Freiheit und ihre Dialektik

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II Kritische Theorie und Kritik der Philosophie
II.1 Die Kritik idealistischer Dialektik

»Die Kritik der bestehenden Philosophie plädiert nicht für das Verschwinden von Philosophie oder gar ihren Ersatz durch Einzeldisziplinen wie die Sozialwissenschaft. Sie möchte formal und material eben jener Gestalt geistiger Freiheit helfen, die in den herrschenden philosophischen Richtungen keine Stelle hat.«22

Der Hegel’sche Idealismus und sein Fortleben waren für Horkheimer und Adorno, die die kritische Theorie der Gesellschaft ausgehend von und aufbauend auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie weiterentwickeln wollten, Teil des Gegenstandes der Kritik der kapitalistischen Gesellschaft. Die Hegel’sche Philosophie wird ihrem Anspruch, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen23, nicht gerecht, sondern dient zum »Kitt«24 der in sich widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Daher ist die Kritik solcher Philosophie nicht der Kritik der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft äußerlich, sondern Kritik eines Bestandteils dieser Gesellschaft und mithin, da philosophische Kritik die Gesellschaft ihrer Zeit in Gedanken soll erfassen können, immanente Kritik. So kann gezeigt werden, wie dieser »Kitt« funktioniert und zugleich, welche gesellschaftliche Grundlage er hat.

Mit Hegel hat Philosophie »die höchste Erhebung philosophischer Spekulation« erreicht, weshalb es gerade für einen ›Dialektiker‹ von zentraler Bedeutung sei, »die Differenz von Hegel« auszusprechen. Adorno und Horkheimer zeigen, dass die Hegel’sche Philosophie – und damit traditionelle Philosophie – heute Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet, was sie nicht als besonderes Problem der Philosophie Hegels ansehen, sondern Philosophie als Philosophie betrifft: »Der Totalitätsanspruch der traditionellen Philosophie, kulminierend in der These von der Vernünftigkeit des Wirklichen, ist nicht zu trennen von Apologetik. Die aber ist absurd geworden. Philosophie, die sich noch total, als System aufwürfe, würde zum Wahnsystem.«25 Da Systemphilosophie zur absurden Apologetik geworden ist, ist die Kritik idealistischer Motive in der Philosophie genuiner Bestandteil einer kritischen Theorie der Gesellschaft.

Eine solche Kritik idealistischer Philosophie kann nicht in abstrakter, methodischer Weise Form und Inhalt trennen, wie es u. a. Marc Nicolas Sommer in Das Konzept einer negativen Dialektik unternimmt. Sommers methodische Auslegung wird hier exemplarisch kurz diskutiert.

Sommer selbst räumt ein, dass ein solches Vorgehen »dem Wesen der Dialektik« widerspreche26 und die Trennung von Methode und Inhalt den Einsichten Hegels und Adornos, welche Sommer in seinem Buch über die Negative Dialektik vergleicht, zuwider sei. »Deshalb darf die formale Rekonstruktion der Dialektik nur als die eine Hälfte der Aufgabe angesehen werden; in einem zweiten Schritt sind dann diejenigen inhaltlichen Momente zu rekonstruieren, ohne die das Konzept einer negativen Dialektik nicht gedacht werden kann.«27 Dafür, dass »Adorno keine Anleitung zur Dialektik geschrieben hat, sondern immer nur dialektisch geschrieben hat«28, wie auch Marx keine Methode einer nicht-idealistischen Dialektik für sich allein darbietet, sondern diese in der Kritik der politischen Ökonomie aus- und durchführt, gibt es einen Grund in der Sache: Negative Dialektik ist die Kritik an der gegen das Material verselbstständigten Methode und kritisiert gerade das systematische Hinweggehen idealistischer Philosophie über das Material. Sie kann daher auch nicht in einem ersten Schritt von ihrem Gegenstand abstrahierend rein dargestellt werden, um dann als Methode angewandt zu werden. »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.«29 Adorno kritisiert, dass idealistische Philosophie mit Hegel gerade beim Einzelnen, Besonderen ihr »Desinteresse« bekundet, und zeigt, dass sich der dialektische Gedanke nur am jeweiligen Gegenstand entwickeln lässt.30 – Gerade dies macht idealistische Dialektik zu einer affirmativen Philosophie und ist der Grund dafür, warum es einer kritischen Philosophie nicht möglich ist, die Methode einer negativen Dialektik formal und gesondert von ihrem Gegenstand herauszupräparieren, was Adorno immer wieder hervorhebt: »Daß Dialektik keine von ihrem Gegenstand unabhängige Methode ist, verhindert ihre Darstellung als ein Für sich, wie das deduktive System sie gestattet.«31 In der Vorrede zur Negativen Dialektik betont Adorno, dass er nicht zuerst eine ›Philosophie‹ erarbeitet habe, die dann anzuwenden sei, sondern dass die Kritik einer vorausgesetzten philosophischen Grundlage für sein Arbeiten wesentlich sei: »Was, nach der herrschenden Vorstellung von Philosophie, Grundlage wäre, entwickelt der Autor erst, nachdem er längst vieles ausgeführt hat, wovon jene Vorstellung annimmt, es erhebe sich auf einer Grundlage. Das impliziert ebenso Kritik am Grundlagenbegriff, wie den Primat inhaltlichen Denkens.«32

