Der Igel im Meer

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„Sind Sie sicher? Wir können Ihnen jemanden vorbeischicken, der ...“

Sie sah ihn an, und während sich ihre Lippen zu einem zittrigen Lächeln verzogen, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. „Vielen Dank, ich möchte keine psychologische Betreuung. Aber bitte gehen Sie jetzt!“

‚Tapferes Mädchen’, dachte er. „Ja natürlich.“ Er packte den Laptop und das Ladekabel ein, schrieb eine Empfangsquittung aus und gab ihr seine Karte. „Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, dann rufen Sie mich an, egal wann.“

Sie nahm die Karte entgegen, ohne sie anzusehen, und legte sie auf den Schreibtisch.

An der Tür drehte sich Margareta noch einmal um. „Frau Stern, wären Sie bereit, ihre Schwester zu identifizieren?“

Silvana zuckte zusammen, dann straffte sie die Schultern. „Ja, natürlich. Ich verstehe zwar nicht, warum das notwendig ist, sie sieht ja genauso aus wie ich, aber ich würde sie gern sehen.“

„Ich hole Sie um neun ab. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen.“

Auf der Kommode im Flur stand ein gerahmtes Bild von Sofia, Arm in Arm mit einem jungen Mann. Fassrath nahm es in die Hand und ging zurück ins Wohnzimmer. „Wer ist der Mann auf dem Foto, Frau Stern?“

Silvana stand auf und nahm es ihm ab. „Das ist Martin Marbach, Sofias Exfreund.“ Ihm fiel auf, dass sie seinen Blick mied. „Er hat auch die Fotos im Schlafzimmer von ihr gemacht.“ Man konnte ihr ansehen, dass ihre Gedanken abschweiften. Zärtlich strich sie mit dem Finger über das Bild. Als Fassrath die Hand danach ausstreckte, fuhr sie zusammen und sah ihn an, schuldbewusst, als hätte er sie bei etwas Ungehörigem ertappt. „Sie waren aber noch Freunde“, sagte sie. Zögernd ließ sie das Bild los.

„Von wem ging die Trennung aus?“

Ihre Antwort kam schnell. „Von Sofia natürlich.“

„Und warum ist das so natürlich?“

„Weil sich kein Mann freiwillig von Sofia trennen würde.“ Es klang wie eine nüchterne Feststellung, ein Naturgesetz, dem sich niemand widersetzen konnte. Weder Stolz noch Neid klangen in ihrer Stimme mit.

Fassrath löste das Foto aus dem Rahmen und steckte es ein. „Sie kriegen es bald wieder, versprochen.“

9. Kapitel

„Wieso willst du dich mit ihm treffen?“ Harald sah Hanna über den Rand seines Weinglases neugierig an.

Sie saßen in Hannas Küche und sprachen über ihre Eindrücke vom Speed-Dating. Harald hatte sein Laptop aufgeklappt und arbeitete an der Rohfassung seines Artikels. Wie Hanna erwartet hatte, kamen die Frauen weit besser weg als die Männer, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, zu denen auch Chris zählte. Sie hatte ihre Handynummer für ihn freigegeben und war gespannt, ob er sich melden würde.

„Fängt Paul an, dich zu langweilen?“ Harald konnte Paul nicht leiden. Er neigte dazu, seine Mitmenschen in Schubladen zu stecken – seine Hauptadjektive für Hannas derzeitigen Lebensgefährten waren ‚oberflächlich’ und ‚arrogant’. In mancher Hinsicht mochte das sogar zutreffen.

„Ich will ja nichts mit ihm anfangen. Außerdem hat er eine kleine Revanche verdient – schließlich hat er mich auch verarscht.“

„Nur weil er dich mit dieser Frage aus der Reserve locken wollte?“

„Okay, ich bin einfach nur neugierig – ich möchte ein bisschen mehr über ihn erfahren – was ist so schlimm daran?“

„Wirst du es Paul erzählen?“

„Er erzählt mir auch nicht alles.“

„Wo ist er eigentlich?“

„Bei der Arbeit.“

„Am heiligen Sonntag?“ Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. „Und um diese Zeit?“

„Er kommt mit seinem neuen Projekt nicht so recht voran – zurzeit macht er ständig Überstunden.“

Haralds Miene war unergründlich. „Und sonst? Wie läuft’s denn so bei euch?“

Bevor Hanna darauf antworten konnte, kam Paul zur Tür herein. Er begrüßte die beiden mit einem müden ‚Hallo’, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und verschwand im Wohnzimmer.

