Die Chroniken der drei Kriege

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Wieder schwiegen sie, dann erwiderte Megan völlig ruhig: »Dann solltest du auch den Mut haben, einen ungetrübten Blick auf das Ganze zu haben: Du willst sie beschützen, sagst du. Aber indem du sie hier im Palast einsperrst, setzt du der Bedrohung, der wir alle ausgesetzt sind, kein Ende. Wenn du den schwarzen Orden treffen willst, musst du bereit sein, etwas zu riskieren.«

Kirin wusste, dass sie Recht hatte.

Offenbar sah Megan diese Erkenntnis in seinen Augen, denn sie kam einen Schritt näher und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich nicht bereit bin, etwas Unüberlegtes zu tun. Wir müssen sehr genau durchdenken, wie wir vorgehen, und immer damit rechnen, dass etwas schiefgehen kann.« Einen Moment hielt sie inne, und als sie Kirin wieder offen ansah, lag ein entschlossener Ausdruck in ihren Augen. »Ich glaube, ich habe eine Idee.«

Megan hob den Messbecher vor die Augen und schüttelte ihn leicht. Ja, es war genug Petersilie drin, jetzt musste sie den Sud nur noch etwas ziehen lassen. Sie stellte den Becher weg und nahm stattdessen einen kleinen hölzernen Kasten hervor, in dem sie aufsaugende Tücher aufbewahrte. Ein scharfer Duft nach Zitrone und anderen Ölen stieg ihr in die Nase, als sie ihn öffnete, und sie lächelte zufrieden. Sie verschloss den Kasten wieder und prüfte stattdessen als Letztes nach, ob ihr Vorrat an Steinsalzkristallen noch nicht erschöpft war – war er nicht. Eines nach dem anderen ließ sie die Gegenstände zurück in ihre Reisetasche gleiten.

Rhùk und sie waren von Kirin im Gästetrakt einquartiert worden, in einem Gemach, das größer war als der Lesesaal der Bibliothek von Aléh und einen wundervollen Blick auf die Stadt bot. Sie sah hinaus, während sie arbeitete, und wunderte sich, wie scheinbar friedlich sie dalag. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, war sie ein Bild von Tod und Zerstörung gewesen. Jetzt, im sanften Licht eines frühen Wintermondes, erinnerte nichts mehr daran. Sie hatte Kirin gestern ihre Idee unterbreitet, und obwohl sie sah, dass sie ihm nicht gefiel, musste er einsehen, dass sie einen Versuch wert war. Er hatte seine engsten Berater darin eingeweiht, und auch sie waren davon angetan gewesen. Wenigstens würde es ihnen das Gefühl geben, irgendetwas getan zu haben.

Leise öffnete sich die Tür hinter ihr, und ein kühler Luftzug streifte ihre Haut. Sie lächelte versteckt, als sich ihr die vertrauten Schritte näherten und dann eine Hand ihren Nacken berührte.

»Was machst du da?«, fragte Rhùk neugierig.

»Ich stocke meine Arzneien auf«, erklärte sie nebenher und deckte den Becher mit dem Petersiliensud zu.

»Hast du schon wieder ein ganzes Rudel an zukünftigen Patienten ausgemacht?«, neckte Rhùk zärtlich und massierte ihren Hals mit seinen kräftigen Fingern.

»Persönliche Arzneien. Für mich«, sagte Megan so beiläufig wie möglich und warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu, von dem sie wusste, wie schuldbewusst es aussah.

Rhùk ließ die Hand sinken und sah sie aus seinen dunklen Augen an. »Wann hörst du damit auf?«, fragte er; er sprach ohne Vorwurf, aber trotzdem biss sich Megan auf die Lippen.

»Was meinst du damit?«, fragte sie und stand auf; dieses Thema war ihr mehr als unangenehm, und sie wünschte nicht zum ersten Mal, sie könnten es einfach beide vergessen und nie mehr darüber reden.

