Der Igel im Meer

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Er schluchzte. Seine Knie gaben unter ihm nach, und er zog sie mit sich hinunter. Schließlich saß sie, den Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Boden. Er hatte sich zusammengerollt, die Arme um ihre Taille geschlungen, den Kopf in ihrem Schoß.

„Du wirst bald wieder jemanden kennen lernen.“ Sie strich ihm über die Haare, streichelte sein Gesicht und wartete darauf, dass er sich beruhigen würde. ‚Mein Gott, was tue ich hier bloß!’ dachte sie.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Es war ihre Schuld, nicht wahr?“ Er sah sie so verzweifelt an, als hinge sein Leben oder zumindest sein Lebensglück von ihrer Antwort ab.

Sie spürte, wie sich ein Hauch Verachtung in ihr Mitleid schlich, und sie bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen. „Das ist nicht wichtig. Ihr habt einfach nicht zusammengepasst. Sei froh, dass du sie los bist.“

7. Kapitel

Hauptkommissar Vincent Fassrath radelte auf das hohe Eingangstor des Schlossparks zu. Der Polizeibeamte, der vor dem Tor Posten bezogen hatte, winkte ihn durch und sah kopfschüttelnd dem senffarbenen Liegerad hinterher, an dessen Gepäckträger irgendein Scherzkeks ein Polizeifähnchen befestigt hatte. Nach einer Weile verließ Fassrath den geteerten Weg und fuhr über die Wiese, das blinkende Blaulicht der Polizeiautos im Blick, das durch die Bäume schimmerte. Kurz hinter dem See hielt er an, heftete den Dienstausweis an seine Weste und lehnte das Rad gegen einen Baum.

Vor einer knappen Stunde hatte der verrückte Alfred die Leiche einer jungen Frau auf seiner Parkbank gefunden. Völlig außer Atem und einen penetranten Geruch nach Schweiß und Alkohol verströmend war er auf der Dienststelle eingetroffen und hatte etwas von einem toten Engel auf seiner Parkbank gefaselt. Franz Kuhn, der diensthabende Leiter, hatte den alten Stadtstreicher mit zwei seiner Leute kurzerhand in einen Streifenwagen gesetzt und sie beauftragt, ihn ‚nach Hause‘ zu bringen.

Der tote Engel lag noch genauso da, wie Alfred ihn vorgefunden hatte.

„Ach du Scheiße!“

Oberwachtmeister Gerhard Brenck drehte sich zu seinem jungen Kollegen Jürgen Engermann um, der auf das Gesicht der Toten starrte. Er wusste genau, was in Jürgen vorging. Die erste Leiche vergisst man nicht. Und dann noch so eine Schönheit.

„Gott, wie schrecklich!“

Brenck klopfte ihm auf die Schulter. „Mit der Zeit wird’s besser. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich ...“

„Das ist es nicht“, sagte Engermann. „Ich kenne sie.“

Als Fassrath eintraf, stand seine Partnerin Margareta Sturm neben der Bank und unterhielt sich mit einem Kollegen von der Spurensicherung. Der Fundort war bereits großräumig abgesperrt. Ein paar Jugendliche standen am Rand und versuchten, einen Blick auf die Leiche zu erhaschen.

Fassrath bückte sich unter einem der Absperrungsbänder durch, nickte seinen Kollegen zu und zog sich im Gehen Latexhandschuhe über. Ein Streifenwagen fuhr an ihm vorbei – auf dem Rücksitz erkannte er den Obdachlosen, dem er neulich seine letzten Zigaretten geschenkt hatte.

Margareta ging zu ihm hinüber. „Er hat sie gefunden, der arme Irre.“

Fassrath nickte. „Wissen wir schon was über sie?“

„Ich bin auch gerade erst angekommen“, sagte Margareta. Sie strich mit der Rückseite ihres Zeigefingers über sein Kinn. „Lässt du dir einen Bart wachsen?“

„Es ist Wochenende. Und mein Rasierschaum ist alle.“

„Was soll’s. Sie wird es nicht stören.“ Sie machte eine vage Geste in Richtung der Leiche. „Ich war mit Michael im Open-Air-Kino. Der Film hat gerade angefangen, aber ich hatte sowieso keine rechte Lust darauf. Ich habe mich fast gefreut, als das Handy geklingelt hat.“

Fassrath sagte nichts. Er wusste, dass Margaretas flapsige Sprüche und ihr manchmal etwas ruppiges Verhalten nicht echt waren. Es war nur ihre Art, mit der täglichen Konfrontation mit Tod und Gewalt umzugehen. Jeder musste seinen eigenen Abwehrmechanismus finden – oder sich einen anderen Job suchen. In den zwölf Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte Fassrath erst einmal erlebt, dass seine Kollegin die Fassung verloren hatte.

