Tief in seinem Inneren

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S. N. Stone

Tief in seinem Inneren

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Epilog

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Impressum neobooks

Prolog

Wenn er beobachtete, wie sich die Wellen auftürmten, brachen und weit auf den Strand spülten.

Wenn er das Weiß der Gischt sah das Türkis des Wassers, dann war es beinahe so, als wäre sie noch bei ihm.

Als würde er ihre weiche Haut spüren, ihr Haar so seiden, ihr Atem so sanft und warm.

Dann verlor er sich in der Erinnerung an ihre Augen, die ebenso weit und unendlich gewesen waren, wie das Meer.

Dann verdrängte er die Erinnerung an ihren kalten, toten Körper, der steif geworden, in seinen Armen gelegen hatte.

Den er an diesem Ort dem Ozean übergeben hatte.

Und dann wurde er sich seiner Einsamkeit bewusst, der Sehnsucht und er ahnte, dass er dem Drang nicht widerstehen konnte und fast bedauerte er es.

1. Kapitel

Was sie an ihrem Beruf hasste, waren diese Momente.

Diese Momente, in denen sie über einen Menschen gebeugt dastand, der gewaltsam aus dem Leben gerissen worden war.

Der seiner Familie, seinen Freunden geraubt worden war, weil ein anderer dem Drang zu töten, nicht hatte widerstehen können.

Der Leichensack wurde geschlossen und die Bahre zum Wagen gebracht.

Bald würde der Körper auf dem harten, kalten Metalltisch der Gerichtsmedizin liegen und ein Foto des Gesichts der jungen Frau an der Wand in der Dienststelle hängen.

Dort würde es nicht alleine sein. Es würde sich zu den anderen fünf gesellen, deren dazugehörige sterbliche Überreste in den letzten Wochen in ähnlichem Zustand gefunden worden waren.

Sie brauchten das Gutachten des Gerichtsmediziners nicht abwarten, um zu wissen, dass das Foto genau dort seinen Platz würde finden müssen.

Bereits die Polizisten, die zum Fundort gerufen worden waren, hatten es bemerkt und sie umgehend benachrichtigt.

Bevor Dana zu ihrem Kollegen ins Auto stieg, ließ sie den Blick über das Meer zum Horizont schweifen. Würde sie je wieder an solch einen idyllischen Ort zurückkehren können, ohne an den aufgedunsenen Leib, den die Wellen an Land gespült hatten, denken zu müssen?

Vermutlich, denn wo hätte sie noch hingehen können, wenn sie diese Erinnerungen nicht irgendwann hätte abschütteln können, bei all den Leichen, die sie schon gesehen hatte?

Ihr Blick fiel auf die Beamten, die mit der Spurensicherung beschäftigt waren, im Wettkampf mit der Natur, ehe Wind, Regen und Ozean alles auffraßen.

Die Fahrt verlief schweigend, was nichts damit zu tun hatte, dass sie sich nicht leiden konnten, im Gegenteil. Sie kannten einander so gut, dass sie wussten, dass jeder seinen Gedanken nachhing, nachhängen musste, ehe sie sprachen.

Dana hatte ihre sogar zu korrigieren. Es entsprach eigentlich nicht der Wahrheit, dass fünf Frauenleichen in den letzten Wochen gefunden worden waren. Vielmehr war eine vor zwei Jahren und eine andere vor etwa einem Jahr aufgetaucht.

Der Fund einer Leiche hier im Stadtpark, hatte einen Kollegen darauf aufmerksam gemacht, dass es vor einem halben Jahr einen Fall mit ähnlichen, zum Teil identischen Merkmalen gegeben hatte.

Bei seinen Ermittlungen stieß er dann auf Nummer eins und zwei.

Das war nicht ursprünglich schlampiger Arbeit zuzurechnen, sondern dem Umstand, dass die Tötungsdelikte in unterschiedlichen Zuständigkeiten geschehen waren und die ersten beiden als ungelöst in den Akten ihr Dasein gefristet hatten.Mit dieser Entdeckung waren sie zum Einsatz gekommen, um die Ermittlungen zu unterstützen und zwischen den Dienststellen zu koordinieren.