»Wir sind jetzt verheiratet«, sagte Rhùk ruhig, »es ist nicht mehr nötig, dass du das machst.«

Megan presste den Mund fest zusammen und sagte nichts.

Rhùk kam näher und berührte sie sachte an den Armen. »Es ist nichts Schlimmes dabei. Eigentlich ist es das Natürlichste für ein Ehepaar, oder nicht?«

Megan drehte sich von ihm weg, ein widerliches Brennen in der Kehle; sie hasste es, und er sollte sie nicht so sehen.

»Megan, die meisten Menschen haben irgendwann Kinder.«

Sie flüchtete ans Fenster.

Als sie damals mit Rhùk aus Nardéz aufgebrochen war, war ihr klar gewesen, dass sie sich auf etwas Unvorhersehbares einließ, doch für einmal hatte sie ihre Zweifel zum Schweigen gebracht. Obwohl sie gespürt hatte, dass ihre Zuneigung stärker war als die seine, hatte sie sich auf ihn eingelassen, und er hatte ihr bisher nie einen Grund gegeben, das zu bereuen.

Je mehr Zeit sie miteinander verbracht hatten, desto tiefer war die Verbundenheit zwischen ihnen geworden, und mittlerweile gab es für sie keinen Zweifel mehr an seinen Gefühlen. Wenngleich sie sich in vielen Dingen so sehr voneinander unterschieden – die Dinge, in denen sie sich ähnelten, waren wichtiger, und in der Zwischenzeit genügte oft ein Blick oder eine Geste, damit der eine wusste, was der andere dachte.

Diese eine Sache jedoch war eine unüberbrückbare Mauer, und so sehr sie auch versuchte, sie zu umgehen, er kam immer wieder darauf zurück, mit einer Beharrlichkeit, die sie überraschte und verärgerte.

»Ich wusste nicht, dass du plötzlich so versessen darauf bist, häuslich zu werden.« Ihre Stimme hätte bissig klingen sollen, zitterte aber verdächtig.

Lange Zeit sagte Rhùk nichts, und ihr war klar, dass sie ihm wieder einmal wehgetan hatte.

»Ich frage mich nur, warum du unter keinen Umständen ein Kind von mir willst.«

Diese Ruhe, diese fürchterliche Ruhe in seiner Stimme.

Megans Gesicht verzerrte sich, und langsam drehte sie sich zu ihm um. Sie sah seine Miene im Halbdunkel und musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen.

»Wenn wir … wenn ich ein Kind hätte«, begann sie schließlich, »was wäre dann?«

Ein Anflug des üblichen ironischen Glitzerns stahl sich in seine Augen.

»Nun, vermutlich hätten wir ein pummeliges kleines rosa Ding, mit dem wir uns plötzlich herumschlagen müssten. Es würde schreien und quengeln und ich würde sehr schnell darauf zu reden kommen, dass du von Anfang an Recht hattest und wir es lieber hätten bleiben lassen sollen.«

Megan zwang ihren Atem zur Ruhe.

»Wenn wir … wenn ich ein Kind gebären würde, dann wäre es … es wäre wie ich. Ich habe keinen Feind auf der Welt, dem ich so etwas wünschen würde, wie kannst du verlangen, dass ich es meinem eigenen Kind antue?«

Lange Zeit herrschte Schweigen in dem kleinen Raum, durchbrochen nur vom Geräusch des Windes draußen.

