Der Igel im Meer

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Weber blieb stehen und rückte seinen Rucksack zurecht. Die Riemen schnitten ihm in die Schultern. Das Herz wurde ihm schwer, wenn er daran dachte, dass er sich dieses Jahr wohl für den Winter eine Bleibe würde suchen müssen. Er war zu alt, um, nur durch einen zerschlissenen Schlafsack vor der Eiseskälte geschützt, unter einer Brücke zu schlafen, wo er seine Essensvorräte gegen Ratten verteidigen musste. Aber noch war Sommer, und die Nächte waren mild.

Nicht weit weg vom See gab es eine Baustelle. Die Stadt war dabei, einen weiteren Spielplatz anzulegen. Und dort hatte er vor ein paar Tagen die Bank entdeckt. Vom Weg aus konnte man sie nicht erkennen, weil sie durch Büsche verdeckt war. Es sah aus, als hätte man sie dort rein zufällig hingestellt. Wahrscheinlich war sie den Arbeitern im Weg gewesen. Für Weber war sie das ideale Schlafquartier, wenigstens so lange, bis die Bauarbeiten beendet sein würden. Außerdem verirrten sich die Schlossparkbesucher nur selten hierher, so dass er meistens seine Ruhe hatte.

Umso erstaunter war er, als ihm kurz vor seinem Ziel ein bärtiger Mann entgegenkam, der einen leeren Rollstuhl, über dessen Rückenlehne eine Jacke hing, vor sich her schob und ihn fast anrempelte. Er trug eine grüne Baseballmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte.

Weber lief ein paar Schritte weiter, dann drehte er sich noch einmal nach dem Fremden um und beobachtete, dass dieser stehen geblieben und jetzt neben dem Rollstuhl in die Hocke gegangen war, um einen kleinen Zweig zu entfernen, der sich in einem der Räder verhakt hatte. Die Jacke war heruntergerutscht und lag auf der Erde, so dass Weber freie Sicht auf die Rückseite des Rollstuhls hatte. Er entdeckte einen Aufkleber. Auf die Entfernung konnte er nur verschwommene Zacken- und Wellenlinien erkennen, die sich in seiner Phantasie zu einem Bild zusammenfügten von einem kleinen Igel, der im Meer schwamm und sich von den Wellen schaukeln ließ.

‚Der kleine Igel Fridolin zieht in die weite Welt, die Nase in die Luft gestreckt, die Stacheln aufgestellt.’ Weber spürte ein heftiges Stechen in der Brust, wie immer, wenn er ohne Vorwarnung mit seinem früheren Leben konfrontiert wurde, als er für einen kleinen Verlag Kinderbücher illustriert hatte, um sein Theologiestudium zu finanzieren, als er noch mit Peter zusammen gewesen war und voller Optimismus in die Zukunft gesehen hatte, die ihm so rosig erschienen war, wie die Seidenschleifen, die die Einladungskarten zu Peters vierzigstem Geburtstag verziert hatten. Er sprach ein kurzes Gebet, und es gelang ihm, die Erinnerung beiseite zu wischen.

Er überlegte, ob er zu dem Fremden zurückgehen und ihn darauf hinweisen sollte, dass die Jacke heruntergefallen war, aber seine innere Stimme riet ihm davon ab, und er setzte seinen Weg fort.

Als er kurze Zeit später bei seiner Bank ankam, stellte er verärgert fest, dass sie schon besetzt war – schlimmer noch: da lag jemand. „He, hau ab, das ist mein Platz. Such’ dir was Eigenes!“

Die Gestalt war bis zum Hals mit einer dunkelroten Fleecedecke zugedeckt und rührte sich nicht.

Weber schlurfte näher, stellte den Rucksack ab und beugte sich über den Schlafenden, um ihn wachzurütteln. Verdutzt hielt er inne. Vor ihm lag eine junge Frau, und sie sah nicht aus wie eine Stadtstreicherin. Sie sah aus wie ein Engel, ihr Gesicht, als wäre es von einem meisterhaften Bildhauer mit viel Liebe zum Detail aus weißem Marmor gemeißelt worden.

Erschrocken trat er zwei Schritte zurück, bekreuzigte sich, griff nach seiner Schnapsflasche und leerte sie in einem einzigen Zug. In seinem Magen breitete sich Wärme aus, und er entspannte sich etwas.

Er wartete darauf, dass etwas passierte, dass sich die himmlische Lichtgestalt erheben und ihm ihre Botschaft verkünden, oder einfach dahin zurückkehren würde, woher sie gekommen war, aber nichts geschah.