Sommer beschließt seine Studie über die Dialektik Adornos und Hegels mit der Feststellung, dass »negative Dialektik eine genuine und in sich kohärente Gestalt dialektischen Denkens ist.«33 Trotz einiger zweifelhafter Argumente und begrifflicher Vorentscheidungen stelle »sich negative Dialektik in der Totale als ein schlüssiges und stringentes Konzept dar, das sich die Vorwürfe der Aporetik und der Sterilität nicht ohne Weiteres gefallen lassen muss.«34 Da festgestellt wurde, dass negative Dialektik konsistent denkbar sei, schließe sich aber die Frage an, ob sie einen Platz neben anderen Methoden oder Ausrichtungen der Philosophie beanspruchen kann: »Konzidieren wir aber, dass Philosophie nicht notwendig negative Dialektik sein muss, so ist damit noch nicht gesagt, dass negative Dialektik nicht ihren Platz im philosophischen Diskurs der Gegenwart einnehmen kann.«35 In dem Aufsatz Was ist kritische Theorie? stellt Sommer negative Dialektik als Selbstreflexion des Denkens dar, als ein Denken, das gegen sich selbst denkt und dadurch kritisch im Sinne der kritischen Theorie sei. »Um nicht in ihrer als Allmacht verkannten Ohnmacht zu verharren, muss die Vernunft auf ihre Ohnmacht reflektieren. Das ist die ihr verbliebene Möglichkeit, ihrer Verwirklichung zuzuarbeiten.«36 Hierin erkennt Sommer einen Schritt, den kritische Theorie über die Hegel’sche Dialektik hinausgegangen sei, und damit dasjenige, wodurch kritische Theorie zu bestimmen sei.

Diese Schlussfolgerung Sommers, die er aus seiner umfangreichen und detaillierten Studie zieht, ordnet die negative Dialektik gleichsam methodisch ein und attestiert dieser Methode, dass sie nicht unmöglich sei, womit sie eine mögliche Alternative neben anderen philosophischen Ansätzen darstelle. Ähnlich argumentiert bspw. auch Wesche, wenn er in Bezug auf die Dialektik in Adornos Werk festhält: »In der Theoriebildung steht man hier quasi vor einer Weggabelung, wo zu entscheiden ist, welche Richtung man einschlagen will.«37 Solche philosophischen Darstellungen der Kritik Adornos reihen negative Dialektik relativistisch in verschiedene mögliche philosophische Richtungen ein, aus denen eine wählbar sei, womit schon jeglicher Anspruch auf Wahrheit preisgegeben wird und der philosophiegeschichtliche Zusammenhang von Theorien missachtet wird.

