Die Chroniken der drei Kriege

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»Ich lebe hier. Ich komme gut allein zurecht. Verschwindet!«

»Ist ja gut«, sagte Megan beruhigend. »Wir gehen wieder. Allerdings solltest du versuchen, etwas weniger Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen, wenn du allein sein willst.«

Der Junge schnaubte.

»Ich wollte euch nur vertreiben. Ihr sollt weg von meinem Wald. Normalerweise sehen mich die Leute nicht, niemand sieht mich. Es kommt nie jemand hierher, außer ihr und die anderen vor zwei Tagen. Aber die haben mich nicht gesehen. Ich kann unsichtbar bleiben, wenn ich es will.«

»Welche anderen?«, fragte Kirin; aufgeregt sah er sich nach seinen Begleitern um. »Wen hast du gesehen?«

Der Junge antwortete nicht, sondern kletterte wieder ein paar Äste höher.

»Wir sind auf der Suche nach einer Gruppe von Männern in schwarzen Umhängen«, erklärte Megan. »Sie haben eine Freundin von uns entführt, und wir glauben, dass sie etwas sehr Schlimmes vorhaben. Wenn du sie gesehen hast, sag es uns bitte.«

Einen langen Moment kam keine Reaktion, doch Megan hob ihre Hand, um Kirin und den anderen zu bedeuten, dass sie abwarten sollten.

Schließlich ließ sich die Stimme des Jungen vernehmen: »Sie waren laut, diese Leute, und unvorsichtig. Sie haben ein Feuer gemacht und gesungen, und ich habe sie gesehen. Sie haben mich aber nicht gesehen. Ich habe ihnen Essen gestohlen, ohne dass sie es gemerkt haben.« Ein leises Kichern, das Kirin die Haare zu Berge stehenließ. »Es waren keine netten Menschen. Sie haben Tiere und Vögel getötet, die hier in der Wildnis wohnen, und sie einfach liegenlassen. Sie waren blind und taub für alles.«

»Weißt du, in welche Richtung sie gegangen sind?«, hakte Kirin behutsam nach.

Das Gesicht des Jungen erschien hinter dem Baumstamm.

»Dorthin«, sagte er und zeigte in nordöstliche Richtung. Er bleckte die Zähne, und Kirin sah, dass sie ebenso grün waren wie seine Lippen – als wären sie von Moos überwuchert. »Mehr will ich gar nicht wissen. Hauptsache, sie sind weg. Und Hauptsache, ihr seid weg! Los, haut ab, lasst mich endlich in Ruhe!«

»Gehen wir«, sagte Megan leise zu den anderen; sie nickte dem Jungen zu, dann wandte sie sich ab und ging betont langsam davon, und die anderen folgten ihr.

»Danke!«, rief Kirin zu dem Kind hinauf und erntete als Antwort ein weiteres zähnebleckendes Fauchen.

»Na, das nenne ich eine Abwechslung«, meinte Rhùk, als sie erneut ihre Pferde bestiegen und davonritten; die Tiere waren nervös und schienen wie ihre Reiter nur froh, so schnell wie möglich von diesem Ort wegzukommen. »Tagelang keine Menschenseele und dann ein kleiner Mutant, der mitten im Nirgendwo auf einem Baum hockt und alles angreift, was sich bewegt. Der Bursche hatte wahrscheinlich noch nicht mal Haare am Sack und hätte uns alle umbringen können, wenn er gewollt hätte.«

»Mich beunruhigt mehr, dass ich ihn nicht bemerkt habe«, murrte Krìszan, die Hände an seinem Gürtel. »Wenn er dort lebt, hätte es doch Spuren von ihm geben müssen. Aber da war nichts, keine Überreste von Feuerstellen, keine Fußabdrücke, nichts.«

»Er lebt in den Bäumen«, sagte Asusza knapp. »Er hinterlässt keine Spuren.«

»Außer wenn er seine Kräfte einsetzt«, fügte Megan leise hinzu. »Die Baumrinde war an vielen Stellen abgestorben und die meisten Äste morsch – lange wird er dort nicht mehr bleiben können.«

»Vielleicht hätten wir ihn bitten sollen, uns zu begleiten«, regte Kirin an.

»Wir hätten ihn töten sollen«, widersprach Mìszak. »Je weniger dieser Kreaturen herumlaufen, desto besser.«

»Ach ja?«, fragte Megan kühl.

Daraufhin breitete sich peinliches Schweigen aus.