Schließlich gab er sich einen Ruck, schaltete die kleine Taschenlampe an, die er immer bei sich trug, trat vorsichtig näher und hob die Decke an. Ihr kurzes rotes Sommerkleid war bis zum Bauch hoch gerutscht, darunter trug sie einen hauchdünnen Slip, durch den das dunkle Dreieck ihrer Scham hindurchschimmerte. Hastig deckte er sie wieder zu. Mit zwei Fingern berührte er ihre Wange – ihre Haut war kalt. Dann sah er die feine dunkle Linie an ihrem Hals. Und er begriff.

5. Kapitel

„Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Männer und Frauen sind.“ Hannas Gegenüber lehnte sich zurück und sah sie an, als ob er für diese ausgesprochen intelligente Erkenntnis den diesjährigen Philosophiepreis erwarten würde.

Sie unterdrückte ein Gähnen und warf verstohlen einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten konnten ganz schön lang sein, wenn schon nach den ersten Sätzen klar war, dass man sich nichts zu sagen hatte.

„Glaub’ mir, das merke ich immer wieder“, schob er noch nach.

„Ach ja, woran denn?“

Er beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf sie. „Siehst du, das ist genau das, was ich meine.“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll. „Ein Mann hätte mir einfach nur Recht gegeben, eine Frau muss immer alles hinterfragen.“ Er lehnte sich wieder zurück, verschränkte die Arme und warf ihr einen triumphierenden Blick zu.

Das konnte ja heiter werden. Und ‚Nenn-mich-Joe’ alias Johannes-Gottfried, wie er sich in winzigen wie gestochen wirkenden Buchstaben auf seinem Namensschild verewigt hatte, war nur der erste von zwölf Männern, die Hanna heute beim ‚Late-Nite-Speed-Dating’ kennenlernen durfte. Na gut, genaugenommen waren es elf, Harald kannte sie bereits. Er war Journalist und wollte einen Artikel über moderne Methoden des Kennenlernens schreiben war also sozusagen undercover hier. Hanna hatte er gebeten mitzukommen, um ihm dann ihre Eindrücke aus weiblicher Sicht mitzuteilen.

Sie lächelte unverbindlich, haarscharf an Johannes-Gottfrieds linkem Ohr vorbei, dann riss sie sich aber zusammen und versuchte, sich an die Liste mit Fragen zu erinnern, die ihr Harald ans Herz gelegt hatte. „Bist du das erste Mal bei einem Speed-Dating?“

Daraufhin folgte ein längerer Monolog über die Singleszene im Allgemeinen und die Möglichkeiten, in dieser Stadt interessante Frauen kennen zu lernen, im Besonderen. Nötig hätte er das ja nicht, betonte er, er würde auch so genügend Angebote bekommen.

Als Hanna fragte, warum er denn dann hier wäre, ertönte der Gong.

„Darüber können wir uns bei unserem nächsten Treffen unterhalten“, sagte er noch und stand auf, um die nächste Kandidatin mit seinen Weisheiten zu beglücken.

Die Verkupplungs-Aktion fand in einer schummrigen Bar in der Nähe des Hauptbahnhofs statt. Das fensterlose Kellergewölbe war in ein warmes rotgoldenes Licht getaucht, das wohl eine romantische Atmosphäre schaffen sollte. Zumindest schmeichelte die schwache Beleuchtung der äußeren Erscheinung der Teilnehmer. Im Hintergrund lief eine Kuschelrock-CD. Zwölf kleine Tische mit jeweils zwei Stühlen waren im Raum verteilt. Auf jedem standen jeweils eine schmale weiße Kerze und eine gläserne Vase, die eine einzelne rote Rose enthielt. An den Vasen lehnten kleine Schilder, die mit einer Nummer zwischen eins und zwölf bedruckt waren.

Der Veranstaltungsleiter hatte ihnen an der Bar eine kurze Einführung in den Ablauf des Abends gegeben. Daraufhin hatte jede Frau eine Nummer gezogen, sich an den entsprechenden Tisch gesetzt und auf den ersten Kandidaten gewartet.

Hanna trank einen Schluck von ihrem ‚Sex on the Beach’ und wappnete sich für die Begegnung mit Nummer zwei. Sie war froh, dass sie sitzenbleiben durfte und den Männern die Aufgabe zufiel, weiterzuwandern.