Er erinnerte sich noch sehr genau an den Fall, der auch ihm mehr an die Nieren gegangen war, als er zugeben wollte. Es war jetzt etwa sechs Jahre her, das Opfer ein vierjähriges Mädchen. Der Täter war nachts durch das offene Fenster des Kinderzimmers eingestiegen, hatte die Kleine betäubt und entführt. Eine Lösegeldforderung blieb aus, und für die Polizei begann ein Wettlauf gegen die Zeit. Der Hausmeister des Kindergartens, den das Mädchen besuchte, machte sich durch seine übertriebene Teilnahme verdächtig. Ein ohne sein Wissen durchgeführter DNA-Test bestätigte den Verdacht. In der Hoffnung, dass er sie zum Versteck des vermissten Kindes führen wurde, ließ ihn die Kripo überwachen, doch der Vater der Kleinen schlug den Entführer mit einem Baseballschläger zusammen. Während Fassrath ihn im Krankenhaus erfolglos verhörte, fuhr Margareta mit ihrem Team erst in die Hausmeisterwohnung, dann in den Kindergarten und schließlich in die Schule, in der der Täter zuletzt gearbeitet hatte.

In einem kleinen Kellerraum, der mit einem einfachen Vorhängeschloss gesichert war, wurden sie fündig, doch sie kamen zu spät. Das kleine Mädchen, das nackt und gefesselt auf einer feuchten Matratze lag, war bereits ins Koma gefallen und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Dreckskerl hatte sie verdursten lassen.

Es war fünf Uhr morgens, als Margareta das Krankenhaus verließ. Fassrath hatte währenddessen mit dem diensthabenden Arzt gesprochen und im Krankenhausflur auf seine Kollegin gewartet. Sie war noch nie so froh gewesen, ihn zu sehen. Sie nahm ihm den Kaffeebecher ab, den er ihr mitgebracht hatte und trank einen großen Schluck. Er registrierte die dunklen Schatten unter ihren Augen, das blasse Gesicht, die strähnigen Haare – vermutlich sah er selbst nicht besser aus. „Ich fahre dich nach Hause.“

Wortlos stieg sie zu ihm in den Wagen.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Kommst du klar?“

Sie nickte und sah aus dem Fenster.

Er richtete seinen Blick auf die Straße, ließ ihr Zeit.

Als sie in den Adenauerring einbogen, öffnete Margareta ihren Sicherheitsgurt. „Halt an!“ Sie presste die Hand vor den Mund.

Er bremste an der Einmündung eines ungeteerten Wegs, der in den Wald führte. Sie sprang aus dem Wagen, rannte ein paar Schritte, dann krümmte sie sich zusammen und erbrach den Kaffee. Mehr hatte sie nicht im Magen, doch der Brechreiz ließ nicht nach. Sie fiel auf die Knie, stützte sich mit beiden Händen auf den feuchten Waldboden und wartete darauf, dass das Würgen aufhörte. Tränen liefen ihr übers Gesicht, doch sie beachtete sie nicht. Fassrath ging zu ihr und gab ihr ein Taschentuch.

„Es geht schon wieder.“

Er griff nach ihrem Arm und half ihr beim Aufstehen. Er hatte damit gerechnet, dass sie seine Hand abschütteln würde und war erleichtert, dass sie es nicht tat.

Sie betrachtete ihre Fußspitzen. „Mein guter Ruf als taffe Polizistin ist jetzt wohl dahin.“

Fassrath boxte sie leicht auf den Arm. „Keine Angst, Gretchen, dein Geheimnis ist bei mir sicher.“ Seine Stimme klang ungewohnt weich, fast zärtlich.

Normalerweise mochte sie es nicht, wenn man sie ‚Gretchen’ nannte, aber dieses Mal hatte der so vertraute Spitzname etwas sehr Tröstliches. Sie sah ihn an, ihre Hände krallten sich in seinen Hemdkragen. „Ich fühle mich so schuldig. Wenn wir gleich in die Schule gefahren wären ...“, sie konnte nicht weitersprechen.

