatte sie gefordert.



„Ich will nicht jeden Morgen alleine aufwachen.“



Er musste das akzeptieren. Er hatte all die Jahre Dienstreisen unternommen, da fiel die eine oder andere zusätzliche nicht auf. Jutta wusste von Anfang an, dass er eine Frau für gewisse Stunden suchte und keine neue Ehefrau. Das hatte er gleich klargestellt, und sie verstand es. Alles war unkompliziert und wunderbar aufeinander abgestimmt.



Bis heute. Besser gesagt bis gestern Abend.

 



Karl steckte die Fotografie in den Rahmen hinter das Bild zurück und hängte es auf. Nein, wenn Maggie das Foto gefunden hätte, hätte sie es sicher an sich genommen, als Beweisstück. Er hatte nicht die geringste Idee, wie sie ihm auf die Schliche gekommen war, aber der Gedanke, dass sie in seinem Büro geschnüffelt hatte, machte ihn wütend.



Von nun an würde er abschließen.



Sein Magen knurrte.



„Gibt es heute nichts zu essen?“



„Doch, natürlich. In fünf Minuten.“



„Seit wann dauert es denn so lange, Möhrensuppe zu kochen?“



„Es dauert nicht länger als sonst, ich habe nur später angefangen.“



„Ich sterbe vor Hunger.“



„Ich tue, was ich kann“, sagte Maggie. Er war noch nicht ganz draußen, als er sie murmeln hörte: „Wenn es dir nicht gefällt …“



Karl drehte sich um. “Wie bitte?“



„Nichts …“



„Sag es ruhig!“



„Ich sagte doch, nichts“, murmelte Maggie.



„Was, wenn es mir nicht gefällt?“



„Schon gut.“ Maggie schaltete den Herd aus und füllte die Suppe in die weiße Suppenschüssel.



„Ich habe doch gar nichts gesagt.“



„Natürlich nicht. Du sagst ja nie etwas. Du deutest immer nur an. Das kennen wir ja schon.“



Schweigend löffelten sie ihre Suppe. Er schaute zu ihr hinüber. Sie starrte auf ihren Teller. Ihre Augen sahen müde aus. Nach einer Weile legte sich seine Nervosität.



„Wollen wir morgen um die Talsperre wandern?“



„Nein, lieber nicht. Ich habe Kopfschmerzen, und der Wind zieht so an den Schläfen.“



Man hörte nichts, außer dem leisen Surren der Waschmaschine im Keller.



„Ein kleiner Stadtbummel?“



„Nein, lass. Ich möchte am liebsten gar nichts unternehmen. Ich habe keine Lust. Geh’ doch alleine los.“



Karl faltete seine Serviette und legte sie neben seinen Teller.



„Ich gehe dann mal.“



„Bis dann.“



Sie fragte nicht, wohin er ging.



Karl nahm alle Kraft zusammen und trat zum neunzehnten Mal die Beinpresse – einmal noch, dann hätte er einen neuen Rekord aufgestellt. Er keuchte, als er die fünfzig Kilo Gewicht langsam zurücksinken ließ. Geschafft! Seine Beine zitterten leicht. Das waren zehn Kilo mehr gewesen als sonst.



„Na, Karl, heute gut in Form, was?“, fragte der Trainer.



„Bestens, mein Lieber“, antwortete er. „Bestens. Wollen Sie mal fühlen?“ Er spannte seinen Oberschenkel an und ließ Gerd darauf boxen.



„Nicht schlecht.“



„Nicht schlecht? Hören Sie mal, Sie junger Spund, ich bin fitter als die meisten hier im Studio.“



„Ich frage mich, warum Sie sich so quälen. Die meisten in Menschen Ihrem Alter kommen hierher, um sich fit zu halten, aber bei Ihnen könnte man meinen, Sie möchten bei der nächsten Olympiade antreten.“



„Vielleicht will ich das ja!“



Gerd lachte. „Dann sind sie aber vierzig Jahre zu spät dran.“



„Gerd, sagen Sie nie, dass es zu spät ist.“



Gerd klopfte ihm grinsend auf die Schulter, aber Karl war verstimmt. Natürlich wollte er nicht an der Olympiade teilnehmen. So ein Blödsinn. Er war eben ehrgeizig.



Er packte sein Handtuch und ging zu den Duschen.



„Tschüss.“



„Keinen Vitamindrink heute?“



„Nein, mir drückt der Magen etwas.“



„War vielleicht doch ein bisschen viel heute!“



Den Magenbitter, den Karl sich zuhause einschenkte, stürzte er in einem Zug hinunter. Maggie rumorte in der Waschküche. Als er ins Haus gekommen war, war sie mit einem Wäschekorb an ihm vorbeigehuscht, mit einem kurzen, blicklosen Gruß.