Adorno dagegen hielt gerade an einem Philosophen wie Kant hoch, dass dessen Texte Aporien aufweisen, und zeigte daran die Notwendigkeit einer negativen Dialektik auf. Will Philosophie sich nicht bloß abstrakt negieren, was geradewegs in den Positivismus führt38, der seinerseits metaphysisch wird, so muss sie durch ihre Selbstkritik in materialistische, negative Dialektik übergehen. »Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren.«39 Negative Dialektik ist gerade deshalb und dadurch keine philosophische Methode, die neben anderen möglichen Ansätzen zur Bestimmung des Wesens der bürgerlichen Gesellschaft und des ›Zeitgeistes‹ steht, sondern buchstabiert die Frage aus, ob Philosophie noch möglich ist und wozu sie als Kritik nötig ist. Adornos Antwort darauf ist, dass Philosophie, wenn sie angesichts ihres Scheiterns noch möglich und nötig ist, nur als negative Dialektik möglich ist, welche keine Methode neben anderen darstellt, sondern als Kritik der Gesellschaft und der Philosophie nur kritisch an die fortgeschrittenste Form der Philosophie anschließen kann.40 Negative Dialektik ist zugleich Selbstkritik der Philosophie. Die Hegel’sche Aufhebung der Philosophie in der Wirklichkeit hat sich als trügerisch erwiesen. Das Versprechen der Philosophie, die philosophischen Ideen in der bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen, wurde ›gebrochen‹ erfüllt. Dennoch bleibt der Anspruch der Philosophie bestehen, ›ihre Zeit in Gedanken zu erfassen‹ und Gesellschaft zu erklären. Daher muss nicht nur die Gesellschaft, sondern mit ihr auch die Philosophie dieser Gesellschaft »rücksichtslos« kritisiert werden – und das ist, nach Adorno, die Aufgabe von Philosophie.

Die Marx’sche Kritik des Kapitalismus ist unverzichtbare Grundlage einer solchen ›rücksichtslosen Kritik‹. Die Kritik am idealistischen System und zugleich der Bezug eines solchen philosophischen Idealismus auf seine gesellschaftliche Grundlage wurden in der Kritik der politischen Ökonomie ausgeführt. »Man könnte demnach sagen, daß das Marxische System ein negatives System ist, oder daß es ein kritisches System, eine durchaus kritische Theorie ist.«41 Marx zeigt, dass die kapitalistische Welt ›System‹42 ist, aber dass gerade dieses System ›das Unwahre‹ ist. Indem Marx den Systemcharakter von Nationalökonomie und Hegel’scher Philosophie ernst nimmt und in seiner Kritik nicht verwirft, sondern beim Wort nimmt, kristallisiere, so Adorno, sich gerade das Materialistische heraus und der »Systemcharakter von Marx [habe; S. H.] eben jenen eigentümlichen ironischen und gebrochenen Charakter«.43 Adorno hebt als dasjenige der Marx’schen Gesellschaftstheorie, worin sie ›kritische Theorie‹ ist, hervor, »daß eben die gesamten Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft […], also mit anderen Worten: das gesamte System, das er entwickelte, nicht etwa ein System des Absoluten oder der Wahrheit sein soll, sondern daß er in der Tat zeigen will, daß das Ganze […], dieses System das Unwahre ist, und es infolgedessen eine vollkommene Perversion ist, wenn man nun aus dem sogenannten dialektischen Materialismus im Namen von Diamat so etwas wie ein System gemacht hat. Ich würde sagen, daß überhaupt die Frage des Marx-Verständnisses erst an der Stelle ansetzt, wo diese eigentümliche Brechung wieder hervortritt«.44 Die »eigentümliche Brechung« in der Marx’schen Kritik, die sich in seinem Bezug auf das System zeigt, wird von Adorno gerade als die Stärke und kritische Wendung einer materialistischen Dialektik aufgefasst und nicht als deren Fehler.

 

Im Anschluss an Marx, der mit der Kritik der politischen Ökonomie gezeigt hat, was Kritik am System und am philosophischen System bedeutet45, stellt Adorno sein eigenes ›Programm‹ heraus: »Ich kann selbstverständlich die Idee einer Philosophie, wie sie aussehen sollte, die auf der einen Seite also des Systems sich entschlägt und auf der anderen Seite doch an der Idee der Verbindlichkeit des freien Gedankens und nicht des szientifisch kontrollierten festhält, Ihnen hier nicht entfalten. Ich kann nur sagen, daß alles, was ich so versuche und treibe, eigentlich dem Entwurf eines solchen Denkens gilt und nichts anderem.«46