Foto Nummer fünf gehörte zu einer Frau, von der sie nicht sicher waren, ob sie an der Wand richtig war.

Der Zustand ihres Körpers wies darauf hin, dass sie mindestens zehn Jahre vergraben gewesen sein musste, ehe sie während umfangreicher Baumaßnahmen zutage befördert worden war.

Dana war der Meinung, dass es egal war, auch ihr gebührte der Respekt, dass man sich um sie kümmerte.

Und selbst wenn sie ihrem Serientäter nicht zum Opfer gefallen war, so mahnte sie täglich, wie viele Menschen ihr Leben ließen, ohne, dass sie je entdeckt und ihr Tod aufgeklärt werden würde.

Als Dana am Abend im Hotelzimmer saß, fühlte sie sich einsam und leer.

Sie war dienstlich viel unterwegs, kannte es seit Jahren nicht anders, heute überkam sie die Sehnsucht nach ihren eigenen vier Wänden.

Sie hätte zu Tarik oder Georg gehen können, mit ihnen ein Bier in der Gaststätte nebenan trinken oder einfach nur zusammen sein können.

Aber sie wollte nicht. Stattdessen nahm sie ihr Handy und rief Max Grothe an. Einen alten, bereits pensionierten Kollegen ihres Vaters, der nach dessen Tod ihr Vertrauter und später Mentor geworden war.

»Hallo Dana!«

Heutzutage brauchte man sich nicht einmal mehr zu melden, wenn man jemanden anrief, das Display verriet, wer zu später Stunde störte.

»Hallo Max, hast du Zeit?«

»Für dich immer, was ist los? Geht es dir gut?«

»Keine Sorge, es ist nur dieser Fall.«

»Verstehe.« Ein leises Stöhnen. »So ich habe meine alten Knochen in den Sessel bemüht, erzähl!«

Sie liebte Max. Er verstand sie, bei ihm brauchte es nicht vieler Worte, keinen Smalltalk, kein Blah Blah.

»Es ist wieder eine aufgetaucht. Weiblich, jung, blond, wahrscheinlich erwürgt, in ein weißes Herrenhemd gekleidet, abgetrennter linker Ringfinger. Max, sie werden immer jünger und wir haben keine Spur. Die Abstände werden kürzer und er scheint sich auf dieses Gebiet hier zu konzentrieren.«

»Dann beginnt er Fehler zu machen.«

»Ich weiß und trotzdem, dieser Fall nimmt mich mit, mehr als andere.«

»So einen wird es immer geben. Man kann es nicht erklären, aber an manche verlierst du deine Seele. Du wirst sie nie mehr los, selbst nach Abschluss wachst du die ein oder andere Nacht auf und erinnerst dich an sie.«

»Er hält diese Frauen fest, er quält sie. Er gibt ihnen vielleicht sogar ein wenig Hoffnung, weil er sie nicht sofort tötet und dann löscht er sie aus.«

»Dir einen Rat zu geben, wie du die Bilder aus deinem Kopf vertreibst, kann ich nicht, das weißt du. Sie spornen dich an, mehr von dir zu verlangen, als du in der Lage bist zu leisten. Das ist gut, denn so lässt du nicht locker und ihr werdet ihn finden, aber lass nicht zu, dass es dich kaputt macht.«

»Das tue ich nicht, du kennst mich.«

»Eben drum.«

»Ich danke dir.«

»Jederzeit.«

»Ich weiß.« Sie musste lächeln.

»Ach Dana«, sagte er, in dem Moment, in dem sie die Verbindung trennen wollte.

»Ja?!«

»Ich ... ach nichts. Pass auf dich auf.«

»Werde ich.«

In dem Raum, den man ihnen in der zuständigen Dienststelle bereitgestellt hatte, in den Tische und Stühle, eine Kaffeemaschine und ein Kühlschrank gestellt worden waren, saß Dana zwei Tage später.