Nummer zwei ließ sich auf den gerade frei gewordenen Stuhl fallen und zerrte an seiner Krawatte. Nachdem er sie zusammengeknüllt und in seinen Aktenkoffer gestopft hatte, öffnete er den obersten Hemdknopf und wischte sich mit einem karierten Stofftaschentuch über die Glatze. „Verdammt heiß hier drin.“ Er kniff die Augen zusammen, und Hanna registrierte verwirrt, dass er auf ihren Busen starrte.

„Hallo Hanna“, sagte er schließlich und sah ihr in die Augen. Ach so, das Namensschild. Sein Name war Herbert. Wenigstens wollte er nicht ‚Herby’ genannt werden. „Und, schon mal bei so was gewesen?“

Das war doch eigentlich ihre Frage. „Nein, das ist das erste Mal“, antwortete sie wahrheitsgemäß, „und du?“

Auch von den nächsten vier Kandidaten riss sie keiner vom Hocker. Sie war ein bisschen enttäuscht. Sie hatte sich das Ganze spannender vorgestellt.

Nummer Sieben, ein schmächtiger Jüngling mit mausbraunen Haaren und Pickeln auf der Stirn, der so penetrant nach Rasierwasser roch, als hätte er darin gebadet, kam zu ihrem Tisch, riss die Blume aus der Vase und hielt sie ihr unter die Nase. Wasser tropfte auf ihre Beine. „Du wolle Rose kaufe?“ Dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und brach in irres Gelächter aus.

Nummer Acht war Harald. „Na, amüsierst du dich?“

„Eigentlich nicht – nur Langweiler und Größenwahnsinnige bis jetzt.“ Sie warf einen Blick auf Nummer sieben, der am Nebentisch gerade einen Schmerzensschrei ausgestoßen hatte und jetzt wie ein Baby auf Schnullerentzug an seinem Daumen lutschte – anscheinend hatte er bei seiner Rosennummer einen Dorn erwischt. „Und Bekloppte.“

Harald folgte ihrem Blick und lachte. „Und sonst? Keiner, mit dem du dich verabreden würdest? Angenommen natürlich, du wärst Single.“

„Bis jetzt nicht. Und wie ist es bei dir gelaufen?“

„Nicht ganz so schlecht, ich erzähl’s dir nachher.“

„Wann war deine letzte Beziehung, wie lange hat sie gedauert und wer hat sie beendet?“

„Wie bitte?“ Irritiert hob Hanna den Kopf und sah, dass der zweite Stuhl an ihrem Tisch schon wieder besetzt war. Nummer neun trug zu Jeans und T-Shirt eine khakifarbene ärmellose Weste mit mehreren Taschen. Von seinem Äußeren her passte er – wie Harald sich ausdrücken würde – nicht in ihr Beuteschema. Sie stand auf dunkelhaarige, schlanke Männer – wie Paul. Dieser war blond, und unter seinem T-Shirt war die leichte Wölbung eines beginnenden Bauchansatzes zu erkennen. ‚Chris’ stand auf seinem Namensschild.

 

Er stellte sein halbvolles Colaglas auf dem Tisch ab und holte aus einer der Taschen einen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber. Als er eine Seite des Blocks umblätterte, flackerte die Flamme der Kerze bedenklich. „Wir haben fünf Minuten Zeit, um uns ein Bild voneinander zu machen“, sagte er ohne aufzusehen, „die sollten wir doch nicht mit Smalltalk verschwenden.“ Sein Kugelschreiber schwebte über dem Block, als wäre er ein Kellner und würde auf ihre Bestellung warten. Endlich hob er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. „Hast du ein Problem mit meiner Frage?“

Sie bemerkte eine feine, fast verblasste Narbe, die seine rechte Augenbraue leicht nach oben zog und seinem Gesicht einen Ausdruck wacher Aufmerksamkeit verlieh. Seine Wimpern waren so hell wie sein Haar. Sie lächelte spöttisch. „Wäre ein Diktiergerät nicht sinnvoller?“

Er legte Stift und Block auf den Tisch, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Er hatte ziemlich große Füße. „Also gut, spielen wir nach deinen Regeln. Über was willst du reden?“

„Erzähl’ mir, wie die anderen Frauen auf deine Frage reagiert haben.“

Er trank einen Schluck und strich sich über das stoppelige Kinn. „Dazu reicht die Zeit nicht. Außerdem geht es jetzt nicht um die anderen Frauen, sondern um dich und mich.“