„Auch dann hätten wir sie nicht mehr retten können. Der Arzt hat gesagt, es war ein Wunder, dass sie noch solang gelebt hat. Durch die Dehydrierung haben ihre Organe nach und nach versagt und den Körper vergiftet. Sie war schon längst ins Koma gefallen.“

„Trotzdem ..., wenn wir uns gleich auf ihn konzentriert hätten ...“

„Hör’ auf damit, es hat doch keinen Sinn.“

„Sie war genauso alt wie Daniel. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ihm etwas passieren würde.“

„Ihm wird nichts passieren“, sagte Fassrath ruhig.

Sie nickte und schüttelte ihn leicht. „Du siehst Scheiße aus. Du solltest auch nach Hause fahren.“

Er löste sanft ihre Hände von seinem Kragen, wartete einen Augenblick, und als sie sich nicht rührte und er die Trauer in ihrem Blick nicht mehr ertragen konnte, zog er sie an sich. Wieder war er überrascht, dass sie ihn nicht wegstieß, sondern ohne zu zögern ihre Arme um ihn legte. Er strich ihr nicht über den Rücken, ihm fielen auch keine tröstenden Worte mehr ein, er hielt sie nur fest. Am liebsten hätte er mitgeweint. Sie standen eine ganze Weile so am Waldrand. Er wusste nicht, ob sie noch weinte, doch er wollte sie nicht loslassen. Auch ihm tat es gut, nach dem Grauen der letzten Stunden die Wärme eines lebendigen Wesens zu spüren. Und im Gegensatz zu Margareta wartete auf ihn zuhause niemand.

„Wenn du mich nicht gleich los lässt, schlafe ich auf der Stelle ein.“ Ihre Stimme klang dumpf. „Und wer weiß, ob du mich dann noch mal wach kriegst.“ Sie löste sich aus der Umarmung und putzte sich die Nase.

„Geht mir genauso“, sagte er und grinste unsicher. Sie grinste zurück. Er neigte seinen Kopf und lehnte für einen Moment seine Stirn an ihre.

„Danke.“ Sie sagten es beide gleichzeitig.

„Sofia Stern, achtundzwanzig Jahre.“ Die Stimme des Rechtsmediziners holte Fassrath wieder in die Gegenwart zurück. Johannes Gramling machte diesen Job schon seit über dreißig Jahren. Es gab nicht viel, was ihn noch erschrecken konnte. Mit seiner wilden grauen Mähne, die er, wie stets bei der Arbeit, mit einem Gummiband undefinierbarer Farbe zu einem dicken Pferdeschwanz gebändigt hatte, und der John-Lennon-Brille sah er aus wie ein alternder Hippie. Er war über einsneunzig groß und hager, was ihm in Kollegenkreisen den Spitznamen ‚Little John’ eingebracht hatte. Jetzt hatte er sich über die Leiche gebeugt und leuchtete ihr mit einer Stablampe ins Gesicht.

 

Margareta trat neben ihn. „Woher weißt du das?“

Gramling zeigte auf Engermann, der ein paar Schritte neben ihnen mit verschränkten Armen an einem Baum lehnte und ziemlich mitgenommen aussah. „Unser junger Kollege hat sie gekannt.“

Margareta legte Engermann die Hand auf die Schulter. „Alles klar bei Ihnen?“

Er schluckte und nickte.

„Woher kennen Sie das Opfer?“

„Wir haben uns bei einem Volkshochschulkurs kennen gelernt.“

„Was war das für ein Kurs?“

Engermann wurde rot. „Ist das wichtig?“

„Kommen Sie schon, Jürgen, wenn es ein VHS-Kurs war, kann es ja nicht so schlimm gewesen sein.“

Der junge Beamte kaute verlegen auf seiner Unterlippe. „Das bleibt aber unter uns, oder?“

Fassrath mischte sich ein. „Mensch, Engermann, Sie wissen doch, wie es läuft. Es kommt ganz darauf an, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Kurs und dem Mord. Also?“

Engermann schaute sich um, nahm Fassrath am Arm und zog ihn auf die Seite. „Es war so ein Psychokurs. ‚Entdecke dein inneres Kind’.“

Fassrath verzog keine Miene. „Wann war der Kurs?“

„Er läuft noch, immer mittwochs. Es ist einer dieser Sommerkurse – er hat vor drei Wochen angefangen. Beim ersten Mal haben wir uns alle vorgestellt. Deshalb weiß ich ihren Namen.“