Sofort hatte Hanna ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass Haralds Abneigung gegen Paul gegenseitig war – außerdem hatte sie nichts zum Abendessen vorbereitet, wie sich das wohl für die treusorgende Freundin eines schwer arbeitenden Mannes gehört hätte.

„Ich geh’ dann mal.“ Harald packte seinen Laptop ein und stand auf. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Viel Spaß mit Chris. Ruf’ mich an, wenn du dich mit ihm getroffen hast.“

Paul saß auf dem Sofa und sah sich die Spätnachrichten an.

Hanna ließ sich neben ihn fallen und strich ihm über die Haare. „Na, alles klar bei dir?“

„Sicher“, sagte er geistesabwesend und trank einen Schluck aus seiner Flasche.

„Soll ich dir eine Pizza in den Ofen schieben?“

Er sah sie irritiert an. „Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Ich will doch um diese Uhrzeit keine Pizza mehr. Außerdem habe ich im Büro schon etwas gegessen. Der Chef hat eine Runde Dönersalat ausgegeben.“ Er gähnte. „Kann sein, dass ich am Wochenende wieder arbeiten muss.“

„Nächstes Wochenende? Aber da sind wir doch auf die Hochzeit eingeladen. Hast du das vergessen?“

Er knallte die Flasche auf den Tisch. „Du weißt genau, wie wichtig dieses Projekt für meine Karriere ist. Du kannst doch auch allein hinfahren.“ Er grinste boshaft. „Vielleicht hat dein lieber Freund Harald Lust mitzukommen.“

Hanna stand so schnell auf, dass sie an den Tisch stieß und Pauls Bierflasche ins Wanken geriet. „Es ist dein Freund, der am Samstag heiratet. Ich kann verstehen, dass du das vergessen hast, schließlich habe ich mich um alles gekümmert, du warst ja nicht einmal in der Lage, eine Karte zu besorgen!“

Paul sah zu ihr hoch. „Fang’ jetzt keinen Streit an. Ich bin echt geschafft. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es bei uns zugeht. Die Konkurrenz sitzt uns im Nacken und wartet nur darauf, dass wir einen Fehler machen. Und mein Chef hat die ganze Verantwortung auf mich abgedrückt.“ Er griff nach der Flasche und leerte sie. „Das ist die Chance für mich ...“, er griff nach ihrer Hand und versuchte, Hanna auf seinen Schoß zu ziehen, „ ...für uns, Hanna. Versuch’ doch, das zu verstehen.“

„Hör’ auf mit dem Gesülze und sei nicht so verdammt herablassend!“ Sie riss sich los und ging aus dem Zimmer, wütend und verletzt. Allmählich musste sie sich eingestehen, dass Paul sich in der letzten Zeit verändert hatte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass bei der Arbeit nicht alles rund lief und er unter Stress stand, aber normalerweise ließ er seine schlechte Laune nicht an ihr aus. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass eine andere Frau dahinter stecken könnte. Auf seinen zahlreichen Dienstreisen lernte er ständig neue Leute kennen. Und Paul konnte sehr charmant sein, wenn er wollte.

Sie war kurz vorm Einschlafen, als Paul sich auf der Bettkante niederließ. Er legte sich hin, drehte sich auf die Seite und berührte ihre Schulter. „Tut mir leid wegen vorhin.“

„Lass’ mich bloß in Ruhe!“

„Ach komm’ schon, ich habe mich doch entschuldigt.“

Sie drehte sich zu ihm um und warf ihm einen bösen Blick zu. „Du machst es dir zu einfach. Ich habe keine Lust mehr, ständig dein Fußabtreter zu sein.“

„Du bist nicht mein ...“

„Ich weiß, dass die Firma und deine Karriere in deinem Leben an erster Stelle stehen“, unterbrach sie ihn, „und ich frage mich, an welcher Stelle ich stehe. Es ist doch so, wir verbringen kaum noch Zeit miteinander, es ist fast wie in einer Zweck-WG.“

„Das sagt gerade die Richtige. Du bist doch auch fast jedes Wochenende bei einer deiner Massageveranstaltungen.“

Sein abfälliger Tonfall verletzte sie. „Ich nehme mal an, du sprichst von meiner Ausbildung zur Cranio-Sacral-Therapeutin“, sagte sie kühl, „aber wahrscheinlich ist es zu viel verlangt, dass du dir ein so schwieriges Wort merkst.“

„Wir haben keine Zweck-WG“, sagte er und strich ihr mit dem Zeigefinger über den Hals, „in einer Zweck-WG schlafen die Bewohner nicht miteinander.“

„Das tun wir doch auch nicht“, sagte sie und schlug seine Hand weg, „jedenfalls kann ich mich kaum noch daran erinnern.“

„Dann wird es Zeit, dass wir die Erinnerung auffrischen“, sagte er und versuchte sie zu küssen. Sie drehte das Gesicht weg, so dass sein Kuss auf ihrem Ohr landete.