Das Abendbrot verlief zunächst ebenso schweigsam wie das Mittagessen. Wenigstens hatte Maggie diesmal pünktlich serviert. Nach dem zehnten Bissen versuchte er wieder, die Stimmung ein wenig aufzulockern. „Ist doch eine komische Vorstellung, dass wir bald Großeltern werden, findest du nicht?“



„Ich weiß nicht.“



„Also, ich will auf keinen Fall ‚Opa’ oder ‚Großvater’ genannt werden. Er kann uns ja beim Vornamen nennen. Das machen ja sogar manche Kinder heutzutage.“



„Hm.“



„Aber diese Geschichte mit dem Vater ist wirklich eine Zumutung. Wir hätten ihn längst einmal kennenlernen müssen. Da stimmt was nicht. Vielleicht weiß sie selbst nicht, wer es ist.“



„Oder es ist ihr peinlich.“



„Hoffentlich ist es nicht wieder so ein Hänfling wie dieser eine damals, wie hieß er noch? Den sie von ihrem Spanienurlaub mitgebracht hat.“



„Enrique.“



„Stimmt. Weißt du noch, wie der in den Knien eingeknickt ist, als er mir die Tanne durch den Garten tragen sollte? Einfach zusammengesackt. Mitten auf deinem frisch angelegten Tulpenbeet. So ein Trottel.“



Maggie lächelte.



„Und dieser Johann, oder wie hieß er noch?“



„Joseph“, sagte Maggie.



„Noch schlimmer. Erzählt uns was von Möbelbauer, und was stellt sich raus? Führt das Sarggeschäft seines Onkels.“



„Immerhin hat er uns einen guten Preis für die Bestattung von Tante Emma gemacht“, wandte Maggie ein.



„Und dann war da noch dieser komische Vogel mit diesen grauenhaft gestreiften Hosen – was war der noch, Clown?“



„Zauberer.“



„Dann eben Zauberer, wo ist da der Unterschied? Mein Gott, war das eine peinliche Nummer, als er an meinem Fünfzigsten diese Tricks aufgeführt hat.“



„Hoffentlich ist es kein Türke“, bemerkte Maggie.



„Hat sie etwas in diese Richtung angedeutet?“



„Ach, wo denkst du hin. Mit mir redet sie doch sowieso nicht richtig. Es war nur eine Idee. Passen würde es jedenfalls.“



Sie verfielen wieder in Schweigen.



„Ich gehe heute früh ins Bett“, sagte Maggie und begann abzuräumen.



Karl schaute noch eine Weile Fernsehen. DDR, immer nur die DDR. Alles drehte sich um die Montagsdemonstrationen. Klar, dass die Menschen dort drüben raus wollten, endlich reisen, etwas von der Welt sehen. Aber was waren das für Leute? Diese Menschen hatten sich über vierzig Jahre die totale Kontrolle gefallen lassen. Sie hatten nie den Mund aufgemacht, stattdessen haben sie hingenommen, stundenlang vor Geschäften anzustehen, um einen Liter Milch zu ergattern. Konnte man die hier in der Bundesrepublik gebrauchen? Wofür denn?



„Am Ende“, hatte er erst neulich zu Maggie gesagt, „wollen sie die Wiedervereinigung und verlangen noch Rente und Arbeitslosengeld, obwohl sie keinen Pfennig in unsere Kassen eingezahlt haben!“



Hier im Westen brauchte man Macher, solche, die anzupacken wussten, die sich etwas trauten und Eigeninitiative zeigten. Als er damals aus dem Osten gekommen war, hatte er sogar das Begrüßungsgeld ausgeschlagen. Er wollte es aus eigener Kraft schaffen. In der DDR hätten ihn keine zehn Pferde gehalten.



Dort konnte man keinen Blumentopf gewinnen, das wurde ihm nach seinem ersten Ungarnbesuch mit dem VEB Pharmazie bewusst.



Zusammen mit einigen Kollegen sollten sie sich die dortigen Forschungslabore ansehen. Nach dem abendlichen Bankett war er mit einer etwas reiferen ungarischen Kollegin nach Hause gegangen. Sie hatte schon bei Tisch ihr Knie an seins gedrückt, und als er sie ansah, lachte sie ihn mit ihrem runden, rotwangigen Gesicht an.



„Bist hübsches Junge.“



„Danke – Sie sind auch eine sehr schöne Frau.“



Sie lachte noch lauter.



„Nix schöne Frau, bald vierzig. Aber so allein.“



Sie schlug die Augen nieder, als würde sie gleich weinen.



Jetzt lachte er.



„Brauchen Sie Hilfe?“



„Ja, brauche ich Hilfe. Brauche ich jungen Mann für Reparatur in Haus.“



„Bald?“



„Heute noch.“



Sie verabredeten sich vor der Tür, und eine halbe Stunde später zog der junge Karl mit einer rundlichen Ungarin namens Ewa durch die dunklen Straßen von Budapest. Schon an der nächsten Ecke drängte sie ihn in einen Hauseingang und versuchte, ihn zu küssen. Aber er wehrte sie ab. „Moment mal. So herum geht das nicht.“



Er nahm sie bei den Schultern, drückt

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