Ihr Laptop war geöffnet, hatte in den Ruhemodus gewechselt, ihr Kaffee war kalt und sie starrte auf die Unterlagen vor sich.

Der Täter lieferte ihnen Anhaltspunkte, er schien sich nur bedingt vorzusehen und nicht von ihnen gestört zu fühlen.

Sie hatten an einer Leiche fremde, männliche DNA gefunden, nicht registriert, vielleicht nicht einmal die des Täters, aber auch nicht die eines Mannes aus dem Umfeld der Frau oder Verdächtigen.

 

Das Profil sprach für einen Serientäter, keiner Täterin, zwischen 25 und 50 Jahren, eine Zeitspanne von beinahe einer Generation.

Die Hemden, die er verwendete, waren Allerweltshemden. Eine Firma, die große Stückzahlen produzierte, preiswert in die halbe Welt lieferte und sogar im Angebot einer großen Discount Supermarktkette vertreten war, die wiederum fast weltweit agierte.

Der Ringfinger war mithilfe einer handelsüblichen Säge entfernt worden, so einer kleinen, wie sie häufig in Werkzeugkoffern zu finden war.

Die Frauen waren zu unterschiedlichen Tageszeiten verschwunden, niemandem war etwas aufgefallen. Kein Auto, in das sie gezerrt worden waren, keine Schreie, keine Gemeinsamkeiten, bis auf das Aussehen.

Mal hatte er sie vergraben, mal an öffentlichen Plätzen abgelegt, die letzte ins Meer geworfen.

Immer hatte er sie ein paar Tage festgehalten, die Zeitspanne variierte.

Sie wiesen Spuren von Gewalt auf, die keiner Regel folgte.

Vier Opfer waren als vermisst gemeldet und nachdem man ihre toten Körper gefunden hatte, identifiziert worden.

Sie hatten viele Ansätze; Vermutung, Thesen, Analysen bezüglich des Fingers, weshalb ein weißes Herrenhemd, warum auf diese Art und Weise.

Zeugen vernommen, Verdächtige auch, Freunde, Familien, Bekannte, Kollegen der Opfer befragt, seinen Unterschlupf gesucht, sie hatten alles getan, was zu tun gewesen war.

Ihm näher gekommen waren sie trotzdem nicht.

Dana war sicher, dass es den ›perfekten Mord‹ gab, denn eben das, was Nummer fünf anmahnte, war nichts anderes. Aber dieser Fall würde es nicht sein.

Georg klopfte gegen die Scheibe und unterbrach ihre Gedanken.

Der Leiter der Sonderkommission trat vor die Beamten, neben ihm nahm der Staatsanwalt platz. Er lehnte sich an einen Tisch und räusperte sich.

»Das Opfer heißt Ina Drews, 21 Jahre alt, Studentin, ledig und ist vor zehn Tagen zu einer Reise durch Indien aufgebrochen, hat das Flugzeug nie betreten. Wir haben ihre Familie kontaktiert.

Erste Untersuchungen haben ergeben, dass ihre Leiche nicht unweit des Fundortes im Wasser versenkt worden ist. Wie die Spuren zeigen, von der Landungsbrücke aus.

Zu diesem Zeitpunkt war Frau Drews bereits tot. Keine Schaumpilzbildung in den inneren Atemwegen und der Lunge, keine Lungenballonierung, keine Flüssigkeit in der Lunge oder sonstige Merkmale für Ertrinken. Was die äußerliche Betrachtung vor Ort ergeben hat, wurde bestätigt. Frau Drews ist durch Strangulation durch Kompression des Halses mit den Händen zu Tode gekommen.

Das vorläufige Gutachten liegt vor.

Alles weist darauf hin, dass sich der Körper zwischen den Pfosten der Landungsbrücke verfangen hat und aufgrund von Strömungsänderungen später freigekommen ist. Wahrscheinlich hat sie drei Tage im Wasser gelegen.«

Es war, wie bei den anderen Opfern; der Finger war post mortem abgetrennt worden, es hatte kein sexueller Kontakt stattgefunden. Er hatte ihr Nahrung gegeben und sie nach Eintritt des Todes nicht lange bei sich behalten, hatte sie umgehend entsorgt.