Kritische Theorie ist danach wesentlich Kritik eines idealistischen Systems und zugleich Kritik (sozialwissenschaftlicher) Systemtheorien. Solche Kritik idealistischer Systeme berührt den Begriff von Wahrheit, der nicht mehr traditionell durch seine Bindung an ein vernünftiges Allgemeines bestimmbar ist. Kritische Theorie kann daher Wahrheit nicht mehr ausgehend von einem System begründen, zugleich allerdings auch nicht auf den Bezug auf Objektivität verzichten. Adorno nimmt gerade das, was bereits mit Kant als bloß subjektiv vom Begriff der Vernunft unterschieden wurde, als konstitutiv in den Begriff der Wahrheit eingehend auf: Die Erfahrung der Subjekte, dass sie durch die Objektivität affiziert werden. »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.«47 Wahrheit kann für Adorno und Horkheimer nicht bloß formal und auch nicht mehr idealistisch im Sinne einer Übereinstimmung von Gegenstand und Begriff aufgefasst werden. Ein solcher, affirmativer Begriff von Wahrheit, welcher das zum Gegenstand hat, was unter den Begriff subsumierbar ist, führte in der Hegel’schen Philosophie zur Identifikation von Wirklichkeit und Vernunft. Was dem Begriff nicht entspricht, wurde von der Hegel’schen Philosophie als ›faule Existenz‹ abgehandelt und aus dem System exiliert. »Die von Hegel erzwungene/erschlichene ›Wahrheit‹ als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand als Übereinstimmung von Allgemeinem und Einzelnem in der Idee des Staates als realisiertem Begriff, macht den Wahrheitsbegriff insgesamt problematisch.«48 Doch mit diesem Problematisch-Werden des Wahrheitsbegriffs traditioneller Philosophie stellt sich erst die Aufgabe kritischer Philosophie, die bereits eine Erkenntnis und eine Weiterentwicklung des Wahrheitsbegriffs darstellt. Ist mit der Kritik am traditionellen Begriff der Wahrheit auch die scheinbare Sicherheit eines solchen ›reinen‹ Begriffs von Wahrheit aufgegeben, stellt sich die Frage, ob nicht der »historische Relativismus […] kaum abzuwehren« ist.49 Dieser Alternative zwischen einem idealistischen Wahrheitsbegriff oder einem Relativismus verweigert sich Adorno. Er verbindet Wahrheit mit der Kritik relativistischer Standpunkte, indem diese »in der Struktur des gesellschaftlichen Prozesses als eines vorgeordneten Ganzen« verortet werden. »Durch dessen Erkenntnis verlieren sie ihre Unverbindlichkeit.«50 Darin ist bereits die Kritik des Idealismus enthalten, welcher das »vorgeordnete Ganze«, das zugleich Resultat ist, als das Wahre aussprach und Wahrheit nur in Bezug darauf formulieren konnte.51 »Was einmal Dogma und Bevormundung durch Selbstgewißheit überholen wollte, wurde zur Sozialversicherung einer Erkenntnis, der nichts soll passieren können. Dem Einwandfreien passiert tatsächlich nichts.«52