Er ließ sich nicht beirren. „Komm’ schon, Süße, es tut mir wirklich leid. Und natürlich würde ich viel lieber mit dir zu der Hochzeit gehen als im Büro zu sitzen. Ich hatte einfach so einen Scheißtag heute. Und dann komme ich nach Hause und sehe dich mit diesem eingebildeten Zeitungsheini zusammensitzen. Das hat mir dann den Rest gegeben.“ Während er redete, rückte er näher an sie heran und begann, sie zu streicheln.

„Hör’ auf damit!“ protestierte sie halbherzig.

„Womit genau?“, murmelte er. Allmählich kam er in Fahrt, und sie spürte, wie ihr Körper auf ihn reagierte und ihr Widerstand zu bröckeln begann. Auf der sexuellen Ebene hatten sie schon immer harmoniert.

Dieses Mal schien er es darauf anzulegen, möglichst schnell zum Ende zu kommen. Während er sich auf ihr abrackerte und gleichzeitig eine ihrer Brüste knetete, als wäre sie ein Brotteig, betrachtete sie sein Gesicht. Er hatte die Augen zusammengekniffen und keuchte vor Anstrengung. „Komm’ schon, Baby!“ Und obwohl sie sich gerade noch nach seiner Umarmung gesehnt hatte, spürte sie, wie ihre Lust verebbte.

Als er es geschafft hatte, stöhnte er ihr sein obligatorisches ‚ich liebe dich‘ ins Ohr, rollte sich von ihr herunter und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen. Der Mond schien ins Zimmer, und sie starrte hellwach auf die allmählich größer werdende kahle Stelle auf Pauls Hinterkopf. Sie war immer noch sauer.

Nach einer Weile stand sie auf und ging in die Küche. Als sie sich mit einem Glas Wasser an den Tisch setzte, hörte sie ein gedämpftes dreifaches Piepsen. Ohne zu überlegen griff sie in die Innentasche seiner Lederjacke, die über einem der Küchenstühle hing, holte sein Handy heraus und legte es auf den Tisch. Nach einer Weile nahm sie es wieder in die Hand. Sie kam sich mies vor. Sie hatte ihm noch nie hinterher spioniert. Das Display leuchtete, und unten blinkte das Briefumschlagsymbol. Sie klickte auf den Nachrichteneingang: Lena, sie kannte keine Lena. Sie holte tief Luft und öffnete die SMS. Sie war nur ganz kurz. Und absolut eindeutig.

 

Hanna spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Also doch. Sie dachte an die vielen Überstunden, die Nächte, die er angeblich im Büro verbrachte, seine Gereiztheit, wenn sie nachfragte, seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber. Sie konnte es nicht fassen, dass er gerade noch mit ihr geschlafen hatte. ‚Ich liebe dich’, hatte er gesagt. Wahrscheinlich hatte er die Augen zugemacht und dabei an diese Lena gedacht.

Hanna ging zurück ins Schlafzimmer, knipste die Deckenlampe an und pfefferte das Handy aufs Bett. Es traf Paul an der Schulter. Er fuhr aus dem Schlaf auf und blinzelte erschrocken ins helle Licht. „Spinnst du? Was ist denn los, verdammt noch mal?“

Sie verschränkte die Arme und sah auf ihn hinunter. „Ich will, dass du gehst. Jetzt!“

Er tastete nach dem Handy, las die SMS und wurde blass. „Süße, ich ...“

„Geh’ einfach.“ Sie sprach leise. Sie wollte nicht, dass er das Zittern in ihrer Stimme hörte.

Er setzte sich auf, tastete auf dem Nachttisch nach seiner Brille und setzte sie auf die Nase. „Wir können doch über alles reden.“

„Das ist meine Wohnung, und ich will, dass du jetzt gehst.“

„Hör’ mal ...“

„Nein, hör’ du zu. Du hast keinen offiziellen Mietvertrag. Wenn du in zehn Minuten noch da bist, hole ich die Polizei.“

„Du hast sie nicht mehr alle.“ Er schwang seine Beine aus dem Bett und suchte seine Sachen zusammen. Wieder streckte er die Hand nach dem Handy aus, dann zögerte er und warf Hanna einen unbehaglichen Blick zu.