Dana würde bei dem Gespräch mit den Eltern und dem Bruder dabei sein und graulte sich davor. Es war kein schönes Erlebnis, Angehörige und Freunde, die gerade vom Tod eines geliebten Menschen erfahren hatten, zu befragen. Man kam sich immer auch wie ein Ankläger vor, denn prinzipiell gehörte jeder zum Kreise der Verdächtigen. Dann war Feingefühl geboten, um niemanden zu verletzen, aber gleichzeitig aufmerksam zu bleiben, dem vermeintlichen Täter nicht die Möglichkeit zu geben, in der trauernden Gruppe unterzutauchen und zu verschwinden.

Trotzdem liebte sie ihren Beruf, konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu machen, denn wenn sie erfolgreich waren und das waren sie fast immer, dann gab es ein klein wenig Gerechtigkeit und eine Art Aufatmen, bei den Familien.

Jedoch waren Serientäter etwas Besonderes, Spezielles, kaum Kalkulierbares und Seltenes, wenn man, wie in diesem Fall, von einem psychisch Gestörten ausgehen konnte.

Natürlich war sie nicht berechtigt, den Täter als solchen zu bezeichnen. Es oblag anderen Stellen, die psychische Gesundheit zu beurteilen, aber das Denken konnte man ihr nicht verbieten.

Für sie war der Täter gestört!

Das Handy klingelte und Dana nahm das Gespräch an.

»Hallo Max.«

»Dana, kannst du reden?«

Sie stand auf und schloss die Tür, setzte sich wieder.

»Ja, was ist los?«

»Ich hatte den Abend schon daran gedacht, meinen Gedanken aber wieder verworfen. Nun jedoch bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich dir zumindest davon erzählen muss.«

»Das hört sich mysteriös an.«

»Das ist es in der Tat. Du erinnerst dich an den Fall, der mich nicht loslässt.«

Ja, darüber wusste sie Bescheid.

Ein 15-jähriges Mädchen war von der Schule nicht nach Hause gekommen. Die Eltern hatten sich an die Polizei gewandt.

Ermittlungen wurden eingeleitet, umfangreiche Suchmaßnahmen durchgeführt, sie wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Ina Johnsen blieb verschwunden.

Ihrer Mutter war es zu verdanken, dass Max diesen Fall niemals vergessen konnte. Sie rief sich immer wieder in Erinnerung, kontaktierte ihn in Abständen.

Elf Jahre später sollte sie Gewissheit bekommen.

In Zusammenhang mit der Tötung von fünf Frauen war der Sohn eines Großunternehmers dringend tatverdächtig.

Inas Vater war einige Jahre für die Familie als Chauffeur tätig gewesen und hatte zu berichten gewusst, dass Fabian Hagemann bereits in jungen Jahren für Ina geschwärmt, sie geradezu verehrt hatte. Als unnatürlich und beängstigend, war diese Verbindung beschrieben worden. Ein Grund, weshalb der Vater seinen Job aufgegeben hatte und sie fortgezogen waren.

Damals hatte man Fabian, trotz dieser Angaben, nichts nachweisen können.

Im Zuge der aktuellen Ermittlungen jedoch, fand man im Garten der Hagemanns, unter einem großen Rosenstrauch vergraben, den Leichnam von Ina Johnsen.

Eindeutige Beweise aus dem Besitz Fabians, zogen seine Verhaftung für alle sechs Tötungen nach sich, derer er sich entzog, indem er in seinem Sportwagen floh. In einer Kurve, bei überhöhter Geschwindigkeit, kam er von der Straße ab. Der Wagen nebst Insasse hatte sich überschlagen und war vollständig ausgebrannt.