Larniax räusperte sich. »Ich für meinen Teil war schon überwältigt und – Ihr vergebt mir den Ausdruck, Fräulein – schockiert, einem einzigen Halbblüter zu begegnen. In einer von Göttern und Menschen verlassenen Gegend wie dieser hier auf einen zweiten Eurer Art zu treffen, das erscheint mir kaum fassbar.«

»Tatsächlich ist es logisch«, hielt Megan noch immer sehr kühl dagegen. »Ihr habt das Verhalten des Jungen gesehen: Er hat gelernt, erst anzugreifen und dann Fragen zu stellen. Außerdem lebt er hier in der Einöde, wo er kaum Gefahr läuft, auf Menschen zu treffen. Fragt Euch, was ihn zu dieser Lebensweise getrieben hat, Herr Larniax.« Damit warf sie Mìszak einen tödlichen Blick zu und verfiel für den Rest des Tages in Schweigen.

Der Halbblüterjunge hatte Recht gehabt: Als sie ungefähr eine halbe Stunde in die angezeigte Richtung geritten waren, fanden sie Überreste von Nagetieren, Vögeln und sonstigen Wildtieren, deren Kadaver jedoch derart verbrannt waren, dass man nicht mehr erkannte, worum es sich früher einmal gehandelt hatte. Um die toten Tiere herum fanden sich dieselben merkwürdigen Symbole, wie sie sie auch bei dem misslungenen Angriff auf den Gesellen Lûth entdeckt hatten. Es bestand also kein Zweifel, dass die Schattenjünger hier gewesen waren.

Diese Gewissheit hatten sie dringend nötig; einen Tag nach ihrem kurzen Aufenthalt bei der Baumgruppe setzte Regen ein, zunächst nieselnd, dann stark und stechend kalt. Von der bösartigen Nordströmung unterstützt, peitschte er ihnen voll ins Gesicht und durchweichte ihre Kleider. Mehr als einmal gelang es ihnen nicht, ein Lagerfeuer zu entzünden, sodass sie sich in kleinen Gruppen aneinandergeschmiegt in den Schlaf zitterten.

Ein weiteres Mal kam Kirin nicht umhin, die Disziplin und unerschütterliche Ausdauer der Windreiter zu bewundern; keiner von ihnen beschwerte sich, oder wenn, dann sehr leise, sodass es die anderen nicht hören konnten.

Er selbst musste sich mehr als einmal zusammenreißen, um vor seinen Gefährten nicht die Beherrschung zu verlieren, wenn Feuerholz und Späne wieder einmal zu nass waren oder die nasskalten Kleider an seinen wund geriebenen Schenkeln scheuerten; er empfand Hochachtung für die Windreiter, und er würde alles tun, um als ihr Anführer nicht als Schwächling dazustehen.

Am vierten Abend, nachdem sie den Halbblutjungen verlassen hatten, hüllte sich Kirin einmal mehr steif und mit zusammengebissenen Zähnen in seine Decke, fror jedoch so stark, dass er nicht einschlafen konnte; Stunde um Stunde kroch quälend dahin, bis sein erschöpfter Verstand langsam wegdämmerte, wobei er noch immer unkontrolliert mit den Zähnen klapperte. Verschwommene Gesichter und gestaltlose Schemen zogen an ihm vorbei, er fiel in wohlige Wärme, vergaß, wer und wo er war, was vor sich ging, schwebte … schwebte …

Mit einem Mal schreckte er hoch, und alles war unnatürlich klar umrissen. Er blinzelte, sah sich um – und stellte zu seiner Überraschung fest, dass er mitten in seinem Schlafzimmer stand, zu Hause im Fürstenpalast von Nardéz. Draußen war eine sanfte Dämmerung angebrochen, Insekten summten, und die herrliche Wärme eines Sommerabends umgab ihn. Auf dem Korridor hörte er Wachen hin- und hergehen, sah ein warmes Licht unter dem Türspalt hereinströmen, sein Zimmer selbst jedoch war nur ins dämmrige Licht der letzten verblassenden Sonnenstrahlen und der heraufkommenden Sterne getaucht. Verwirrt rieb er sich die Augen, wie um zu sich zu kommen, doch die Szene veränderte sich nicht.