Horkheimer band in den 1930er Jahren den Begriff der Wahrheit an die Stellung und das Interesse der jeweiligen Subjekte. »Zum Prozess der Erkenntnis gehört beim Individuum nicht nur Intelligenz, sondern auch Charakter und bei einer Gruppe nicht nur Anpassung an die sich wandelnde Realität, sondern ebenso die Kraft, ihre eigenen Ansichten und Ideen zu behaupten und durchzusetzen.«53 Damit ist verbunden, was als »Zeitkern der Wahrheit« bezeichnet werden kann, worauf Adorno auch in der Negativen Dialektik zentral rekurriert: »Auf die Tröstung, Wahrheit sei unverlierbar, hat Philosophie zu verzichten.«54 Wahrheit ist gebunden an die historische Situation, in der Subjekte diese Wahrheit aussprechen, an die historische Konstellation und damit nicht zu lösen von den Subjekten, welche darin handeln. Damit aber verliert Wahrheit nicht an Objektivität und reduziert sich nicht auf die ›instrumentelle Vernunft‹55 eines szientifischen Verständnisses von Wahrheit. Tiedemann fasst die Kritik Adornos am traditionellen Begriff der Wahrheit in Bezug auf die gesellschaftlichen Konsequenzen solchen Denkens zusammen: »Wo Erkenntnis die Welt und ihre Bewohner nur mehr in ihrer Exempelfunktion wahrnimmt; ein jedes nur als Beispiel für anderes, keines mehr an und für sich gelten läßt, da hat Denken immer schon abgedankt […]. Wahrheit nachdrücklichen Sinnes, die ihre Gegenstände nicht unter ein jeweils Abstrakteres subsumierte, sondern ihr Inneres aufzulösen suchte, scheint in der Gesellschaft nach Auschwitz endgültig obsolet geworden zu sein; bei den Herren auf allen Stufen der Hierarchie vermag ein Begriff von Wahrheit, der nach mehr und anderem tastet als falsifizierbarer Richtigkeit, allenfalls noch ein müdes Lächeln hervorzurufen.«56 Wahrheit ist gebunden an gesellschaftliche Erfahrung. Sie ist »objektiv und nicht plausibel. So wenig sie unmittelbar einem zufällt und so sehr sie der subjektiven Vermittlung bedarf, so sehr gilt, für ihr Geflecht, was Spinoza allzu enthusiastisch schon für die Einzelwahrheit reklamierte: daß sie der Index ihrer selbst sei.«57

Die Erkenntnis dessen, was ist, Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken erfasst, kann dies nicht mehr in einer an Hegel anknüpfenden Weise leisten. Marx erkannte, dass das Ganze nicht das Wahre, sondern unwahres System ist und die Erkenntnis der Wahrheit dieser Gesellschaft das Aussprechen dieses (unwahren) Scheins voraussetzt. Der Begriff dieser Gesellschaft ist nicht durch bloß theoretische Reflexion zu finden, sondern an die praktische Erkenntnis gebunden, dass (Klassen-)Herrschaft abzuschaffen ist.58 Damit ist auch für Marx kein positiver Rückgriff auf die (Hegel’sche) Philosophie möglich, sondern deren Kritik ist ein für die Philosophie notwendiger Schritt. Diese Kritik beinhaltet aber bei Marx nicht das abstrakte Negieren der Hegel’schen Philosophie, wie es beispielsweise der Positivismus macht, sondern den Bezug darauf, was es heißt, dass die philosophischen Begriffe in und mit der bürgerlichen Gesellschaft wirklich werden, und was es bedeutet, dass dieses Wirklich-Werden falsch ist – was es bedeutet für die Theorie der Gesellschaft und für die Philosophie.

II.2 Philosophie und der Erfahrungsgehalt von Gesellschaft

»Gesellschaftlich ist die Idee eines objektiven, ansichseienden Systems nicht so schimärisch, wie es nach dem Sturz des Idealismus dünkte und wie der Positivismus es beteuert. Der Begriff großer Philosophie, den jener für überholt erachtet, verdankt sich keinen vorgeblich ästhetischen Qualitäten von Denkleistungen, sondern einem Erfahrungsgehalt, der eben um seiner Transzendenz zum einzelmenschlichen Bewußtsein willen zu seiner Hypostasis als Absolutes verlockte. Zu legitimieren vermag sich Dialektik durch Rückübersetzung jenes Gehalts in die Erfahrung, aus der er entsprang. Das ist aber die Vermitteltheit alles Einzelnen durch die objektive gesellschaftliche Totalität.«59