„Wie viele Teilnehmer?“

„Acht. Ich bin der einzige Mann.“ Engermann nahm seine Polizeimütze ab und drehte sie in den Händen als wäre er ein Bauer, der vor seinem Lehnsherrn steht. „Hören Sie, Chef, ich möchte nicht, dass die Kollegen davon wissen. Ich hab’ echt keinen Bock auf ihre blöden Witze.“

„Wer leitet den Kurs?“

„Ein Psychologe, er heißt Bernhard Bäuerle.“

Fassrath nickte. „Okay, Engermann, jetzt machen Sie sich mal nicht ins Hemd. Wir müssen natürlich jeder Spur nachgehen. Aber ich werde versuchen, Ihren Namen da möglichst rauszuhalten. Was wissen Sie über Sofia Stern?“

„Sie lebt seit zwei Jahren in Karlsruhe. Und sie arbeitet bei einer Model-Agentur.“

„Aha. Wissen Sie, wo sie wohnt?“

„Irgendwo in der Südstadt.“

Fassrath griff nach seinem Handy und rief die Auskunft an. Er hatte Glück. Sie war unter Stern, Sofia und Marbach, Martin mit kompletter Adresse im Telefonverzeichnis eingetragen.

„Wussten Sie, dass sie mit einem Mann zusammenlebt?“

Engermann sah überrascht aus. „Sie hat keinen Freund erwähnt.“

„Er muss nicht ihr Freund sein. Vielleicht teilen sie sich nur die Wohnung.“ Fassrath entließ seinen jungen Kollegen mit einem Klaps auf die Schulter. „Danke Engermann. Und ... ich finde es gut, dass Sie etwas für sich tun.“

Er ging zurück zu Margareta und Gramling und betrachtete nachdenklich das bleiche Gesicht der toten jungen Frau. „Rot wie Blut, weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz ...“, murmelte er.

Margareta warf ihm einen schiefen Blick zu und wandte sich wieder an den Arzt. „Wie ist sie gestorben?“

„Jedenfalls nicht durch einen vergifteten Apfel. Halt mal!“ Gramling gab ihr die Lampe und strich die langen dunklen Haare des Opfers zur Seite. „Seht ihr diesen Schnitt am Hals? Er hat ihr die Halsschlagader aufgeschnitten und sie ausbluten lassen.“

Fassrath verzog angewidert das Gesicht. „Du meinst ...“

„ ... regelrecht geschlachtet, ganz genau, und vorher an den Füßen aufgehängt.“ Er zeigte ihnen die rötlichen Male an ihren Fußgelenken. Sie hatte sehr gepflegte Füße, die Fußnägel waren hellrosa lackiert. „Außerdem hat er ihr auch noch die Pulsadern geöffnet. Schneewittchen dürfte nicht mehr allzu viel Blut im Körper haben.“

„Woher kommen die Druckstellen am Hals?“ Fassrath deutete auf die selbst im grellen Licht der Lampe kaum wahrnehmbaren Verfärbungen, die sich in unregelmäßig verteilten Flecken von der Unterseite des Kinns bis zum Abschluss des Halses ausgebreitet hatten.

Gramling tippte an seine Brille und kniff die Augen zusammen. „Kann ich dir im Moment nicht sagen, es sind aber keine Würgemale, wenn du das meinst. Sieht fast wie ein Ausschlag aus.“

„Hat sie’s mitgekriegt?“

„Unwahrscheinlich. Er hat sie vorher niedergeschlagen, vermutlich war sie bewusstlos.“ Er deutete auf die Platzwunde am Hinterkopf. „Außerdem muss er ihr die Haare gewaschen haben.“

Margareta trat gegen die Bank. „Das vierte Opfer in zwei Monaten, und wir sind noch keinen Schritt weiter.“

„Dasselbe Muster wie bei Susanne Kolb“, sagte Fassrath. Susanne Kolb galt als das erste Opfer des ‚Vampirs’. Sie war vor zwei Monaten in ihrem Häuschen in der Heidenstückersiedlung getötet worden. Ihr Mörder hatte zwei Gürtel aus ihrem Kleiderschrank zu Fußschlaufen umfunktioniert, sie an einem Heizungsrohr unter der Decke des Badezimmers angebracht, sein bewusstloses Opfer kopfüber aufgehängt und ihr die Kehle durchgeschnitten. Die Leiche hatte er unbemerkt in den botanischen Garten gebracht und dort ebenfalls auf einer Bank abgelegt. Die Presse hatte sehr ausführlich über den Fall berichtet.