›Träume ich oder habe ich die Reise nur geträumt?‹, fragte er sich. Ohne sein Zutun bewegten sich seine Füße hinüber zum Fenster, wo die ganze Stadt unter ihm lag, glitzernd und voller Leben, wie sie es zu seiner Regierungszeit nie gewesen war. Die Beschädigungen, die während des Angriffs der Ostländer entstanden waren, waren zwar repariert worden, aber irgendetwas sagte ihm, dass das Nardéz, das sich ihm jetzt präsentierte, ein anderes war: Es war heil und ganz, von Überfällen jeglicher Art unberührt. Selbst von hier oben, so hatte er das Gefühl, hörte er das Lachen draußen in den Straßen, wehten ihm köstliche Gerüche entgegen – Zeugen von Sicherheit und Wohlstand.

So wunderschön, flüsterte eine Stimme hinter ihm, und Kirin zuckte zusammen. Mit heftig pochendem Herzen fuhr er herum, um sich dem Sprecher zu stellen, doch da war niemand. Dennoch ertönte die Stimme wieder, so klar und deutlich, als stünde ihr Besitzer direkt neben ihm:

Ein Abbild von Vermögen und Macht … Das Herz einer Nation, die die größte auf dem Kontinent sein könnte, wenn ihr Führer es nur wollte.

Kirin kniff die Augen zusammen und tat einen vorsichtigen Schritt in den Raum hinein; der Spiegel auf seinem Ankleidetisch stand genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte – doch irgendetwas stimmte damit nicht; der Rahmen war aus schimmerndem Silber, doch die Fläche selbst schien irgendwie stumpf zu sein. Er kam noch ein wenig näher und erkannte dann, dass er sich geirrt hatte; der Spiegel war nicht plötzlich blind geworden – es war überhaupt kein Spiegel mehr. Es war ein Fenster, hinter dem sich eine Welt aus völliger Schwärze auftat. Mit einem Mal war Kirin eiskalt; es war, als ob ihm der Atem eines riesigen toten Wesens aus dieser Finsternis entgegenwehte, und unwillkürlich tastete er hinter sich, um sich irgendwo festzuhalten.

Furcht, wisperte die Stimme hämisch aus der Dunkelheit des Spiegels. Sie ist eines der Dinge, die euch Menschen so wundervoll macht. Ihr fürchtet euch vor allem: Dem Unbekannten, dem Neuen, der Dunkelheit … ein Wunder, dass ihr euch in eurer ewigen Angst nicht schon längst gegenseitig ausgerottet habt.

Kirin schluckte; obwohl er noch immer schrecklich fror, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Ohne das grausige Oval auf dem Schreibtisch aus den Augen zu lassen, fragte er: »Wer bist du?«

Ein leises Lachen war die Antwort. Erkennst du das nicht, kleiner Junge? Erkennst du mich wirklich nicht? Einen Moment herrschte Stille, und Kirin war es, als hörte er ein tiefes, gieriges Atemholen, als wollte das Wesen, das dort atmete, nicht nur Luft in sich einsaugen, sondern alles, was sich bewegte. Ich bin der Eine, der Unzerstörbare, der ewig Andauernde. Ich bin der Vernichter, der Erschaffer, Er, mit dem alles enden und alles neu beginnen wird. Ich bin alles, was in deinem Herzen geheim und verdorben ist.

 

»Der Schatten.«

Kirins Mund war staubtrocken; seine Arme wurden taub und hingen schlaff an ihm herunter. Er hätte sich nicht bewegen können, selbst wenn er es mit aller Macht versucht hätte. Es war, als wäre er am Boden festgewurzelt.

Auch das, wisperte die Stimme mit boshaftem Vergnügen. Im Moment jedoch betrachte mich als Freund – es gibt nicht viele Geister, die offen sind für die Mächte der vergangenen Zeit. Selbst unter jenen, die mich anbeten, finden sich nur wenige, die in der Lage sind, mich in ihren schlafenden Geist einzulassen, auf dass ich zu ihnen spreche.

Mit aller Macht zwang Kirin seinen Blick von den Tiefen hinter der Spiegeloberfläche los und ballte die Fäuste; es war eine Erleichterung, dass er wenigstens die Hände wieder bewegen konnte.

»Was … was willst du?«, fragte er; seine Stimme klang schwach, beinahe krächzend.

Die Schatten im Spiegel bewegten sich. Ich beobachte deine Welt, Äonen um Äonen, und sehe das Leid darin, erwiderte die Stimme in einem sanften Singsang, der Kirin augenblicklich einzulullen drohte. Ich sehe es, verdammt zu einer Ewigkeit des Nichtstuns, jeder Möglichkeit beraubt, einzugreifen und es zu lindern.