„Das klingt ja ganz schön dramatisch.“

„Ist es auch.“ Plötzlich lachte er. „Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen, du sahst so gelangweilt aus.“

‚Ertappt’, dachte sie. Sein Lachen war ansteckend. Sie spürte, wie sich ihre Mundwinkel nach oben zogen. „Und wozu das Schreibzeug?“

„Ich habe ein schlechtes Gedächtnis, also schreibe ich die Namen auf und ein paar Stichpunkte dazu, dann kann ich später meine Eindrücke besser sortieren.“

„Und, was steht hinter meinem Namen?“

„Gar nichts, du bist die Erste, die mir auch so in Erinnerung bleiben wird.“

„Ach ja, warum denn? Weil ich nicht so reagiert habe, wie du erwartet hast?“ Allmählich begann die Unterhaltung, ihr Spaß zu machen.

Er grinste anerkennend, und die feinen Lachfältchen, in die seine graublauen Augen eingebettet waren, vertieften sich. Er gefiel ihr.

Mit einem Anflug schlechten Gewissens dachte Hanna an den Fragenkatalog, den ihr Harald ans Herz gelegt hatte. Andererseits war dieser Chris der Erste, der aus dem langweiligen Einheitsbrei der hier versammelten Männlichkeit herausstach. Er würde vielleicht Haralds Geschichte ein bisschen Würze verleihen.

Die fünf Minuten mussten bald um sein. Sie bewegte den Strohhalm in ihrem Cocktail hin und her und überlegte, was sie Chris noch fragen könnte.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. „Na, mach’ schon, du darfst mich fragen, was du willst.“ Er wandte sich ihr zu, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt, die Hände locker auf den Oberschenkeln und sah sie erwartungsvoll an. Er strahlte eine ruhige Selbstsicherheit aus, ohne den Eindruck von Ich-Bezogenheit zu vermitteln, und das machte ihn attraktiv. Sein Blick war konzentriert auf sie gerichtet. Immer noch lag ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht, das mehr von seinen Augen als von seinem Mund auszugehen schien.

Sie betrachtete die Vase, in der sich die Kerzenflamme spiegelte, und plötzlich wusste sie, was sie ihn fragen würde. „Wovor hast du Angst?“

Er runzelte die Stirn und antwortete nicht sofort. Sie freute sich, dass sie es geschafft hatte, ihn mit ihrer Frage zu überraschen. „Du musst nicht darauf antworten, wenn du nicht ...“

„Vor dem freien Fall“, sagte er. „Als ich achtzehn wurde, haben ein paar Schulfreunde zusammengelegt und mir einen Gutschein für einen Tandemfallschirmsprung geschenkt. Obwohl ich ziemlich Schiss davor hatte, kam es natürlich nicht in Frage zu kneifen. Als ich dann gesprungen bin, war es hundertmal schlimmer als ich es mir vorgestellt hatte.“ Sein Blick war nachdenklich geworden. “Ich habe so geschrien, dass ich eine Stimmbandentzündung bekommen habe.“

Hanna hatte mit einer flapsigem Antwort, einem coolen Spruch gerechnet, immerhin hatte sie ihm eine sehr persönliche Frage gestellt. Die Ernsthaftigkeit, mit der er darauf reagiert hatte, berührte sie.

Der Gong ertönte. Mist, gerade jetzt, wo es interessant wurde.

Chris erhob sich zögernd. Er war größer, als sie gedacht hatte. Er öffnete noch einmal den Mund, als ob er etwas sagen wollte, dann schien er es sich anders zu überlegen, zog die Oberlippe zwischen die Zähne und nickte kurz, als hätte er einen inneren Monolog geführt und wäre zu einer Entscheidung gekommen.

Impulsiv streckte sie ihm die Hand hin. „Hat mich gefreut.“

Sein Händedruck war kräftig. „Mich auch.“ Er sah sie lange an. „Sehr sogar.“ Erst als ihm Nummer Zehn auf die Schulter tippte und kopfschüttelnd auf seine Armbanduhr zeigte, ließ er ihre Hand los.

Ganz in der Nähe ertönten die ersten Takte eines Songs von Nickelback. Chris holte ein Handy aus einer seiner vielen Taschen, warf einen Blick auf das Display und seufzte. Dann entfernte er sich ein paar Schritte und telefonierte.