„Nur zu, ruf’ sie ruhig an.“ Sie drehte sich um, knallte die Tür zu und ging zurück in die Küche.

Ein paar Minuten später kam er ihr nach. Er war angezogen und hatte eine Reisetasche gepackt, die er neben sich auf den Boden stellte. „Hanna, findest du nicht, dass wir ...“

„Hau einfach ab!“

Er holte tief Luft, als wollte er noch etwas sagen, dann drehte er sich um und ging.

Sie duschte eine halbe Stunde lang. Dann holte sie ein paar Umzugskartons vom Speicher und verbrachte den Rest der Nacht damit, seine Sachen einzupacken, seine Klamotten, seine Bücher, seine Büroutensilien, seine Stereoanlage. Als sie den letzten vollen Karton in den Flur stellte, war es kurz nach fünf. Sie bezog das Bett frisch und stellte die Waschmaschine an. Dann kochte sie sich einen Kaffee und setzte sich auf den Balkon. Neben all dem Schmerz, der Wut und der Enttäuschung spürte sie auch einen Hauch von Erleichterung. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass in ihrer Beziehung schon lange nicht mehr alles gestimmt hatte. Vielleicht war es besser so. Sie schob die Tasse zur Seite, legte den Kopf auf die Arme und weinte.

Hanna wachte davon auf, dass ihr die Sonne auf den Nacken schien. Sie machte sich frischen Kaffee und nahm das Branchenbuch und das Telefon mit auf den Balkon. Kurz nach acht kam ein Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes und wechselte das Schloss aus. Sie war ihm dankbar, dass er keine Fragen stellte. Er half ihr sogar, die Kartons, die teilweise recht schwer waren, in den Hausflur zu stellen.

Nachdem sie ihn mit einem großzügigen Trinkgeld verabschiedet hatte, zog sie sich um, nahm eine Kopfschmerztablette und machte sich auf den Weg zu ihrer ersten Patientin.

Als sie am Abend nach Hause kam, waren die Kartons verschwunden.

10. Kapitel

Nach einer nicht endenwollenden schlaflosen Nacht, in der sie sich im Bett ihrer toten Schwester hin- und hergewälzt hatte, betrat Silvana Stern am Morgen mit Margareta die Räume der Gerichtsmedizin.

Fassrath hatte Gramling vorgewarnt, so dass er nicht überrascht war, das Ebenbild der schönen Toten so quicklebendig vor sich zu sehen. Er zog die Decke von Sofias Gesicht. Ihr Gesichtsausdruck war friedlich. Im hellen Neonlicht konnte man erkennen, dass ihre Haare nicht schwarz, sondern dunkelbraun waren mit einem kaum wahrnehmbaren Rotstich.

Silvana war sehr blass, wirkte aber gefasst. „Wie ist sie gestorben?“

Gramling warf Margareta einen fragenden Blick zu, und als diese kaum merklich nickte, sagte er: „Der Mörder hat sie niedergeschlagen und ihr die Halsschlagader geöffnet. Sie ist verblutet.“

„Hat sie ... ? Musste sie ... ?“

„Sie hat sich nicht gewehrt. Vermutlich hat sie den Schlag nicht kommen sehen. Sie hat nicht leiden müssen.“

Der letzte Rest an Farbe wich aus Silvanas Gesicht. „Die Halsader aufgeschnitten ..., oh mein Gott, es war dieser Serienmörder, der, der schon drei Frauen umgebracht hat, nicht wahr?“

„Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen“, antwortete Margareta, „es gibt ein paar Gemeinsamkeiten mit den anderen Fällen, das stimmt, trotzdem ermitteln wir in alle Richtungen.“

Silvana schluckte. Ihre Unterlippe zitterte, aber sie weinte nicht. „Ich möchte die Wunde sehen“, sagte sie.