Da sich Gesellschaft als Totalität, nämlich als kapitalistisches System, entwickelte, sind philosophische Begriffe zur Erkenntnis von Gesellschaft notwendig. Der Begriff ›Gesellschaft‹ ist »weder unmittelbar zu greifen noch, wie naturwissenschaftliche Gesetze, drastisch zu verifizieren. Positivistische Strömungen der Soziologie möchten ihn deshalb als philosophisches Relikt aus der Wissenschaft verbannen.«60 Adorno zeigt dagegen, dass auf einen philosophischen Begriff von Gesellschaft und auf eine Theorie von Gesellschaft im Anschluss an die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie nicht zu verzichten ist, und dass ein Realismus, der sich mit der Konstatierung von Fakten begnügte, zu keinen Erkenntnissen gelangte.61 »Denn während Gesellschaft weder aus Einzeltatsachen sich ausabstrahieren noch ihrerseits wie ein Faktum dingfest machen läßt, gibt es kein soziales Faktum, das nicht durch Gesellschaft determiniert wäre.«62 Daher ist es notwendig, in den einzelnen Erscheinungen des sozialen Lebens deutend63 die gesellschaftliche Präformation aufzudecken und zu kritisieren, wie auch dadurch aufzuzeigen, wie sich das Kapitalverhältnis durch alle gesellschaftlichen und individuellen Regungen hindurch reproduziert. Um die Wahrheit des falschen Systems begrifflich zu fassen, bedarf es der Deutung, also des In-Bezug-Setzens der einzelnen Fakten zur Totalität durch das Subjekt. Erfahrung von und in der Gesellschaft ist vermittelt durch die widersprüchliche Struktur des Wesens dieser Gesellschaft, das nicht unmittelbar zu greifen ist, sondern nur an einzelnen sozialen Gegebenheiten erscheint. »Alles in dieser Gesellschaft – bis hin zu deren sublimsten Sphären – wird durch das die Epoche charakterisierende soziale Verhältnis geprägt, dass lebendige Arbeit in eine Ware verwandelt wurde und diese Ware vom Kapital angekauft und benutzt wird, um Mehrwert zu produzieren.«64

Für eine Theorie der Gesellschaft wie für die Philosophie in dieser Gesellschaft ist dieses Verhältnis daher als deren Wesen zu fassen. Soziale Konflikte als solche »Masken tragender Antagonismen«65 zu erkennen, ist Grundlage einer kritischen Theorie der Gesellschaft: »Ist die Gesellschaft in ihrem Wesen antagonistisch, kann die Theorie der Gesellschaft nicht als eine den Widerspruch ausschließende Systemtheorie auftreten«.66

Philosophische Erfahrung muss sich Adorno zufolge »Rechenschaft darüber geben, wie sehr sie, ihrer Möglichkeit im Bestehenden nach, mit dem Bestehenden, schließlich dem Klassenverhältnis kontaminiert ist.«67 Dies ist als Forderung nach Selbstreflexion und Selbstkritik der Philosophie zu begreifen, in der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Entwicklung ihre Stellung in diesem gesamtgesellschaftlichen Gefüge zu hinterfragen. Das heißt, dass die philosophischen Begriffe selbst auf die widersprüchliche gesellschaftliche Grundlage zu beziehen sind und zu erkennen ist, dass sie nicht getrennt davon zu behandeln sind. Adornos Begriff der philosophischen Erfahrung impliziert die Forderung nach einem »Mehr an Subjekt«, wodurch die »Objektivität dialektischer Erkenntnis«68 überhaupt erst ermöglicht wird, was sich bereits in der Kant’schen ›Wendung auf das Subjekt‹ und der daraus entspringenden Dialektik ankündigt. »Die Bewegung der Philosophie« bestehe wesentlich darin, »daß man das an Erfahrung von der Realität ausdrücken will, was in dem organisierten Betrieb nicht aufgeht und das, was man eigentlich sieht.«69 Gegen einen solchen Begriff von Philosophie und gegen eine solche Verbindung von Erfahrung und Wahrheitsbegriff, die darin enthalten ist, wendet sich ein Begriff von Objektivität, welcher aus einer szientifischen Vorstellung heraus vermeint, Wahrheit unabhängig vom Subjekt formulieren zu können. Dagegen ist zu halten, dass »in dieser Erfahrung«, welche sich in der Philosophie ausdrücke, »selber immer auch das Moment des Objektiven drin ist.«70 Die Philosophie kann ihrem Anspruch auf Wahrheit daher gar nicht gerecht werden ohne dieses Moment der Erfahrung des Subjekts. »Philosophie ist also nicht ein nach außen gehaltener Spiegel, der irgendeine Realität abspiegelt, sondern viel eher der Versuch, diese Erfahrung oder dieses Es-sagen-Wollen ja nun doch verbindlich zu machen, zu objektivieren; […] denn die ernstesten Dinge, da, wo es wirklich um die Wahrheit geht, die sind immer die allerzerbrechlichsten: Die Wahrheit ist nicht so etwas Festes, was man in der Hand hält und dann getrost nach Hause tragen kann«.71