Der Veranstaltungsleiter kam auf ihn zu und sah ihn vorwurfsvoll an. Hanna beobachtete, wie er kurz mit Chris sprach und ihm ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber in die Hand drückte. Chris warf einen Blick auf den Zettel, machte irgendwo ein Kreuz, setzte seine Unterschrift darunter und verließ dann mit schnellen Schritten den Raum. An der Tür drehte er sich nach ihr um. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er, winkte ihr zu und ging.

6. Kapitel

Mit quietschenden Reifen bremste der anthrazitfarbene Jaguar vor dem Südeingang des Karlsruher Hauptbahnhofes. Zwei Rucksacktouristen sprangen erschrocken zur Seite, und ein Taxifahrer, dessen Fahrzeug er geschnitten hatte, drückte erst auf die Hupe und steckte dann den Kopf aus dem Fenster, um den Fahrer der Nobelkarosse anzubrüllen.

Unbeeindruckt von dem Aufruhr, den er verursacht hatte, sprang Benjamin Strasser aus dem Wagen, knallte die Tür zu und war schon halb in der Bahnhofshalle verschwunden, als er sich noch einmal umdrehte und hastig die Zentralverriegelung aktivierte.

Aus der Masse an Reisenden, die ihm von Gleis 2 entgegenkamen, schloss er, dass der ICE pünktlich eingetroffen war. Er rannte die Rolltreppe hinauf, rempelte einen alten Mann an und drängte sich an zwei Freundinnen vorbei, die nebeneinander auf einer Stufe standen und sich die Ohrstöpsel eines MP3-Players teilten.

Er sah sie sofort. Sie stand genau dort, wo sie ausgestiegen war, ihre Hand auf dem Griff eines Rollkoffers, auf dem sie ihre Aktentasche abgelegt hatte.

Als sie ihn erkannte, hob sie den Arm und sah demonstrativ auf die Uhr. Ungeduldig schob sie den Riemen der Handtasche, der von ihrer Schulter geglitten war, an seinen Platz zurück. Sie kam ihm keinen Schritt entgegen. „Du bist spät“, sagte sie kühl.

Er griff wortlos nach ihrem Koffer.

„Wie siehst du überhaupt aus?“ Mit klappernden Absätzen lief sie neben ihm her und betrachtete missbilligend die abgewetzten Jeans, das nicht mehr allzu saubere Hemd und die Turnschuhe ohne Schnürsenkel. „Und warum bist du so verschwitzt?“ Im Gegensatz zu ihm wirkte Britta von Hohenstein frisch und ausgeruht, obwohl sie, wie er wusste, einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Ihr hellgraues Kostüm saß perfekt. Es war elegant und zeitlos und so raffiniert geschnitten, dass es die körperlichen Attribute seiner Trägerin auf unaufdringliche Art hervorhob. Darunter trug sie eine figurbetonte lachsfarbene Bluse, es waren gerade so viele Knöpfe geöffnet, dass der Brustansatz und der spitzenbesetzte Abschluss ihres zur Bluse farblich passenden Dessous zu sehen waren.

Er stellte den Koffer auf der Rolltreppe ab und wandte sich zu ihr um. „Ich war joggen und habe mich in der Zeit verschätzt. Also bin ich direkt losgefahren.“

„Ich kann es nicht leiden, wenn man mich warten lässt.“

Er schob den Koffer von der Rolltreppe. „Zwei Minuten, Britta. Mach’ nicht so einen Wind.“

Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. „Was ist los, Ben?“

„Nichts.“

„Hast du Ärger mit deiner Freundin?“

Sie war sich nicht einmal sicher, dass er zurzeit eine Freundin hatte. Obwohl er ihr engster Mitarbeiter war, wusste sie über sein Privatleben so gut wie nichts. Zwei oder drei seiner Freundinnen hatte sie kennen gelernt, als sie ihn von der Arbeit abgeholt hatten. Alle waren sie Anfang zwanzig, hatten lange Beine und trugen kurze Röcke. Sie konnte sich weder an ihre Namen noch an ihre nichtssagenden hübschen Gesichter erinnern. Keine seiner Beziehungen schien lange zu halten. Leo hatte ihn kürzlich mit einer neuen Frau gesehen und gemeint, es wäre etwas Ernstes. Doch in letzter Zeit wirkte Ben oft abwesend und gereizt, was nicht gerade für ein glückliches Liebesleben sprach.

Er warf ihr einen bösen Blick zu.

Also doch. ‚Willkommen im Club‘, dachte sie.