»Warum?«, fragte Kirin; seine Lider flatterten, und er musste all seine Kraft aufwenden, damit sie ihm nicht zufielen.

Als meine Geschwister sich – feige und der Verantwortung müde – aus deiner Welt fortgestohlen haben, rissen sie mich mit sich, raus aus der Wirklichkeit an einen Ort, den zu verstehen den Sterblichen unmöglich ist. Es ist eine Welt der Leere, der Einsamkeit und der Untätigkeit, so weit fort von der, in die du geboren wurdest, und doch so quälend nah … nah genug, um zu beobachten, aber für alle Zeit am Handeln gehindert. Du ahnst nicht, wie grauenvoll das ist – die Heimat vor sich zu sehen und doch niemals zurückkehren zu können.

Kirin schwankte; das leise Säuseln machte ihn schläfrig und verklebte sein Denken.

›Natürlich‹, dachte er, ›natürlich weiß ich, wie das ist. Ich werde meine Heimat nie wiedersehen! Ich bin allein in einem Land, das nicht mir gehört, verloren, ohne Freunde …‹

Du hast viele Feinde, die dich bedrohen, nahm die Stimme seine Gedanken auf, als hätte sie in ihnen gelesen. Du stehst allein und weißt nicht, wem du vertrauen kannst. Du bist dieser Aufgabe nicht gewachsen, denn du hast keine Hilfe. Nur viele, die deinen Tod wollen.

»Ja«, sagte Kirin leise und wahrheitsgemäß.

Ein sanfter Wind streichelte sein Gesicht. Doch lehntest du die Hilfe der Meinen ab, als sie sie dir gaben. Habe ich dir nicht das Leben geschenkt? Habe ich nicht meinen Getreuen ausgeschickt, den, der dich töten wollte, aufzuhalten?

»Das hast du.«

Warum also stellst du dich nun meinen Bemühungen in den Weg? Siehst du denn nicht, fügte die Stimme samtweich hinzu, dass meine Unterstützung unbezahlbar ist? Mit meiner Hilfe wärst du unbesiegbar – niemand mehr würde sich gegen dich erheben und deinen Thron anzweifeln, denn dein Wort wäre das meine.

»Dein Wort?«, fragte Kirin benebelt.

Mein Wort, bestätigte die Stimme im Spiegel. Das einzige Gesetz in dieser Welt, wenn ich zurückkehre.

Kirin blinzelte; ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, beinahe wie Wärme, und als er wie in Trance seine Hand hob, um danach zu tasten, fand er den aus Holz geschnitzten Anhänger um seinen Hals hängen. Einen Herzschlag zuvor, da war Kirin sich sicher, war er noch nicht da gewesen. Mit zunehmend wiederkehrender Entschlossenheit schloss er die Finger darum. »Und was müsste ich dafür tun?«, fragte er, noch immer heftig blinzelnd, um den Kopf freizubekommen; er fühlte sich an wie in dicke Decken gepackt.

Es ist ganz einfach, Kirin, Herrscher Aracanons, sagte die Stimme, und diesmal hörte er deutlich die aufkeimende Drohung aus dem süßen Klang heraus. Kehr um. Halte ein in deinem Tun und lass die Meinen gewähren. Lass sie das Mädchen zu mir bringen. Hör auf, dich gegen mich zu stellen, und dein verblendetes Handeln wird dir vergeben werden. Geh zurück in deine Stadt, knie vor meinem Altar nieder und huldige mir, und du wirst an meiner Herrschaft teilhaben.

Die Erwähnung Elouanés war alles, was Kirin brauchte, um die honigweiche Stimme endgültig abzuschütteln; den Anhänger fest umklammernd, machte er einen Schritt auf den Spiegel zu; was darin war, konnte er nicht erkennen, aber er spürte mehr als deutlich, dass ihn Augen beobachteten, Augen, die durch ihn hindurchsahen und in ihm lasen wie in einem wertlosen alten Buch.

»Was hast du vor mit ihr?«, fragte er.

Wieder lachte die Stimme, deutlich gefährlicher diesmal. Du sorgst dich um sie, nicht wahr? Das Gefäß? Sei unbesorgt, ihr wird kein Leid geschehen. Ich brauche sie, denn durch sie wird sich mein Blut mit dem der Menschen vermischen, und die Barrieren zwischen unseren Welten werden einreißen. Ich werde in diese Welt kommen in dem Sohn, der ihr geboren wird. Alles, was ist, wird Teil meiner Seele sein.