„Könnte natürlich auch ein Nachahmungstäter gewesen sein“, gab Gramling zu bedenken. „Sie passt schon altersmäßig nicht ganz in sein Muster. Die anderen Frauen waren alle Mitte dreißig.“

„Kannst du schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“, fragte Fassrath.

„Der Körpertemperatur nach zu urteilen unter Berücksichtigung des starken Blutverlustes und der Außentemperatur würde ich sagen, später Vormittag. Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich sie auf meinem Tisch habe.“

Margareta gab Gramling die Taschenlampe zurück.

Sie beobachteten eine kleine Kolonne von Streifenwagen, die sich langsam dem Fundort der Leiche näherten und eine vielköpfige Suchmannschaft ausspuckten, die, mit Suchscheinwerfern und Plastikbeuteln bewaffnet, den Park nach Spuren und verdächtigen Gegenständen durchkämmten. Halblaut erteilte Anweisungen mischten sich mit dem aufgeregten Gebell der Spürhunde. Es würde eine lange Nacht werden.

Fassrath massierte sich den Nacken, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte. „Bringen wir’s hinter uns.“

8. Kapitel

Sofia Sterns Wohnung lag mitten in der Südstadt, schräg gegenüber der ‚Schauburg’, eines alten Kinos mit Kultstatus, und Veranstalter der Open-Air-Kino-Nächte am Schloss Gottesaue. Hier gab es regelmäßig Filmpremieren, bei denen gelegentlich sogar der Regisseur oder einer der Schauspieler zugegen waren, um hinterher mit dem Publikum zu diskutieren. Quer über die Straße waren an einigen Stellen Schnüre gespannt, an denen Flaggen aus allen möglichen Ländern hingen – ein Überbleibsel der Fußball-Weltmeisterschaft. In ‚Klein-Kreuzberg’, wie dieser Stadtteil häufig genannt wurde, ging es um diese Uhrzeit noch sehr lebhaft zu. Türken, Griechen, Italiener und Deutsche, hauptsächlich Jugendliche trafen sich auf der Straße, unterhielten sich, tranken, stritten, baggerten Mädchen an. Vom Multi-Kulti-Flair angezogen, wohnten hier auch viele Studenten.

In der Marienstraße selbst war alles zugeparkt. Margareta fuhr um die Ecke und stellte den Wagen in der Baumeisterstraße an der Rückseite des Badischen Staatstheaters ab. Direkt neben dem Haus, in dem Sofia Stern wohnte, befand sich ein Dönerladen. Die Tür stand offen, und ein penetranter Geruch nach gegrilltem Fleisch und Knoblauch wehte ihnen entgegen.

Kurz nachdem Margareta auf den Klingelknopf gedrückt hatte, summte der Türöffner. Das Treppenhaus war schwach beleuchtet, es roch nach kaltem Rauch. Margareta und Fassrath liefen hoch in den dritten Stock. Fassrath hob gerade die Hand um zu klopfen, da wurde die Tür von innen aufgezogen. Er warf einen Blick auf sein Gegenüber und erschrak. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück und trat seiner Kollegin auf den Fuß.

Vor ihnen stand das Ebenbild von Sofia Stern. Nur die Haare waren etwas kürzer, und sie hatte eine normale Gesichtsfarbe.

Er schluckte und sagte das Erste, was ihm in den Sinn kam: „Öffnen Sie immer die Tür ohne zu fragen, wer davorsteht?“

„Die Sprechanlage ist kaputt“, sagte sie. „Wer sind Sie?“

Er zückte seinen Dienstausweis. „Fassrath, Kriminalpolizei, das ist meine Kollegin Sturm, und Sie sind?“

„Silvana Stern.“

„Dürfen wir reinkommen?“

Sie nahm ihm den Ausweis ab und betrachtete ihn genau, als wollte sie im Nachhinein beweisen, dass sie doch nicht so vertrauensselig war, wie er dachte. Sie gab ihn ihm zurück und führte die Besucher durch einen kleinen dunklen Flur in die Küche.

„Ist Herr Marbach auch zuhause?“, fragte Margareta.

„Martin? Der ist schon vor einem halben Jahr ausgezogen.“ Silvana setzte sich auf einen der vier Stühle am Küchentisch und zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an. Nach dem ersten tiefen Zug lehnte sie sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Was wollen Sie von ihm?“

„Wir sind nicht wegen Herrn Marbach hier, sondern wegen Ihrer Schwester Sofia“, sagte Fassrath.

„Wegen Sofia? Sie hat doch nichts angestellt, oder?“ Silvana lachte nervös.