Am Wagen angekommen, hielt er ihr die Beifahrertür auf und wartete, bis sie eingestiegen war. Nachdem er ihr Gepäck verstaut hatte, setzte er sich hinter das Steuer und ließ den Motor an.

„Warte.“ Sie zerrte an ihrem Sicherheitsgurt. „Das blöde Ding klemmt schon wieder.“

Als er sich über sie beugte, stieg ihm der schwere blumige Duft ihres Parfums in die Nase. Mit einem heftigen Ruck gelang es ihm, den Gurt herauszuziehen, dabei wurde sein Arm für einen Moment an ihre Brüste gepresst. Er sog scharf den Atem ein.

Sie senkte ihre Stimme zu einem verführerischen Flüstern: „Mach’ schon, steck’ ihn rein!“

„Was?“ Ungläubig starrte er sie an.

„Na los, schnall’ mich an, damit wir fahren können.“

Mit einem metallenen Klicken rastete der Sicherheitsgurt in die Halterung ein. Strasser trat das Gaspedal durch, und der Jaguar machte einen Satz nach vorn. Seine Hand zitterte leicht, als er den zweiten Gang einlegte. Der Wagen rollte vom Parkplatz und nahm Kurs auf die Südtangente.

„Du hättest eben dein Gesicht sehen sollen!“ Sie warf ihm von der Seite einen Blick zu und lachte.

Verdammtes Miststück! Er hasste sie dafür, dass sie so souverän war, so gelassen neben ihm saß, während er versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren und die sexuelle Spannung, die in der Luft lag, zu ignorieren. Er sah stur geradeaus und warf nur ab und zu einen Blick in den Rückspiegel.

Als sie von der Schnellstraße Richtung Durlach abfuhren, ertönten aus ihrer Handtasche die Anfangstakte von ‚La vie en rose’. Britta holte ihr Handy heraus und drückte auf die Annahmetaste. „Was gibt’s?“ Sie hörte einen Moment zu und trommelte gereizt mit den Fingern auf ihrer Handtasche. Trotzdem schaffte sie es, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu geben. „Kein Problem, ich bin todmüde, ich will nur noch duschen und ins Bett. Schönen Gruß an Konstantin!“ Sie klappte das Handy zu und warf es in die Tasche zurück.

„Leo?“, fragte Strasser scheinheilig.

„Wer sonst.“ Sie ließ den Verschluss der Handtasche zuschnappen. „Ganz der aufmerksame Ehemann – warte nicht auf mich, Schatz, es wird sicher spät.“

„Du tust ihm unrecht, er hat sich wirklich mit seinem Bruder verabredet. Ich war dabei, als er mit ihm telefoniert hat. Sie wollten ins Vogelbräu nach Ettlingen.“

Britta klappte den Sonnenschutz hinunter und warf einen Blick in den Spiegel. „Ja, ich weiß, es geht auch nicht um heute Abend. Er denkt, ich weiß nicht, mit wem er es den Rest des Wochenendes getrieben hat.“ Ohne Vorwarnung griff sie ihm zwischen die Beine. „Ihr Kerle seid doch alle gleich.“

Strasser stöhnte auf. Vor Schreck hatte er das Steuer herumgerissen und wäre fast auf die Gegenspur gekommen. „Willst du uns umbringen?“

Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und lächelte. „Kann es sein, dass du deinen kleinen Freund in letzter Zeit ein bisschen vernachlässigt hast?“

Wütend starrte er vor sich hin. Er hätte sie am liebsten geschlagen. Noch nie hatte er eine Frau so sehr begehrt wie sie, und er hasste sie dafür, dass sie ihn durchschaute. Er dachte an Sandrine, die französische Austauschstudentin, die er vor etwas mehr als fünf Monaten in der Rockfabrik in Bruchsal kennen gelernt hatte. Gleich am ersten Abend hatte sie ihn mitgenommen in ihr Minizimmer im Studentenwohnheim, und sie hatten sich auf der muffigen Matratze ihres schmalen Bettes die ganze Nacht geliebt. Mit ihren grünen Augen und den langen roten Locken erinnerte sie ihn an Britta. Er war verrückt nach ihr. Sie trafen sich fast jeden Tag, bis sie ihm eines Abends mitteilte, dass sie nach Frankreich zurückkehren würde und kein Interesse an einem weiteren Kontakt hatte. Es stellte sich heraus, dass sie einen festen Freund in Paris hatte. Er, Strasser, war für sie nur ein Lückenbüßer gewesen.