Gramling war mit Leib und Seele Rechtsmediziner. Er arbeitete schnell und gründlich und er irrte sich fast nie. Während er Brustkörbe zersägte, Organe abwog und Mageninhalte untersuchte, hatte er mit der Zeit gelernt, die für sein eigenes seelisches Wohlbefinden nötige innere Distanz zu wahren. Die Musik, manchmal Wagner, manchmal AC/DC, die er oft nebenbei laufen ließ, half ihm dabei. Durch seine Arbeit trug er einen nicht unwesentlichen Teil zu den Ermittlungen bei, half, den Täter zu fassen und von der Straße zu holen, und diese Gewissheit erfüllte ihn mit grimmiger Genugtuung, versöhnte ihn mit der Notwendigkeit, der menschlichen Hülle, die auf seinem Tisch lag, neben den tödlichen Verletzungen durch den Mörder noch weitere, meist größere und brutalere Wunden zuzufügen. Seinen ‚Patienten’ begegnete er mit Achtsamkeit und Respekt. Es lag ihm viel daran, ihre Würde zu wahren, er achtete darauf, dass ihre nackten Körper zugedeckt waren, wenn er nicht gerade an ihnen arbeitete. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Witze über irgendwelche körperlichen Unzulänglichkeiten zu reißen und er duldete das auch nicht bei seinen Mitarbeitern.

„Ich weiß nicht so recht ...“ Er hielt das Tuch fest, als fürchtete er, dass Silvana es ihm im nächsten Moment aus der Hand reißen würde.

„Zeigen Sie mir die Wunde!“, befahl Silvana.

Wieder nickte Margareta.

Mit sichtlichem Widerwillen zog Gramling das Tuch noch ein Stück nach unten und legte den Hals frei. Er wollte nicht, dass Silvana den Ansatz des wieder grob zusammengenähten Y-Schnitts sah, dessen Anblick den letzten Rest der Illusion einer friedlich Schlafenden grausam zerstört hätte.

Silvana sog scharf die Luft ein, und bevor sie jemand daran hindern konnte, bückte sie sich und drückte einen Kuss auf den Schnitt am Hals. „Schlaf gut, Schwesterchen“, flüsterte sie, dann wandte sie sich ab und ging zur Tür.

Margareta ging ihr nach. „Kann ich Sie irgendwo hinfahren?“

Silvana schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, ich nehme mir ein Taxi zum Bahnhof – ich will jetzt allein sein.“ An der Tür stieß sie fast mit Fassrath zusammen.

Er betrat den Obduktionssaal und nickte Gramling zu. „Und?“

„Dir auch einen wunderschönen guten Morgen“, sagte Gramling trocken. „Danke, dass du mich angerufen hast. Sonst hätte ich doch noch an die wundersame Auferstehung geglaubt.“

Fassrath winkte ungeduldig ab. „Du siehst ein bisschen fertig aus. Hast du wieder die Nacht durchgemacht?“

„So ungefähr. Ich schlafe zurzeit sowieso schlecht.“ „Aber gewöhn’ dich nicht dran.“ Er gähnte. „Lisa war übrigens auch schon um sechs da.“

Mit einer fast zärtlich anmutenden Geste arrangierte er die Haare der Toten so, dass sie den Schnitt am Hals verbargen und betrachtete sie eine Weile, wie ein Künstler sein Werk betrachtet. „Sie sieht wirklich aus wie Schneewittchen.“ Er deckte sie wieder zu, streifte die Handschuhe ab und ging zum Waschbecken. Er sprach laut, um das Rauschen des Wassers zu übertönen. „Jede Menge Spuren. Und noch ein paar Abweichungen zu den anderen Morden. Kurz vor ihrem Tod hatte sie Geschlechtsverkehr. Ungeschützten.“

„Glaubst du, dass sie vergewaltigt wurde?“

Gramling drehte den Hahn zu und griff nach einem Papierhandtuch. „Falls ja, dann war sie nicht bei Bewusstsein. Jedenfalls hat sie sich nicht gewehrt. Wir können also davon ausgehen, dass sie ihren Mörder gekannt hat.“

„Du meinst, sie hat sich in unseren Serienkiller verliebt?“, fragte Margareta nachdenklich, „falls er der Mörder ist.“

„Warum nicht? Vielleicht ist er ein ganz charmanter Kerl. Wie dem auch sei, wenn er derjenige war, haben wir jetzt seinen genetischen Fingerabdruck.“

„Wann ist sie gestorben?“

„Sonntagvormittag zwischen elf und eins. Sie hat eine Schädelfraktur am Hinterkopf. Der Mörder hat nur einmal zugeschlagen, dafür umso heftiger, vermutlich mit einer Metallstange oder etwas ähnlichem. Keine Materialrückstände von der Mordwaffe – leider. Aufgrund der Schwere der Verletzung können wir davon ausgehen, dass sie sofort das Bewusstsein verloren hat. Aber der Schlag war nicht tödlich. Sie hat noch gelebt, als er ihr die Halsschlagader und die Pulsadern geöffnet hat.“