»Das Verschwinden von Ina hat mich all die Jahre beschäftigt. Ich hatte ihrer Mutter versprochen, dass ich sie finden würde, egal wie. Immer, wenn ich konnte, habe ich nach ihr gesucht. Dann, so viele Jahre später, all diese toten Frauen. Wir tappten im Dunklen, ähnlich wie ihr zurzeit. Wie du weißt, war es ein gefundenes Fressen für die Presse.«

Dana erinnerte sich an die täglichen Schlagzeilen, die nach Gerechtigkeit und Ergebnissen geschrien hatten. Die Presse stopfte das Sommerloch und erschwerte die Ermittlungen. Jeder, der meinte, etwas dazu sagen zu müssen, tat es. Es zog sich bis in Regierungskreise. Politiker forderten und kritisierten, die Ermittler gerieten in die Schussbahn eines Mobs, der ihnen Unfähigkeit vorwarf. Und dann war es irgendwann einfach vorbei gewesen. Eine kurze Meldung in den einschlägigen Tageszeitungen, dass der Täter bei seinem Fluchtversuch zu Tode gekommen sei, keine Nennung seiner Identität.

»Es war nicht unserem Spürsinn zu verdanken oder dem Zufall oder unserem Glück, dass wir ihn gefunden haben. Wir hatten Hilfe.«

Max schwieg eine Weile und dann, als hätte er Mut sammeln müssen, fragte er: »Wie weit bist du bereit zu gehen, um den Täter zu fassen?«

Ziemlich weit, würde sie gehen, aber alles hatte Grenzen. Sie musste auch an sich denken, an ihre Zukunft, so realistisch war sie.

»Wärst du bereit unkonventionelle Wege einzuschlagen?«

Max Frage erstaunte sie, was hatte er getan, um an sein Ziel zu gelangen?

»Keine Sorge, du musst deine Seele nicht an den Teufel verkaufen. Vielmehr könntest du Probleme mit deinen Vorgesetzten und Kollegen bekommen, wenn du meinem Rat folgst.«

2. Kapitel

Dana hatte sich schwergetan, Max Empfehlung zu folgen. Ausschlaggebend es zu tun, war das Zusammentreffen mit den Eltern und dem Bruder von Ina gewesen.

Herr Drews hatte weinend dagesessen, der Bruder im Teenageralter war blass und teilnahmslos gewesen, Frau Drews hatte gefasster gewirkt.

Sie wusste, dass in solchen Situationen oft die Frauen, die Stärkeren waren. Die waren, die sich zusammenrissen, bemüht, zu helfen, Auskunft zu geben. Sie litten nicht weniger, im Gegenteil, wahrscheinlich sogar viel mehr, weil sie versuchten, alles zusammenzuhalten und innerlich zerbrachen.

Dass sie nichts von Ina gehört hatten, sei keine Überraschung gewesen. Ihre Tochter habe angekündigt, dass es die ersten Tage schwer sein würde, sich zu Hause zu melden. Mit einem Anruf habe man erst gerechnet, wenn sie in Jaipur angekommen war. Ganz wohl sei ihnen nicht gewesen, da sie geplant habe, Orte zu bereisen, die für Touristen nicht ungefährlich waren.

Dass die Gefahr für sie viel näher gelegen hatte, als befürchtet, war ein sehr böser Schlag des Schicksals gewesen.

Bei der Verabschiedung war es der Bruder, der Dana die Hand gereicht, sie traurig angeblickt und gefragt hatte, ob sie ihm versprechen könne, den Täter zu fassen.

Er war es gewesen, der sie bewogen hatte, Christian Layes Adresse in Erfahrung zu bringen und sich nun auf eine zweistündige Autofahrt zu ihm zu begeben.

Als Max ihr von dem Mann erzählt hatte, war sie erleichtert gewesen. Bei seinen Worten hatte sie tatsächlich eher an besagten Seelenverkauf gedacht, als daran, dass er und seine Kollegen ihre Ermittlungen auf die Offenbarungen eines Hellsehers gestützt hatten. Trotzdem war ihr der Gedanke, so jemanden zu Hilfe zu holen, absurd erschienen. Wie verzweifelt mussten sie gewesen sein, sich an einen - sie bemühte sich, das Wort Scharlatan nicht zu denken - zu halten?