 

Britta sah wieder in den Spiegel, befeuchtete mit der Zunge ihren Zeigefinger und strich sich über die Augenbrauen.

Strasser fuhr den Wagen in die Garage und folgte ihr mit dem Gepäck ins Haus.

Sie schloss die Tür und zog die Kostümjacke aus. Sie bückte sich, um die Schuhe abzustreifen, und er sah, wie sich ihre Brustwarzen gegen den Stoff ihrer Bluse drückten. Als sie sich aufrichtete, fing sie seinen Blick auf und verzog spöttisch den Mund. Sie ging auf ihn zu, bis sie dicht vor ihm stand. Aufreizend langsam knöpfte sie ihre Bluse auf und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

Er starrte auf ihre Brüste, die durch den durchscheinenden Stoff des Büstenhalters eher betont als verhüllt wurden und hielt den Atem an.

Sie zog die Bluse aus und drückte sie ihm in die Hand. „Hier, die kann schon mal in die Wäsche. Ich gehe duschen.“

„Ich bin nicht dein Dienstmädchen!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Doch als er den seidigen Stoff zwischen seinen Fingern spürte, löste sich der Ärger in seiner steigenden Begierde auf und seine Augen verdunkelten sich.

Für einen Moment hielt sie seinen Blick fest. Ein triumphierendes Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Dann drehte sie sich um und ging.

Sie war noch keine zwei Schritte weit gekommen, als er sie von hinten am Arm packte. Er riss sie zu sich herum und presste seine Lippen auf ihre. Seine Zunge stieß grob in ihren Mund. Mit der einen Hand hielt er sie am Arm fest, mit der anderen griff er an ihren Hintern und drückte sie an sich.

Sie wehrte sich heftig, sie biss und kratzte und versuchte, ihn wegzustoßen. Schließlich bekam sie eine Hand frei und schlug ihn ins Gesicht.

Er fuhr zurück und schmeckte Blut, dort wo ihn ihr Ehering getroffen und seine Zähne gegen die Lippen geschlagen hatte. Für einen Moment sahen sie sich an. Es war keine Angst in ihrem Blick. Ein paar lockige Haarsträhnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst, auf ihren Wangen brannten rote Flecken. Ihre Augen funkelten herausfordernd, und sie atmete genauso heftig wie er. Den Kopf leicht nach vorn gereckt, erwartete sie mit geballten Fäusten seinen Angriff.

Seine Hände schnellten vor, hielten ihre Handgelenke fest und drückten sie nach unten. Ein Schweißtropfen rann an ihrem Hals hinunter und verschwand zwischen ihren Brüsten. Er küsste sie erneut, spürte den Schmerz nicht, als sie ihn in die Lippen biss, drängte sie an die Wand und hielt sie mit seinem Körpergewicht fest, während er ihr den engen Rock über die Taille hochschob. Sie trug keine Strümpfe, und er keuchte, als seine Finger über den feinen Schweißfilm glitten, der ihre nackten Beine bedeckte.

Sie bekam ihre Hände frei, doch statt ihn von sich zu stoßen, zwängte sie ihre Finger in seinen Hosenbund, öffnete den Knopf und den Reißverschluss. Mit einem kräftigen Ruck zog sie ihm die Jeans und die Unterhose hinunter. „Zieh dein Hemd aus!“ Sie riss an seinem Kragen.

Hastig streifte er es über den Kopf. Ein Knopf sprang ab, landete auf dem Fußboden, hüpfte über das Parkett und rollte unter die Kommode. Er fühlte ihre Brüste heiß auf seiner Haut, streifte die Träger des Büstenhalters von ihren Schultern und senkte den Kopf.

Sie schnappte nach Luft, als sie den Druck seiner Zähne spürte, griff ihm mit der einen Hand in die Haare und tastete mit der anderen nach seinem erigierten Glied. Gleich würde er explodieren. Sie drückte zu. Nicht fest, aber fest genug, dass er aufstöhnte. „Fick mich!“ Sie riss seinen Kopf nach oben und fuhr mit der Zunge über seinen Hals. Das dumpfe Pochen in seinem Unterleib verstärkte sich, und allmählich zweifelte er daran, ob er es schaffen würde, sich lange genug zurückzuhalten.

„Du sollst mich ficken!“ Ihre Stimme klang atemlos, die Worte abgehackt.

„Miststück“, keuchte er und zerrte an ihrem Slip, „du verdammtes Miststück!“

Sie hielt seine Hand fest. „Das ist mein Lieblingsslip. Mach’ ihn nicht kaputt.“ Ihr heiseres Lachen machte ihn rasend.