Fassrath warf seiner Kollegin einen ‚Mach-du-mal’-Blick zu.

Margareta setzte sich Silvana gegenüber. „Wohnen Sie mit ihrer Schwester zusammen?“

Die junge Frau zupfte sich ein Tabakfädchen von der Lippe und deponierte es im Aschenbecher. „Nein, ich bin nur zu Besuch hier. Ich wohne in Freiburg. Wir waren am Freitagabend zusammen auf dem Fest.“

Seit mehr als zwanzig Jahren war das Gelände der Günter-Klotz-Anlage, eine ausgedehnte Freizeitanlage an der Alb, auch ‚Klotze’ genannt, für ein Wochenende im Sommer Schauplatz für das größte Open-Air-Spektakel in der Region, genannt ‚das Fest’. Fassrath erinnerte sich wehmütig an einen verregneten Freitagabend vor vielen Jahren. Eine irische Band, deren Namen er vergessen hatte, hatte gespielt, und Corinna und er hatten sich im strömenden Regen zum ersten Mal geküsst. Er unterdrückte einen Seufzer, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.

Silvana drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus und verschränkte die Arme, vielleicht, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. „Jetzt sagen Sie schon, warum Sie hier sind!“

„Wann haben Sie Sofia zum letzten Mal gesehen?“

Fassrath sah die Angst, die in den dunklen Augen der jungen Frau aufflackerte, als sie zu begreifen begann, was die Frage der Kriminalbeamtin schlimmstenfalls bedeuten konnte. Er hatte diesen Blick schon oft gesehen, und doch schnitt ihm diese seltsame Kombination aus wachsender Verzweiflung und sterbender Hoffnung jedes Mal aufs Neue ins Herz. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, damit umzugehen. Gefühle, wie Mitleid zuzulassen. Auf seine Weise den Schmerz der Hinterbliebenen zu teilen, half ihm dabei, ihr Vertrauen zu gewinnen und wenigstens einen Teil seines inneren Friedens zu wahren.

Silvana erwiderte seinen Blick und sah schnell wieder weg. „Gestern Morgen. Wir waren frühstücken im Café Palaver. Dann hatte sie einen Termin wegen eines Jobs. Sie arbeitet als Model bei ‚Show Your Face’. Silvana schluckte. „Ihr ist doch nichts passiert, oder?“

Margareta atmete tief durch, beugte sich etwas vor und sah der jungen Frau in die Augen. „Ihre Schwester ist tot, Frau Stern. Es tut mir sehr leid.“

Silvana schnappte nach Luft. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, was ihre Ähnlichkeit mit der Toten ins Groteske steigerte. „Erzählen Sie nicht so einen Quatsch. Ich habe heute Morgen noch mit ihr telefoniert. Sie ist spät aufgestanden und wollte um eins auf eine Grillparty zum Grötzinger Baggersee. Wahrscheinlich ist sie immer noch dort.“ Sie griff nach einem Handy, das auf dem Tisch lag. „Hier, ich rufe sie an, dann können Sie selbst mit ihr sprechen.“ Ihre Hände zitterten so stark, dass sie die Tasten nicht bedienen konnte. Margareta stand auf, ging zu ihr und nahm ihr das Handy aus der Hand. Sie blieb neben der jungen Frau stehen und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Fassrath öffnete den Kühlschrank, fand eine Flasche, in der noch ein Rest Ouzo war, goss etwas davon in ein Wasserglas, das auf dem Trockengestell neben der Spüle stand und stellte es vor Silvana auf den Tisch. „Hier, trinken Sie das.“

Als er die Kühlschranktür schloss, fiel sein Blick auf einen Notizzettel, der mit einem Magnet in Form eines Mini-Eiffelturms an die Tür geheftet war: ‚Samstag, 20:00 Uhr, Blue Saloon’. Er nahm den Zettel und steckte ihn in die Tasche.

 

Sie reagierte nicht auf seine Worte, starrte auf den Tisch und fuhr mit dem Zeigefinger eine Linie der Holzmaserung nach. „Sie hatte einen Unfall, nicht wahr? Ich habe ihr immer gesagt, dass sie zu schnell fährt.“

Margareta griff nach dem Glas und drückte es Silvana in die Hand. „Trinken Sie.“

Silvana leerte das Glas, verschluckte sich, hustete.