Margareta rieb sich die Arme. „Wie bei Susanne Kolb.“

Gramling warf das Handtuch in den Müll. „Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sie noch einmal das Bewusstsein erlangt hat.“ Er schob sich eine graue Haarsträhne, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinters Ohr. „Es gibt schlimmere Arten zu sterben.“

„Ja, ich weiß.“

Gramling nahm seine Brille ab, sprühte sie mit Glasreiniger ein und zog ein Brillenputztuch aus einer kleinen Box, die neben dem Seifenspender stand. „Wir haben übrigens Fasern in Hals- und Nackenbereich und in den Haaren gefunden. Das dürfte die Druckstellen erklären. Es sieht so aus, als hätte sie eine Cervicalstütze getragen.“

„Eine was?“, fragten Margareta und Fassrath gleichzeitig.

„Eine medizinische Stützvorrichtung zur Stabilisierung der Halswirbelsäule, in der Umgangssprache auch Halskrause genannt.“ Lisa Brandt, Gramlings Assistentin, betrat den Raum, eingehüllt in eine Duftwolke aus frischem Kaffee mit Karamellaroma. In der einen Hand hielt sie einen Pappbecher von Starbucks, in der anderen ein paar Blätter Papier. „Guten Morgen, allerseits.“ Sie lächelte den Anwesenden zu, trank ihren Kaffee aus und warf den Becher in den Abfalleimer.

Fassrath sah ihm sehnsüchtig hinterher.

Lisa fing seinen Blick auf und grinste. „Was ist los, Vincent, noch kein Frühstück gehabt?“

„Hier drin wird nicht gegessen!“, blaffte Gramling.

„Wer hat was von essen gesagt?“ Lisa schnitt ihrem Chef hinter seinem Rücken eine Grimasse.

„Ich habe vergessen, Kaffeepulver zu kaufen“, sagte Fassrath.

„Kaffeepulver!“ Lisa rümpfte die Nase. „Wann legst du dir endlich mal eine gescheite Maschine zu?“

„Du meinst, so einen Kaffeevollautomaten für 2.000 Euro?“ Er grinste. „Ich bin dabei, meinen Staubsauger abzubezahlen.“

„Ach was, die gibt’s schon ganz günstig. Bei Metro gibt’s gerade einen im Sonderangebot, für knapp 300 Euro, mit Milchschäumer und allen Schikanen.“ Sie kam näher und drückte Margareta die Blätter in die Hand. „Hier, der Obduktionsbefund. Es gab übrigens keine medizinische Indikation. Für die Halskrause, meine ich.“

„Wahrscheinlich hat er sie ihr angelegt, als sie schon tot war“, sagte Margareta, „aber wozu?“

„Um ihren Hals zu stabilisieren und die Wunde zu verbergen“, mutmaßte Fassrath.

Gramling schüttelte den Kopf. „Sie muss noch gelebt haben, sonst hätte die Haut nicht mehr reagiert.“

„Aber das macht überhaupt keinen Sinn“, sagte Fassrath, „warum hätte er das tun sollen?“

„Mörder handeln nicht immer logisch“, philosophierte Gramling, „das solltest du allmählich wissen. Vielleicht wollte er das Halsaufschneiden hinauszögern und hat erstmal geschaut, ob die Halskrause passt ...“

„ ... Um die Vorfreude zu genießen?“, fragte Margareta skeptisch.

Gramling zuckte die Schultern. „Wer weiß.“

„Vielleicht dachte er ja auch, sie sei schon tot. Als er gemerkt hat, dass sie noch lebt, hat er ihr das Ding wieder abgenommen, und ihr den Hals aufgeschlitzt“, sagte Lisa. Sie war vor Fassrath stehen geblieben und strich flüchtig über sein zerknittertes Hemd. Dann, als wäre sie über ihren eigenen Mut erschrocken, ließ sie die Hand sinken und versenkte sie in der Tasche ihres Laborkittels. Aus der Nähe sah Fassrath, dass sie sich sorgfältig geschminkt hatte. Das schimmernde Lipgloss betonte ihren breiten Mund. Ihre Haut war noch heller als seine und übersät mit Sommersprossen. Sie hatte ihre widerspenstigen roten Locken zu zwei kurzen Zöpfen geflochten, was sie sehr jung aussehen ließ. Für einen Moment überdeckte ein frischer zitroniger Duft die normalerweise in der Gerichtsmedizin vorherrschenden unangenehmen Gerüche. „Was kriege ich dafür, wenn ich dir auch so einen wunderbaren Kaffee besorge?“