»Du meinst, alle Menschen dieser Welt werden deine Sklaven!«, rief Kirin. »All deine schönen Worte sind nichts weiter als Lügen! Wenn du zurückkehrst in diese Welt, wird auch alles Böse, das du geschaffen hast, mit dir zurückkehren. Du bringst nichts außer Zerstörung und Tod, und das Leid, von dem du sprichst, hast du selber hervorgebracht! Die anderen Götter haben akzeptiert, dass ihre Zeit um war, und sie haben dich eingesperrt, weil du die Herrschaft über alles an dich reißen wolltest. Deswegen haben deine Jünger auch die Anhänger des Lichten getötet – weil die wussten, was du vorhattest, und Elouané vor dir versteckt haben, um dich aufzuhalten!«

Sieh an, welch eifrigen Verfechter seiner Sache mein Bruder in dir gewonnen hat. Die Stimme klang verächtlich. Wie traurig, dass ihr Sterblichen euch stets alles so leicht zu machen wisst, weil ihr nicht in der Lage seid, die Windungen des Universums zu verstehen. Ich aber, Kirin, ich bin Teil des Universums. Ich war schon da, als das erste Licht der Morgenröte die Welt berührte, ich war Zeuge, wie die Menschen ihren Fuß auf die Erde setzten, und ich allein war es, der ihnen die Macht über das Feuer gab, das ihnen mein tückischer Bruder vorenthalten wollte! Ich allein, süßer Prinz, habe eurem Geschlecht die Möglichkeit gegeben, zu denken, selbstbestimmt zu handeln, und doch sehe ich nach all diesen Äonen noch nicht, dass ihr meiner würdig wärt! Daher, schloss die Stimme leise, daher werde ich es auf mich nehmen, eure Geschicke zu lenken. Vollständig und unwiderruflich. Nicht, um euch zu bestrafen, nein, ich habe eingesehen, dass eure Unfähigkeit, über euch selbst zu bestimmen, nicht allein eure Schuld ist. Auch ich habe Fehler gemacht. Und nun ist es an der Zeit, einige dieser Fehler zu korrigieren. Und das gedenke ich zu tun – mit Elouanés Hilfe werde ich euch weise und gerecht regieren.

»Und ohne sie gar nicht!«, schrie Kirin; entschlossen ließ er den Anhänger los und streckte seine Hände nach dem Spiegel aus. »Du wirst sie nie bekommen, nicht, ehe die Sonne gefriert!«

Das könnte schneller passieren, als du glauben möchtest, kleiner Junge, erwiderte der Schatten gefährlich leise, während die dunklen Schwaden im Spiegel sich wie gierige, ölige Schlieren nach den Seiten ausdehnten. Blitzschnell ergriff Kirin den silbernen Rahmen – und schrie im selben Moment vor Schmerz auf; das Metall war glühend heiß und brannte sich zischend in seine Haut. Verzweifelt versuchte er, die Hände davon loszureißen, doch es war, als würden sein Fleisch und das Silber verschmelzen. Brüllend und fluchend ruderte er mit den Armen, um das widerspenstige Möbelstück von sich zu schleudern. Über den glühenden Schmerz hinweg hörte er das boshafte Lachen des Gottes:

Meine Macht wird über euch hinwegfegen wie ein Sturm aus Eis und Finsternis, und keiner von euch bedeutungslosen Narren wird imstande sein, mir Widerstand zu leisten! Und du, törichter Sohn geringer Menschen – du wirst der Erste sein, der untergeht.

Mit einem Schrei, in dem all seine Wut und sein Schmerz lagen, schlug Kirin den brodelnden und kochenden Spiegel gegen die Wand. Scherben flogen durch die Luft und schnitten in seine Arme und Hände, trafen ihn im Gesicht – mit einem ohrenzerfetzenden Klirren zerbarst die Oberfläche des Spiegels, der Rahmen verbog sich und löste sich endlich von seiner Haut. Von einem Herzschlag zur nächsten herrschte Stille – und Kirin wachte auf.

Er brauchte einige Herzschläge, um sich zu orientieren und zu erkennen, dass er zusammengerollt auf seiner durchnässten Decke kauerte, dass der Spiegel und die Stimme verschwunden und seine Hände nicht fürchterlich verbrannt waren.