Margareta wartete einen Moment, dann sagte sie leise: „Sofia ist ermordet worden. Ein Obdachloser hat ihre Leiche im Schlosspark entdeckt.“

Die junge Frau drehte den Kopf und sah zu Margareta hoch. Sie sprang so heftig auf, dass ihr Stuhl umkippte. Mit einer einzigen Bewegung fegte sie das Handy, den Aschenbecher und das Glas vom Tisch und flüchtete aus der Küche ins Wohnzimmer. Sie hielt sich am Türrahmen fest und heulte auf. Es war ein fürchterliches Geräusch, das Fassrath durch Mark und Bein ging. Er dachte an das Seminar über professionelle Distanz, an dem er erst vor kurzem teilgenommen hatte. Es half nicht.

Margareta legte den Arm um Silvana und führte sie zu dem lindgrünen Ledersofa, das die Sitzecke im Wohnzimmer dominierte. Sie setzte sich neben sie. „Gibt es jemanden, den wir anrufen können?“

Silvana schüttelte den Kopf und zog die Nase hoch. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Der kurze Ausbruch war vorbei.

„Was ist mit Ihren Eltern?“, fragte Margareta.

„Sie wohnen in Freiburg. Sie ... wir ... haben beide kein besonders gutes Verhältnis zu ihnen. Sofia sieht sie zweimal im Jahr.“ Sie schluchzte auf, dann sprach sie weiter: „Ich fahre morgen früh zurück – ich werde es ihnen sagen. Besser ich, als die Polizei.“ Sie schüttelte Margaretas Arm ab, der noch immer um ihre Schulter lag und wandte sich an Fassrath: „Wer war es? Sie haben einen Verdacht, nicht wahr? Sagen Sie mir, wer es war. Ich will es wissen!“

„Nein, wir wissen es noch nicht“, sagte Fassrath. Er war froh, dass Silvana nicht danach fragte, wie ihre Schwester getötet worden war. „Aber vielleicht können Sie uns helfen. Wissen Sie, was Sofia gestern gemacht hat? Hat sie sich mit jemandem getroffen?“ Er klappte seinen Block auf und sah sie erwartungsvoll an.

Silvana griff nach einer Packung Kleenex, die auf dem Couchtisch stand, und putzte sich die Nase. „Sie hat einen Typen kennen gelernt. Sie haben sich schon ein paar Mal getroffen. Schien dieses Mal was Ernsteres zu sein. Mit dem hat sie sich gestern Abend verabredet. Sie hat mir gesagt, dass sie nicht nach Hause kommen würde, also habe ich mir keine Gedanken gemacht.“

„Sie war mit dem Auto unterwegs, nicht wahr?“

Silvana nickte. „Haben Sie es gefunden?“

„Nein, aber wir werden es suchen. Können Sie uns das Kennzeichen sagen?“

„KA-OS – die Zahl weiß ich nicht. Ein graublauer Twingo.“

„Wissen Sie, wo sie sich getroffen haben?“, fragte Fassrath gespannt.

„In irgend so einem Edelschuppen in der Innenstadt.“

Fassrath holte den Zettel aus der Tasche. „Könnte es der Blue Saloon gewesen sein?“

„Keine Ahnung.“

„Wie hieß der Typ?“, fragte Fassrath.

Silvana überlegte. „Sein Vorname ist Leo. Sie kannte ihn seit ein paar Wochen. Wenn der es war, der sie umgebracht hat, dann finde ich ihn und dann ...“ Sie knüllte das Taschentuch so fest zusammen, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Nur, weil sie sich mit ihm verabredet hat, heißt das noch lange nicht, dass er der Mörder ist“, sagte Fassrath, „aber wir gehen natürlich jedem Hinweis nach.“ Er machte sich eine Notiz. „Wissen Sie, ob Ihre Schwester ein Tagebuch geführt hat?“

Silvana schüttelte den Kopf. „Früher haben wir beide Tagebuch geschrieben. So zwischen vierzehn und sechzehn. Wir haben uns immer gegenseitig daraus vorgelesen.“

Margareta sah sich im Wohnzimmer um. Es sah aus, als wäre es frisch renoviert worden. Die Wände waren in einem warmen Apricot gestrichen, die Möbel waren schlicht und edel. Gegenüber der Sofaecke befand sich ein Sammelsurium modernster Unterhaltungselektronik, LCD-Fernseher, DVD-Recorder, Stereoanlage. Hinter einem Paravent, der mit der gleichen Tapete wie die Wände bespannt war und als Raumteiler fungierte, stand ein kleiner Schreibtisch.