 

Fassrath senkte die Stimme und lächelte sein Robert-Redford-Lächeln. „Soll ich dir das wirklich hier vor allen Leuten sagen?“

Ihre Augen weiteten sich kaum merklich. Als sie seinen amüsierten Blick bemerkte, lachte sie ein wenig zu schrill, und eine leichte Röte breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Es tat ihm leid, dass er sie in Verlegenheit gebracht hatte. Bemüht, den peinlichen Moment zu überbrücken, drehte er sich hilfesuchend zu Margareta um, die völlig in den Bericht vertieft zu sein schien, und räusperte sich.

„Tortillas und Guacamole“, murmelte sie.

„Was?“

„Sofia Sterns Mageninhalt“, sagte Gramling. Nachdem er seine frisch geputzte Brille noch einmal zur Kontrolle gegen das Licht gehalten hatte, nickte er zufrieden und setzte sie wieder auf. Er ging zu Margareta und las über ihre Schulter mit.

Lisa ging hinaus.

„Hört sich sehr nach Abendessen an“, sagte Fassrath, „wenn wir aber davon ausgehen, dass sie frühestens am nächsten Morgen um elf getötet wurde, hätte doch das Abendessen schon verdaut sein müssen, oder nicht?“ Er rieb mit dem Finger die kleine Narbe über seinem Auge und fühlte sich wie Harry Potter bei dem Versuch, gedanklich mit ‚Du-weißt-schon-wem’ in Kontakt zu treten. „Sag’ mal, Johnny, kann es sein, dass du dich beim Todeszeitpunkt geirrt hast?“

Gramling warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

„Noch ein Wort, und er wird dich zum Duell fordern.“ Lisa kam aus der Küche und brachte Fassrath seinen Kaffee. „War eigentlich für Johannes gedacht“, sagte sie, „aber ihm war er zu süß.“

„Kunststück, da sind mindestens drei Stück Zucker drin“, knurrte Gramling, „so was kann doch kein Mensch trinken – na ja, außer dem da vielleicht.“

„Da ist überhaupt kein Zucker drin, sondern Karamellsirup“, sagte Lisa fröhlich und reichte Fassrath den Becher. „Tut mir leid, er ist wahrscheinlich schon kalt.“

Gramling hob die Hände zum Himmel. „Meine Güte, seine Hoheit wird es überleben.“

Fassrath schnupperte mit geschlossenen Augen, dann nahm er einen großen Schluck. „Er ist genau richtig – könnte nur vielleicht ein klein wenig süßer sein.“ Er zeigte mit dem Kinn auf Gramling und verdrehte die Augen.

Diesmal klang ihr Lachen echt.

„Wahrscheinlich war Sofia am Abend in einem spanischen Restaurant, hat dort gegessen und sich den Rest einpacken lassen“, sagte Margareta, „und am nächsten Morgen hat sie Hunger bekommen und das Zeug kalt verdrückt.“

Lisa grinste Fassrath an. „Hast du sicher auch schon mal gemacht, oder?“

„Wenn ich essen gehe, gibt’s keine Reste“, sagte er und leckte sich den Milchschaum von den Lippen.

„Ach, noch was.“ Gramling griff nach einem durchsichtigen Plastikbeutel, der bei näherem Hinsehen ein paar blonde Haare enthielt. „Kunsthaar, ziemlich schlechte Qualität, drei waren auf ihrem Kopf, zwei auf ihrem Kleid. Sieht so aus, als ob der Mörder ihr auch noch eine Perücke aufgesetzt hat.“

Fassraths Handy ging los. Er entfernte sich ein paar Schritte, um seinen Gesprächspartner besser zu verstehen. Zehn Sekunden später kam er zurück, steckte das Handy ein und packte Margareta am Arm. „Sie haben ihn! Er ist gestern Abend in Freiburg gefasst worden und hat die Nacht im Präsidium verbracht. Ingo Schuster heißt er. Ich fahre gleich los. Willst du mit?“

„Was denkst du denn!“

Bevor er ging, drehte er sich noch einmal zu Lisa um und warf ihr eine Kusshand zu. „Vielen Dank für den Kaffee, du hast was gut bei mir.“