»He, Kleiner«, meinte Rhùk, der durch den langsam abklingenden Nieselregen auf ihn zukam, »du machst Fortschritte. Dabei bin ich extra früher von meinem Wachdienst gekommen, weil es immer eine Ewigkeit dauert, dich zu wecken …« Er bemerkte Kirins Gesichtsausdruck. »Was ist los mit dir?«

Kirin setzte sich auf; er war schweißüberströmt und zitterte am ganzen Körper.

»Wir sind auf jedem Fall auf dem richtigen Weg«, sagte er. »Ich habe gerade eben die Bestätigung dafür bekommen.« Er erzählte Rhùk, was geschehen war, und während seiner Erzählung sammelten sich auch die anderen Windreiter und Megan um ihn.

Als er geendet hatte, nickte Megan nachdenklich.

»Elouané hat mir öfter von Träumen dieser Art erzählt«, sagte sie. »Manche nennen sie hellsichtige Träume oder Visionen. Bis vor einigen Monden hätte ich sie vielleicht als Wahnvorstellungen bezeichnet, aber nach all dem, was geschehen ist …« Sie zuckte die Schultern.

»Also hat der Gott selbst zu Euch gesprochen«, fasste Mìszak zweifelnd zusammen. »Und er hat Euch ausdrücklich aufgefordert, von Eurem Weg abzusehen.«

»Natürlich hat er das – weil er Schiss hat, dass wir seine Bande von Spinnern einholen und ihnen das Mädchen wegschnappen«, entgegnete Rhùk, und obwohl sie ihm sonst mit ausgesuchter Verachtung begegnete, nickte Asusza bei diesen Worten zustimmend.

»Aber bedenkt doch, was das für uns bedeutet«, warf Mìszak ein. »Er weiß, wo wir sind und was wir vorhaben. Der Schatten beobachtet uns. Und er warnt uns davor, sich ihm in den Weg zu stellen. Was bedeutet das Eurer Meinung nach für die Fortsetzung unserer Reise?«

»Dass er machtlos ist«, entgegnete Kirin. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah seine Begleiter einen nach dem anderen entschlossen an. »Er wollte mich mit Schmeicheleien und Bestechung davon abbringen, nach Elouané zu suchen. Das heißt, er hat Angst – Angst, dass es uns gelingen könnte, seine Anhänger zu besiegen. Überlegt doch mal, er hat keine Macht mehr über diese Welt – alles, was er tun will, muss er über die Mitglieder seines Ordens tun. Er kann uns nichts anhaben, ansonsten hätte er keine Warnung geschickt.«

»Und vergesst nicht, dass der Dunkle nicht der einzige Gott ist, der seine Augen auf diese Welt richtet«, warf Larniax ein und machte demonstrativ das Zeichen der Drei über seiner Stirn.

»Also heißt das, wir ziehen weiter?«, fragte Asusza, als unterhielten sie sich darüber, wo sie ihr Mittagslager aufschlagen sollten.

Kirin suchte einen Moment Megans Blick, dann nickte er. »Das tun wir.«

Der Morgen brach so finster an wie die Nacht zuvor, und obwohl Rhùk versicherte, er habe in seinem Leben schon viele Gewitterwolken gesehen, wirkte auch er beunruhigt, als die ersten Blitze über den Himmel zuckten. Gegen Mittag war es so dunkel, dass sie kaum mehr die Hand vor Augen sahen, außer wenn eines der zahlreichen Wetterleuchten den Himmel erhellte. Der Wind hingegen hatte von einem Herzschlag auf den anderen aufgehört, was Kirin aber seltsamerweise mehr beunruhigte als freute.

Als wieder einmal ein Blitz den Weg vor ihnen erleuchtete, hob Rhùk die Hand und zeigte in die Ferne: »Da vorne ist das Métszek-Tor«, erklärte er. »Es bildet den Mittelpunkt der Provinz Àszet, durch die wir reisen.«

 

Unweit vor ihnen ragten zwei gewaltige alte Bäume in die Höhe wie Riesen. Ihre Stämme waren so dick, dass wahrscheinlich zehn Leute nötig gewesen wären, sie zu umspannen; ihre gewaltigen, knorrigen Äste schienen sich nacheinander auszustrecken und sich zu berühren, sodass sie eine Art Torbogen bildeten.