Es war nicht so, dass Dana nicht daran glaubte, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als man meinte. Sie war tief im Inneren sogar gläubig, war von ihrer serbischen Mutter und Familie geprägt, aber viele dieser selbsternannten Spirituellen waren in ihren Augen einfach doch Scharlatane.

Natürlich hatte Dana Max gefragt, ob sie die Behauptungen dieses Mannes nicht für Täterwissen gehalten hatten.

Hatten sie, anfangs. Jedoch war Laye ein recht labiler Geist, der aufgrund von Klinikaufenthalten wasserdichte Alibis für zumindest einen Teil der vermeintlichen Tatzeiträume gehabt hatte. Das war auch ein Grund, weshalb Max keine Ahnung über seinen Aufenthaltsort hatte und Dana über das Melderegister hatte gehen müssen.

Als sie in die kleine Straße einbog, die zum Haus führte, hoffte sie, dass er zurzeit alle Sinne beieinander haben würde und da war.

Seine Vermieterin öffnete. Eine alte, kleine, runzlige Frau, mit wachen Augen.

»Ja bitte?!«, brüllte sie.

»Guten Tag, mein Name ist Dana -«

»- Sie müssen schon lauter sprechen, mein Gehör macht nicht mehr mit.«

Dana räusperte sich. »Mein Name ist Dana Jagmin, ich möchte zu Herrn Laye, ist er da?«, fragte sie nun wesentlich lauter.

»Oh sie sind eine Freundin? Das ist aber schön, dass der Junge endlich mal eine nette Frau gefunden hat. Er hat mir gar nichts erzählt. Kommen Sie rein, kommen Sie rein!« Sie wedelte mit den Händen. »Er ist oben in seiner Wohnung. Die Treppe rauf und die Tür links. Gehen Sie nur, meine alten Beine wollen nicht mehr so.«

Dana nickte zum Dank und stieg die Stufen hinauf.

Sie klopfte an und wartete. Ihren Dienstgrad zu nennen, hatte sie absichtlich vermieden, immerhin war sie nicht offiziell hier und sie hatte niemanden von ihrem Vorhaben in Kenntnis gesetzt.

Bevor sie nur einen Gedanken daran verschwendete, wie sie es ihren Vorgesetzten beibringen würde, jemanden wie ihn zurate zu ziehen, wollte sie sich den Kerl anschauen.

Die Tür wurde geöffnet und Dana blieben die vorbereiteten Worte im Hals stecken.

Auf einen Mann, etwas jünger als sie, war sie vorbereitet gewesen, sie kannte sein Geburtsjahr.

Auf einen Mann in einem seidenen Gewand, vielleicht mit Turban auf dem Kopf, Ketten um den Hals, verschroben und nach Räucherstäbchen riechend auch. Einem sonderbaren Typen, der zu schweben schien, sie vielleicht durch eine Brille mit dicken Gläsern anschaute, ebenfalls. Aber nicht auf einen, der sie um einen Kopf überragte, in Jeans und T-Shirt gekleidet, ganz normal, sogar sehr attraktiv war.

 

Ja, sie neigte immer wieder zu Vorurteilen, selbst, wenn sie es hätte besser wissen müssen.

Sie fing sich sofort wieder.

»Herr Laye?«

Er schien ihre Verwirrung nicht bemerkt zu haben, schaute eher ängstlich als irritiert und nickte.

»Mein Name ist Dana Jagmin -«

»- Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er leise. »Bitte, wollen Sie reinkommen?«

Er trat beiseite und ließ sie vorbei.

Während er hastig Papiere, Bücher, Zeitungen vom Sofa räumte, einfach auf den Boden stapelte, schaute sie sich unauffällig um: besagtes Sofa, Glastisch, ebenso zugepackt, Kommode mit Fernseher, Regale mit Büchern, Schreibtisch mit Computer, Tastatur, zwei Monitoren, Laptop, diversen Utensilien.