 

Dieser Begriff der philosophischen Erfahrung als einer Grundlage der Wahrheit ist nicht eine bloß methodische Festlegung, sondern eine Kritik in der Sache: Der Begriff des Subjekts in der Philosophie unterliegt einer Dialektik. Adorno macht deutlich, dass Subjektivität und Freiheit (im Sinne Hegels) nicht ohne die Individuen, die Subjekte sind, gedacht werden und von diesen abgelöst werden können.72 Der Hegel’sche Begriff von Dialektik wird aufgegriffen und dabei kritisiert, dass Hegel »das individuelle Bewußtsein, Schauplatz der geistigen Erfahrung, die sein Werk beseelt, der Zufälligkeit und Beschränktheit zieh. Erklärbar ist das nur aus der Begierde, das kritische Moment zu entmächtigen, das mit individuellem Geist sich verknüpft.«73

Bei Hegel stellt Adorno einen »Abbruch der Dialektik« fest.74 In diesem Abbruch bekomme, so Adorno, die Zurichtung in und für die bürgerliche Gesellschaft eine philosophische Gestalt.75 Gegen Hegel wendet Adorno ein, dass die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem als das Zentrum einer Theorie der bürgerlichen Gesellschaft sowie der Philosophie in der bürgerlichen Gesellschaft nicht in der Versöhnung im Allgemeinen stillgestellt werden kann, ohne ihren eigenen Begriff zu negieren. Widerspruchserfahrungen manifestieren sich in den Subjekten und müssen auch hier als eine Bewegung gedacht werden, welche nicht mit der Auflösung des Besonderen im Allgemeinen abgeschlossen ist. Bei Hegel jedoch – und dies ist nicht bloß aus dem Idealismus des Hegel’schen Systems zu erklären, sondern verweist auf dessen Erfahrungsgehalt – scheint es zur Versöhnung der Besonderen im Allgemeinen zu kommen. Diese ist allerdings nicht frei von Brüchen. An Hegel wird deutlich, dass das »wirkliche Leben der Individuen […] der Ausgangspunkt weder der theoretischen Entwicklung noch der gesellschaftlichen Organisation [ist]. Für das selbstbewusste Leben bedeutet die Hegel’sche ›Versöhnung‹ in letzter Konsequenz die Selbstaufopferung.«76

Der »szientifische[n] Objektivierung«77 quantifizierender Sozialwissenschaften entgegnet Adorno, dass Erkenntnis in den Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie gerade durch den »subjektiven Anteil« entsteht und in dem Widerspruch des Besonderen zum Allgemeinen ihre Grundlage hat. »Jedenfalls behält der subjektive Anteil an Philosophie, verglichen mit der virtuell subjektlosen Rationalität eines Wissenschaftsideals, dem die Ersetzbarkeit aller durch alle vor Augen steht, einen irrationalen Zusatz.«78 Mit diesem »irrationalen Zusatz« ist hier zunächst gemeint, dass es im subjektiven Anteil der Philosophie ein Moment geben muss, das sich gerade nicht in die Ratio der herrschenden Ordnung auflösen oder aus ihr erklären lässt. Die Ersetzbarkeit aller durch alle entspricht der Integration der Individuen in den Verwertungsprozess des Kapitals und ist damit Kennzeichen herrschender Rationalität. Diese ist »virtuell subjektlos«, da sie eine außer den denkenden und handelnden Individuen stehende Objektivität annimmt, welcher diese nicht als Subjekte, sondern als Objekte/Mittel gegenüberstehen. Verglichen mit einem solchen positivistischen Wissenschaftsideal muss es in einer (kritischen) Philosophie, welche den Anspruch auf objektive Wahrheit weiterhin hat, einen ›irrationalen subjektiven‹ Anteil79 geben, eben einen solchen, der sich nicht auf die ›Gesetze des Allgemeinen‹ der bürgerlichen Gesellschaft reduzieren lässt.80 Horkheimer führt in seinem programmatischen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie aus, dass Erkenntnis der Gesellschaft die Stellung des erkennenden Subjekts zur gesellschaftlichen Totalität voraussetzt.81