»Steineichen«, erklärte Krìszan, als sie näher heranritten. »Die letzten ihrer Art in dieser Gegend. Es heißt, sie stammten noch aus der Zeit, als das Land hier über und über mit Wald bedeckt war – aus den dunklen Jahrhunderten des ersten Zyklus. Man sagt, denjenigen, der durch dieses Tor reitet, begleiten Glück und Sicherheit auf seiner Reise.«

Rhùk sah ihn an und zuckte die Schultern.

»Na dann«, machte er und ritt dem Rest der Gruppe voran zwischen den Bäumen hindurch. In beinahe andächtigem Schweigen folgten die anderen.

»Was uns diese Bäume wohl alles erzählen könnten«, murmelte Megan.

Mìszak schnaubte.

»Solange sie mir nicht sagen, wie wir die Magieschilde der Schattenanbeter zerschlagen können, ohne dabei selbst getötet zu werden, können sie von mir aus den Mund halten.«

Krìszan achtete nicht auf ihn; mit ehrfürchtiger Miene lenkte er sein Pferd auf den linken der beiden Bäume zu und legte die Hand auf den grauen Stamm.

»Als würde man den Panzer eines jahrtausendealten Drachen berühren«, meinte er; wie zur Unterstützung seiner Worte entstand ein hauchdünner Faden aus Licht zwischen seinen Brustplatten und sprang spielerisch von einer zur anderen.

»Hört bloß mit solchen Geschichten auf«, befahl Kirin, der ein Frösteln unterdrücken musste. »Es reicht, dass wir uns mit Göttern und Magiern anlegen müssen – das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann, ist ein Drache, der uns mit seinem Atem zu Asche verbrennt.«

Er wandte sich ab, und im selben Moment schlug der Blitz in den Baum ein – ein ungeheures Krachen und Tosen ertönte, dann spürte er, wie Rýsz bockte und stieg, und einen Herzschlag später lag er am Boden, völlig verwirrt, während um ihn her eine Flut von Rufen und Geschrei losbrach.

»Was ist passiert?«, rief er panisch und blinzelte gegen das grelle Licht hinter seinen Augenlidern an. Kräftige Hände packten ihn und zogen ihn hoch, und als sich sein Blick endlich klärte, sah er Asusza, die an ihm vorbei zu den Bäumen starrte. Kirin drehte sich um, und sein Magen geriet bedrohlich in Schlingern: Der gewaltige, jahrhundertealte Baum war in der Mitte gespalten, und darunter lag der schrecklich dampfende Überrest eines Pferdekadavers. Von dem Reiter, der darauf gesessen hatte, war nichts mehr übrig, außer einer bis fast zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzenen Rüstung.

Totenstille breitete sich aus.

»Wie sagtet Ihr gestern, Exzellenz?«, fragte Mìszak mit einem schneidenden Unterton in der Stimme. »Der Schatten kann uns nichts anhaben, nicht wahr?«

Schweigend suchten sie die Überreste von Krìszans Schwertern zusammen und steckten sie so gut es ging neben ihm in den Boden.

»Zu verbrennen brauchen wir ihn nicht mehr«, fügte Asusza trocken hinzu.

»Haltet euch bloß von den Bäumen fern«, warnte Megan, als ein weiterer Blitz den Himmel erleuchtete.

Nachdem sie die wenig feierliche Zeremonie hinter sich gebracht hatten, zogen sie weiter, wobei Rhùk einen Blick zurückwarf.

»So viel zum Thema ‹Glück und Sicherheit’«, meinte er leise.

Obwohl Kirin beinahe schon damit gerechnet hatte, verursachten die ersten Schneeflocken, die am Abend dieses Tages vom Himmel fielen, ihm Übelkeit. In der Nacht schneite es so stark, dass sie wieder kein Feuer in Gang brachten, dazu setzte der Wind, der tagsüber ausgeblieben war, plötzlich mit solcher Macht ein, dass sie Rucksäcke und Decken am Boden befestigen mussten, damit sie ihnen nicht davonflogen.

Und jetzt zeigte sich der deutliche Nachteil der südländischen Krieger: Mit Ausnahme von Rhùk und dem toten Krìszan stammte kein Einziger von ihnen aus dem Norden Aracanons, und selbst wenn, hatten die meisten von ihnen doch fast ihr ganzes Leben in der Hauptstadt verbracht, wo es heiße Sommer und milde Winter gab. Die Krieger froren trotz Überkleidung und Umhängen erbärmlich, und Kirin wusste, wenn es so weiterging, würden sie nicht lange durchhalten. Um sie alle wenigstens ein bisschen warmzuhalten, musste er die Lebensmittelrationen vergrößern, wodurch sie ihre ohnehin schon knapper werdenden Vorräte noch schneller aufzehrten. Sie brauchten Nachschub, aber vor allem Wärme.