Keine Duftlampen, keine purpurnen Vorhänge, keine Kerzen, keine Kristallkugel.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragt er.

Dana zuckte zusammen. »Nein, entschuldigen Sie, Macht der Gewohnheit, vielleicht sogar berufsgeschädigt«, erklärte sie.

»Nehmen Sie Platz. Ein Glas Wasser?«

»Gerne.«

Er verschwand, ohne ihr Lächeln zu erwidern.

Ihr Blick suchte die Sachen am Boden ab: Notizen, Zeichnungen, Fachbücher. Im Regal: Satre, Hesse, Goethe, Brecht, Grass, Fontane, Shakespeare, Hoffmann, Literatur, mit der sie nur wenig anfangen konnte.

»Die Kristallkugel ist mir gestern runtergefallen«, sagte er.

Sie schaute auf. Er stand noch in der Tür zur Küche, zwei Gläser in der Hand und sah sie ernst an. Woher wusste er?

Laye stellte die Gläser ab und zog sich den Schreibtischstuhl heran.

»Sie haben mich nicht gefragt, was ich von Ihnen will«, begann Dana das Gespräch.

»Ich gehe davon aus, dass Sie mir das jetzt sagen werden.«

»Max Grothe.«

Bei der Nennung des Namens wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht.

»Er hat mit mir über Sie und Ihre Rolle in einem seiner Fälle gesprochen.«

Er rutschte nervös auf dem Stuhl nach vorne.

»Ich arbeite an einem ähnlichen Fall und wir stehen vor ähnlichen Problemen. Er riet mir, mich an Sie zu wenden.«

»Damit ich was tue?«, fragte er und seine leise Stimme war nur noch ein Flüstern.

»Nun, Max deutete an, dass Sie ein Hellseher sind. Ich muss gestehen, dass ich keinerlei Erfahrung mit so etwas habe, nicht einmal weiß, was ich davon halten soll. Ich weiß nicht, ob es der richtige Weg ist oder wie ich Ihnen gegenübertreten soll, aber ich bin verzweifelt.«

»Ich bin kein Hellseher

»Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

Christian Laye stand auf und ging zum Fenster. Er stützte sich auf das Fensterbrett und schaute hinaus.

»Hören Sie; da ist ein Monster unterwegs, das Schreckliches tut.« Dana hatte die Entscheidung getroffen, sofort zur Sache zu kommen und ehrlich zu sein. »Dieser Fall, lässt mich nachts wach liegen, beschäftigt mich so sehr, dass ich mich sogar an den klitzekleinen Strohhalm klammere, den Max Grothe mir gereicht hat. Dass ich mich an Sie wende, ohne wirklich viel über Sie zu wissen. Ohne zu wissen, ob Sie tatsächlich helfen können oder ein Spinner sind.«

»Ich bin kein Hellseher, ich habe Visionen. Das sind die Monster, die mich begleiten und mir den Schlaf rauben.«

»Wenn Sie etwas wissen, wenn Sie helfen können, bitte, tun Sie es. Sie wussten, wer ich bin, wussten, wonach ich in Ihrer Wohnung gesucht habe.«

Er drehte sich zu ihr und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wenn es das war, was Sie überzeugt hat, dass ich Dinge sehe, dann muss ich Sie enttäuschen. Ihr Bild war in einer Zeitung abgebildet und das mit der Kristallkugel; sicher war es Ihnen nicht bewusst; Sie haben vor sich hingemurmelt.«

Das Murmeln war eine Macke von ihr. Zu Beginn ihrer Laufbahn hatte sie es ständig gemacht, so konnte sie Dinge besser aufnehmen, hatte sie das Gefühl. Mittlerweile vermied sie es, manchmal passierte es trotzdem.

»Eigentlich bin ich noch nicht überzeugt. Das Einzige, was ich sicher weiß ist, dass ich mich auf Max verlassen kann. Er ist kein Schwätzer, kein Träumer, kein Spinner.«

Laye drehte sich wieder zum Fenster, als könne er nur frei reden, wenn er sie dabei nicht ansah.