„Zieh’s mir vom Gehalt ab!“ Er hörte den Stoff reißen, packte mit beiden Händen ihren Hintern und hob sie mühelos hoch. Sie schlang die Schenkel um seine Hüften, umklammerte ihn wie ein Schraubstock und biss ihn in die Schulter. Die Raufasertapete scheuerte an ihrem Rücken, während er in sie hineinstieß. Er küsste sie wieder, nahm ihre Lippen zwischen die Zähne, saugte an ihrem Hals, als wollte er ihr Blut trinken. Als sie kam, zog sie ihre Fingernägel über seinen Rücken. Er bog den Kopf zurück und schrie auf, halb vor Schmerz, halb vor Lust, als er sich mit zwei zuckenden Stößen in sie ergoss.

Sie klammerte sich an ihn, bis das Beben in ihrem Unterleib verebbt war, dann legte sie den Kopf an seine Brust und fuhr mit den Fingerspitzen über die frischen Kratzer auf seinem Rücken. ‚Basic Instinct in Durlach’ dachte sie, und es gelang ihr gerade noch, ein Kichern zu unterdrücken.

Er fühlte sich leer und ausgepumpt. Plötzlich spürte er ihr Gewicht. Seine Arme zitterten vor Anstrengung.

Sie machte sich von ihm los, zog ihren Rock hinunter, hob ihre Bluse auf und schlüpfte hinein. „Lass mal sehen.“ Sie ging um ihn herum und begutachtete die roten Striemen auf seinem Rücken, die an mehreren Stellen bluteten. Ihr Atem hatte sich schon wieder beruhigt. „Da sollten wir nachher was drauf tun. Ich möchte nicht, dass es sich entzündet.“ Ihre Stimme klang kühl und distanziert, als würde sie mit einer ihrer Patientinnen sprechen.

Er drehte sich zu ihr um, hob die Hand und ließ sie wieder sinken. „Britta, es tut mir leid, ich wollte nicht ...“ Hilflos brach er ab.

„Was wolltest du nicht?“ Ohne hinzusehen, schloss sie den Knopf, der ihre Bluse über der Brust zusammenhielt. Ihre Hände waren vollkommen ruhig.

Er sah sie an, unfähig zu antworten.

„Mach’ dir nichts vor, du wolltest es genauso wie ich.“

Er konnte die Mischung aus Mitleid und Überlegenheit in ihrem Blick nicht ertragen und sah auf den Boden. Sein Gesicht brannte.

Sie tätschelte ihm die Wange wie einem kleinen Kind. „Krieg’ dich wieder ein, Ben, es war doch nur ein Fick.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre wunden Lippen. „Aber ein ziemlich guter, muss ich zugeben. Vielleicht kannst du Leo ein paar Tipps geben.“ Ihr Lachen klang bitter.

„Hör’ auf, so zu reden.“

Sie nahm sein heißes Gesicht in ihre Hände und sah ihn eindringlich an. „Es war nur ein Fick. Regt die Durchblutung an und ist gut für die Figur. Denk an eine von den Gymnastikübungen, mit denen du mich so gern quälst.“ Sie ließ ihn los. „Sex ist auch nichts anderes.“

„Sei still!“

„Komm’ schon, Ben, nimm’s nicht so schwer.“ Sie streifte seinen erschlafften Penis mit einem gleichgültigen Blick. „Und zieh’ endlich deine Hose hoch.“

Er zerrte die Jeans nach oben und zog den Reißverschluss zu.

Sie hielt ihm sein Hemd hin und schlug ihn leicht auf die Brust. „Und jetzt geh’ duschen, du hast es nötig.“

„Nutte!“

Sie wich vor dem Hass in seiner Stimme zurück. Ungläubig sah sie in sein verzerrtes Gesicht, und zum ersten Mal glaubte er, einen Hauch von Furcht in ihren Augen zu erkennen. Doch er fühlte keinen Triumph. Er schlang seine Arme um sie und presste sie an sich. „Sie war eine Nutte!“ Er zitterte am ganzen Körper.

Britta hielt ihn fest und strich ihm über den Kopf. „Ja, vielleicht war sie das“, sagte sie leise. Die Erleichterung ließ ihre Stimme sanft werden. Sie wusste nicht, von welcher seiner Exfreundinnen er sprach, und es war ihr auch egal. Es genügte ihr, dass er nicht sie damit gemeint hatte.