Margareta stand auf. „Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns den Rest der Wohnung ansehen?“

„Machen Sie nur.“ Sie ging ihnen voran ins Schlafzimmer und blieb in der Tür stehen.

Das Schlafzimmer war relativ klein. Am Fenster stand ein französisches Bett, die Bettwäsche aus dunkelrotem Satin erinnerte Margareta an die Fleecedecke im Park. An den Wänden hingen zwei gerahmte Akt-Fotografien eines wunderschönen Frauenkörpers in Schwarzweiß. Es waren Kunstwerke aus Licht und Schatten. Die Konturen waren verwischt, das Gesicht nicht zu erkennen. Auf dem Nachttisch lagen ein paar Modezeitschriften. Margareta öffnete den Kleiderschrank. Kleider, Röcke, Hosen und Blusen waren ordentlich aufgehängt. In den Regalen stapelten sich T-Shirts und Pullis – farblich sortiert. Die helle Kommode enthielt hauptsächlich teure Unterwäsche und ein paar seidene Nachthemden. Ein aufgeklappter Koffer lag neben der Kommode.

„Schlafen Sie in Sofias Bett, wenn Sie hier sind?“

„Das Bett ist groß genug. Außerdem übernachtet sie nicht immer hier.“

„Auch nicht, wenn Sie sie besuchen?“

Silvana strich mit der Hand über den roten Satin. „Ich komme manchmal hierher, wenn es mir in Freiburg zu eng wird. Manchmal muss ich einfach raus. Sofia ist viel unterwegs, und ich habe einen Schlüssel.“

Margareta betrachtete nachdenklich den Koffer. „Leben Sie allein, Frau Stern?“

Silvana nickte. „Wissen Sie, ich ... ich bin nicht wie Sofia.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sofia kann nicht allein sein. Und wenn sie keinen festen Freund hat, dann ...“ Sie brach ab.

„Dann ...?“, hakte Margareta nach.

„Na ja, Sie wissen schon. Sie hatte sehr viele Verabredungen. Sie wollte Spaß haben und etwas erleben.“ Sie begann wieder zu weinen.

Fassrath inspizierte das Badezimmer. In einem dreitürigen Spiegelschrank, der über dem Waschbecken hing, bewahrte Sofia ihre Schminksachen auf. Etwa fünfzehn Lippenstifte standen farblich sortiert nebeneinander, Gesichtspuder, Lidschatten, Kayalstifte, Wimperntusche – alles war ordentlich verstaut. Auch die Hausapotheke war darin untergebracht, Heftpflaster, Wundsalbe, Kopfschmerztabletten, Nasenspray. Neben der Duschkabine befand sich ein weiterer Schrank, der Handtücher, Waschlappen und Hygieneartikel enthielt. Im oberen Fach lag eine Wärmflasche, die in einem Plüschüberzug in Froschform steckte. Das Medizinschränkchen war abgesperrt, doch der Schlüssel steckte. Es enthielt keine Medikamente, sondern eine Auswahl an kuriosen Kondomen und eine Schachtel mit Sexspielzeugen.

Zurück im Wohnzimmer zog Fassrath die erste Schublade des Schreibtisches auf und holte einen Stapel Post heraus. Es waren hauptsächlich Rechnungen und Zahlungserinnerungen.

„Hatte Sofia finanzielle Probleme?“

Silvana zuckte die Achseln. „Sie hat nie was davon gesagt. Sie hat sich eben gern teure Klamotten gekauft.“

„Und sich teure Urlaube geleistet.“ Margareta nahm einen der Hochglanzprospekte in die Hand, die auf dem Schreibtisch lagen.

Silvana schüttelte den Kopf. „Sie ist oft eingeladen worden.“

„Von wem?“

„Von den Typen, die sie kennen gelernt hat.“

„Kannten Sie diese Männer auch?“

„Nein, es ging meistens nur ganz kurz. Und ehrlich gesagt: So genau wollte ich es gar nicht wissen. Wir haben kaum darüber gesprochen.“

Die restlichen Schubladen enthielten nur die üblichen Büroutensilien. „Hatte sie einen Terminkalender?“

„Ja, den hatte sie immer dabei.“

Fassrath zeigte auf den Laptop. „Wir würden gern ihre E-Mail-Kontakte überprüfen. Kennen Sie ihr Passwort?“

Silvana schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren rot und geschwollen, und sie sah elend aus, aber sie zitterte nicht mehr, und ihr Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen. „Nehmen Sie alles mit, was Sie wollen, aber gehen Sie jetzt bitte. Ich würde gern allein sein.“