Zu allem Übel machte ihn Feriz auf ein weiteres Problem aufmerksam: »In wenigen Tagen müssten wir den Fluss Szàt erreichen«, erklärte er und deutete auf einen Punkt auf seiner Karte, die der Wind ihm aus der Hand zu reißen drohte. »Er ist nicht so breit wie die Thoyga und daher auf vielen Karten gar nicht eingezeichnet. Aber er ist tückisch und tiefer, als man denkt. Seine Strömungen sind gefährlich, außerdem heißt es, dass merkwürdige Fische in seinen Tiefen leben, die jede Art von Fleisch ungemein schätzen. An dieser Stelle hier gibt es eine Brücke, aber wenn das mit dem Wetter so weitergeht, könnte sie zugeschneit sein, ehe wir dort sind. Wenn wir sie freischaufeln müssen oder sie unter dem Gewicht des Schnees instabil wird, müssen wir um den Fluss herum, was uns Tage, vielleicht Wochen kosten wird.«

Kirin zog die Mundwinkel nach unten. »Also müssen wir uns sputen.«

Das war allerding leichter gesagt als getan: Der Schnee fiel unerbittlich, und nach drei Tagen stand er so hoch, dass sie beim Absteigen bis zur Hüfte darin versanken. Die ausdauernden und zähen Arachinenpferde taten, was sie konnten, doch auch sie konnten keine Galopprennen mehr hinlegen, wenn sie sich durch Schneewehen kämpfen mussten, die ihnen bis zum Bauch reichten.

»Wenn das so weitergeht, brauchen wir uns um den Fluss keine Sorgen mehr zu machen!«, brüllte Rhùk eines Mittags in Kirins Ohr, als ein besonders tückischer Windstoß sie von hinten erfasste und beinahe aus den Sätteln hob. »Das verdammte Ding ist längst zugefroren, wenn wir da sind!«

»Oder wir«, murrte Kirin; seine Finger waren taub, und der Schal, den er sich um den Kopf geschlungen hatte, völlig durchtränkt von Nässe.

»Ich frage mich eines«, fing Mìszak an diesem Abend an, als sie einen freien Platz für ihr Lager zu schaufeln versuchten. »Was ist, wenn wir die Brücke am Szàt erreichen und der Schnee so hoch steht, dass wir sie nicht passieren können?«

Kirin biss die Zähne zusammen; solche und andere Fragen hatte er sich immer wieder gestellt in den endlosen Stunden, in denen sie schweigend und mit verbissen gesenkten Köpfen auf ihren Pferden saßen und sich Schritt um Schritt durch die Schneemassen zu kämpfen versuchten. Er war sicher, dass dieses Wetter keinen natürlichen Ursprung hatte; ein rachsüchtiger Wille steckte dahinter, der sich gegen ihre Fahrt allein richtete und der sie alle tot sehen wollte. Dass Mìszak sich ausgerechnet diesen Zeitpunkt für seine Stänkereien wählte, ließ Kirin Ungutes ahnen.

»Wir haben aber keine andere Wahl«, entgegnete er und funkelte den Windreitergeneral wütend an. »Ihr seid ein Windreiter Aracanons, Angehöriger der zähesten und besten Armee des Kontinents; für Euch und die Euren ist nichts unmöglich. Wir werden uns beeilen, so sehr wir können, und wir werden den Fluss erreichen, noch bevor zwei Tage um sind. Und Ihr werdet sehen, die Brücke ist nicht zugeschneit.«

Tatsächlich erreichten sie am Abend des übernächsten Tages den Szàt, und Kirin behielt Recht: Die Brücke war nicht zugeschneit worden.

Sie war vollständig eingestürzt.

Lòethin, zwanzig Meilen östlich der Grenze zu Aracanon,

Spätwinter im Jahr 1099 des zweiten Zyklus

Narvek beobachtete die Wolken, die sich im Westen ballten und ein Wintergewitter ankündigten. Ihn beunruhigte das nicht; sein Gott wachte über ihn. Tatsächlich lächelte er, als ein schwacher Windstoß ihn streifte, denn ihm war, als trüge selbst diese zarte Brise eine Ahnung von Magie in sich.

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