»Es passiert, seit ich denken kann. Es sind Bilder, die sich in meinen Kopf drängen, zumeist unschöne, eigentlich nur unschöne. Ich kann es nicht beeinflussen, aber forcieren oder versuchen, sie zu reduzieren, indem ich mich zurückziehe. Ich habe lange nach diesem Ort hier gesucht, nach einem zu Hause, das mir ein wenig Sicherheit gibt.

Damals konnte ich mich nicht mehr verstecken. Die Bilder kamen, waren ständig da. Ich sah Dinge, grauenvolle Dinge, die geschehen waren. An jeder Ecke, überall, wo ich war, gleich, was ich getan habe, die Morde waren allgegenwärtig und die Visionen dermaßen stark, dass ich den Entschluss gefasst habe, dem allen ein Ende zu setzen.

Es war schwer für mich, nicht den einfacheren Weg zu wählen, sondern mich an die Polizei zu wenden. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen erklären muss, was das bedeutet. Da taucht ein Spinner in einem Polizeirevier einer Kleinstadt auf und behauptet, Dinge über die Morde zu wissen, viel mehr als das, der behauptet Dinge zu sehen, die die Morde betreffen.

Ich konnte sie überzeugen, ich konnte helfen, aber es hat mich kaputtgemacht.

Nach der Sache war ich lange in einer psychiatrischen Klinik, ein Ort, den ich viel zu oft von innen gesehen habe. Es war ein harter Kampf, mich einigermaßen davon zu erholen und ich weiß nicht, ob ich bereit bin, dieses Risiko erneut einzugehen.«

»Ich weiß, wie es Ihnen ergangen ist«, sagte Dana.

Er wendete sich ihr zu und sprach laut und dieses Laute glich durch seinem, bisher so ruhigen Ton, einem Schreien, sodass Dana zusammenzuckte.

»Ich denke nicht, dass Sie es in irgendeiner Weise wissen. Selbst wenn Sie das Gleiche erlebt hätten, würden sie nicht dasselbe fühlen, genauso wenig, wie ich wie Sie fühlen würde. Warum sagen Menschen so etwas?«

»Vielleicht, weil sie wie ich die falschen Worte wählen, um Verständnis ausdrücken zu wollen. Sicher empfindet jeder Mensch jede Situation unterschiedlich, dennoch sollen diese Worte signalisieren, dass man es nachvollziehen kann.«

Chris Laye setzte sich zu ihr und trank einen Schluck Wasser.

»Es tut mir leid. Ich habe nur allzu oft diese Phrasen gehört. Von Menschen, die glaubten, im Urschlamm meines Lebens wühlen zu müssen, ohne selbst jemals durch die Dunkelheit der eigenen Seele gegangen zu sein. Doktoren, Professoren, die mich über ihre Notizen, über den Rand ihrer Brillen, angesehen haben. Verständnisvoll genickt und gelächelt haben, mit dem Gedanken; gut, dass ich nicht so bekloppt, wie der bin. Ich habe geheucheltes Verständnis satt!«

»Ich bin nicht als Heuchlerin bekannt.«

Er sah sie eine Weile an und Dana konnte nicht verhindern, dass sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten.

»Bis wann muss ich mich entschieden haben?«, fragte er.

»Ich hoffe jederzeit auf Ihre Unterstützung. Ich verbringe die Nacht hier im Ort und fahre morgen früh zurück.« Sie holte eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Meine Telefonnummer.«

Dana atmete tief die kühle Abendluft ein. Sie bereute es, den Wagen vor dem Haus geparkt zu haben. Nur zu gerne wäre sie noch ein paar Schritte gegangen.

Beim Aufschließen des Autos, warf sie einen Blick hinauf zum Fenster von Chris Layes Wohnzimmer. Sehen konnte sie nichts, aber ein Gefühl sagte ihr, dass er dort stand und sie beobachtete.

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