Sie erwiderte sein Lächeln. „Ich werde dich daran erinnern.“

Es war eine Menge los auf der A 5, doch immerhin waren sie bislang in keinen Stau geraten. Während Margareta mit ihrem Mann telefonierte, dachte Fassrath über Lisa nach. Er hatte den harmlosen Flirt genossen. Andererseits hatte er ein schlechtes Gewissen. Er war sich ziemlich sicher, dass Lisas Interesse an ihm stärker war als umgekehrt, und es war unfair, ihr falsche Hoffnungen zu machen. Und nicht nur ihr. Er hatte Margaretas zufriedenes Grinsen bemerkt, als sie ihn und Lisa beobachtet hatte – sie brannte schon seit langem darauf, ihn zu verkuppeln. Er seufzte. Es könnte alles so einfach sein.

Margareta hatte ihr Gespräch beendet und legte das Handy auf die Ablage. „Grüße von Michael.“

„Danke. Welchen Film habt ihr denn gestern Abend angeschaut?“

„Per Anhalter durch die Galaxis“, sagte Margareta und verdrehte die Augen. „Ich bin nur mitgegangen, weil Michael ihn unbedingt sehen wollte. Du weißt ja, dass ich mir nichts aus Science-Fiction mache.“

„Das ist keine klassische Science-Fiction, das ist mehr eine Parodie, das ist .... Kult ..., allein schon Marvin, der manisch-depressive Roboter ..., warum hat er mich nicht mitgenommen?“

Margareta sah Fassrath irritiert an. „Ich habe dich gefragt, ob du mit willst, weißt du nicht mehr? Aber du hast gesagt, du kannst nicht.“

Fassrath mochte den Mann seiner Kollegin. Michael arbeitete halbtags beim Karlsruher Sport- und Bäderamt, schmiss den Haushalt und kümmerte sich um den gemeinsamen Sohn Daniel. Vor ein paar Jahren hatten sie sich ein Häuschen mit einem kleinen Garten in Waldbronn gekauft. Michael war ein netter, etwas flippiger Typ mit Augenbrauenpiercing und Oberarmtattoo, ein schillernder Paradiesvogel unter den angepassten Anzugträgern, die sonst bei der Stadt arbeiteten. Sein Chef hatte ihn schon mehrmals darum gebeten, sich etwas konventioneller zu kleiden, was Michael aber wenig beeindruckte. Er war gut in seinem Job und kam mit seinen Kollegen aus – und das war das Wichtigste. Margareta war seit über zehn Jahren mit ihm verheiratet. Fassrath konnte sich noch gut an die Hochzeit erinnern. Kurz nach der standesamtlichen Trauung war bei Margareta die Fruchtblase geplatzt, und Fassrath hatte das frisch gebackene Ehepaar mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Daniel kam fast sechs Wochen zu früh und verbrachte die ersten Wochen seines Lebens im Brutkasten. Die eigentliche Hochzeitsfeier fand dann ein halbes Jahr später statt.

„Wie geht es meinem Patenkind?“

„Ganz gut. Er schreibt heute eine Mathe-Arbeit. Und er hat eine Freundin.“ Sie lächelte.

„Er ist noch nicht mal elf!“

„Sie ist neu in der Klasse, frisch zugezogen sozusagen. Sie wohnt bei uns um die Ecke. Sie holt ihn morgens ab, dann laufen sie zusammen zur Straba, und manchmal machen sie zusammen Hausaufgaben.“

„Als ich elf war, fand ich Mädchen doof.“

„Tja, mein Lieber, die Zeiten haben sich geändert.“ Sie betrachtete ihn von der Seite. „Du solltest dich auch mal wieder mit einer Frau verabreden.“

Er warf seiner Kollegin einen finsteren Blick zu. Warum musste sie immer wieder darauf herumreiten? Das Thema war sein wunder Punkt, und sie wusste es. Er war seit zwei Jahren geschieden. Corinna, seine damalige Frau, war nicht mit seinem Job zurecht gekommen, mit den unregelmäßigen Arbeitszeiten, den vielen Überstunden, den Fällen, die er mit nach Hause nahm, die ihn auch nach Feierabend nicht losließen, den Nächten, die er vor seinem Schreibtisch verbrachte, den Zeiten, in denen er sich innerlich von ihr zurückzog. Sie hatte mehrere Anläufe gemacht, mit ihm darüber zu sprechen, eine neue Basis für ihr Zusammenleben zu finden, doch es war ihr nicht gelungen, wirklich zu ihm durchzudringen.

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