Der philosophische Begriff des Subjekts steht selbst in einer Dialektik, was auch erkenntnistheoretisch zu reflektieren ist. »Der Idealismus projiziert die Idee richtigen Lebens falsch nach innen. Das Subjekt als produktive Einbildungskraft, reine Apperzeption, schließlich freie Tathandlung, verschlüsselt jene Tätigkeit, in der real das Leben der Menschen sich reproduziert, und antezipiert in ihr, mit Grund, die Freiheit. Darum verschwindet so wenig Subjekt einfach in Objekt, oder irgendeinem vorgeblich Höheren, dem Sein, wie es hypostasiert werden darf. Subjekt ist in seiner Selbstsetzung Schein und zugleich ein geschichtlich überaus Wirkliches. Es enthält das Potenzial der Aufhebung seiner eigenen Herrschaft.«82

In der intentio obliqua reflektierte Philosophie auf die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis von Objekten. Mit der Begründung des transzendentalen Subjekts durch Kant wurde das für die Epoche der klassischen deutschen Philosophie zentrale Problem des Subjekt-Objekt-Verhältnisses revolutioniert. Die Gegenstände möglicher Erfahrung sind demnach durch das erkennende Subjekt konstituiert und Objekte nur innerhalb des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu bestimmen, da sich anders keine sichere Erkenntnis a priori begründen lasse.83 »Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.«84 Anders als im naiven Realismus, der in intentio recta einen direkten Zugriff des Subjekts auf ein Objekt annahm, wird durch die Kopernikanische Wende die Vermitteltheit des Objekts der Erfahrung durch das Subjekt erkannt. Diese Reflexion »ist die Rückbeziehung jenes vieldeutigen Objektbegriffs auf einen nicht minder vieldeutigen vom Subjekt. Zweite Reflexion reflektiert jene, bestimmt das Vage näher um des Gehalts der Begriffe Subjekt und Objekt willen.«85

Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Objekten ist die transzendentale Einheit der Apperzeption. Die Apperzeption setzt wiederum die Einheit des Bewusstseins als »Einheit der reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft« voraus, ohne welche keine Erfahrung möglich wäre. Ohne eine solche Einheit, welche die Erscheinungen a priori Bedingungen unterwirft und sie so konstituiert, wäre keine Erfahrung möglich, womit dann das einheitliche Subjekt sich auflöste – »so würde es möglich sein, daß ein Gewühle von Erscheinungen unsere Seele anfüllete, ohne daß doch daraus jemals Erfahrung werden könnte.«86

»Der Vorrang von Objekt ist die intentio obliqua der intentio obliqua, nicht die aufgewärmte intentio recta; das Korrektiv der subjektiven Reduktion, nicht die Verleugnung eines subjektiven Anteils.«87 In erneuter Reflexion der Stellung des Subjekts in der Philosophie entwickelt Adorno den Vorrang des Objekts, womit er zugleich den Übergang zum Materialismus darstellt.88 Der Vorrang des Objekts ist gegen die idealistische These vom Vorrang des Geistes gerichtet und bezieht sich vor allem auf die Weiterentwicklung des Subjektbegriffs durch Fichte und Hegel. Der Umschlag der »reductio ad hominem« zur »reductio hominis«89 vollzieht sich in der idealistischen Philosophie gerade vermöge der Hypostasierung von Subjektivität – und dies meinen Adorno und Horkheimer mit einer ›Dialektik der Aufklärung‹. Wird Subjekt als ein Absolutes verklärt, mit Fichte in einem sich selbst setzenden Ich und mit Hegel im sich über die empirischen Subjekte durchsetzenden Geist, dann »usurpiert der Geist den Ort des absolut Selbständigen, das er nicht ist: im Anspruch seiner Selbständigkeit meldet sich der herrschaftliche.«90 So beansprucht Adorno, durch die Reflexion auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis den herrschaftlichen Charakter subjektivistischer Reduktion und dessen gesellschaftliche Funktion aufzudecken.