Dann sagte Rhùk: »Du weißt, dass es mir egal ist. Dass ich dich so will, wie du bist. Und dass ich auch unser Kind wollen würde.«

Megan zwang sich zu einem Lächeln. »Aber allen anderen Menschen wäre es nicht egal. Es mag für dich einfach sein, aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem etwas vorfällt, und dann würden sie Jagd auf uns machen. Auf unseren Sohn oder unsere Tochter. Er oder sie würde nie normal sein und sich immer verstecken müssen. Unser Kind wäre ein Flüchtling und ausgestoßen, sein ganzes Leben.«

»Du vergisst, dass ich auch noch da bin«, bemerkte Rhùk mit einem halben Grinsen und trat auf sie zu. »Immerhin hätte das Kind sicher ganz viel von seinem großen starken Vater. Es würde einfach alle verdreschen, die ihm zu nahe kommen, und jeder würde vor Angst zittern, wenn auch nur sein Name fallen würde.« Er küsste ihre Stirn, und für einen Augenblick erlosch jede Ironie in seinem Blick. »Ich würde es beschützen. Du würdest es beschützen. Es wäre nie ausgestoßen, denn es hätte uns.«

In diesem Moment liebte sie ihn so sehr wie noch nie zuvor, so sehr, dass es keine Worte gab, es auszudrücken. Stattdessen schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn an sich, und er erwiderte stumm ihre Umarmung. Lange hielten sie sich so fest, bis der Mond hinter einer Wolke verschwand.

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Winter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Seine Kleider stanken vom Unrat und der scheußlichen Brühe in der Kanalisation, aber Narvek war es gleich; endlich hatte er sein Ziel erreicht, und dieses Wissen gab ihm Antrieb genug. Er hatte sich dem Grenzfluss Thoyga bereits bis auf wenige Tagesmärsche genähert, als ihn der Befehl seines Obersten erreichte, sich nach Westen zu wenden. Das Gefäß war in der Hauptstadt Aracanons gesehen worden, ein Segen, der ihn dazu veranlasst hatte, mitten in der Wildnis auf die Knie zu fallen und ein Dankesgebet für seinen Gott zu sprechen. Dass es Stilicho und seiner Bande von Idioten überlassen blieb, das Mädchen einzufangen – diese Vorstellung hingegen war unerträglich, also hatte er sich über Menschenkraft hinaus beeilt, seine wertvollen Reserven an Magie aufgebraucht, nicht gegessen und geschlafen, um rechtzeitig in der Stadt einzutreffen. Es war nicht gerade einfach gewesen, sich ungesehen Zutritt zu den Abwassergräben zu verschaffen, da es auch dort vor Wachen wimmelte, aber unter Aufwendung all seines jahrelang erworbenen Könnens war es ihm gelungen.

Jetzt stand er in einem heruntergekommenen Stollensystem, das von unkundiger Hand ins Erdreich gegraben worden war, und sah dem anderen Ordensvorsteher ins Gesicht. Stilicho war kaum mehr als ein wandelnder Leichnam, aber seine Jünger hielten respektvoll Abstand zu ihm, und auch Narvek spürte die Kraft, die noch immer in ihm pulsierte.

»Du bist also gekommen«, krächzte der Alte und deutete eine Verbeugung an. »Wir sind höchst erfreut über dieses Glück. Der Oberste hat vorausgesagt, dass mit deiner Hilfe die Ergreifung des Gefäßes möglich sein würde.«

»Und damit hatte er Recht«, erwiderte Narvek. »Wir können uns nicht erlauben, sie noch einmal zu verlieren. Ich hoffe, du hast alle Maßnahmen getroffen, um sie zu überwachen?«

Stilicho schielte von unten her zu Narvek hoch. »Seit dem … bedauerlichen Vorfall, der den jungen Großfürsten auf unsere Spur führte, habe ich meinen Späher Tag und Nacht in der Nähe des Palastes postiert. Er berichtet mir, dass das Mädchen sich noch immer dort aufhält. Sie erhält besondere Bewachung, wird nie aus den Augen gelassen. Daher war es uns bisher noch nicht möglich, direkt etwas zu unternehmen.«

 

»Das ist unerfreulich«, entgegnete Narvek barsch, »aber besser, als wenn es irgendein weiteres tölpelhaftes, überstürztes Eingreifen gegeben hätte, das die Wachsamkeit des Jungen noch mehr wecken könnte.«

Bei diesen Worten warfen ihm einige der umstehenden Ordensbrüder finstere Blicke zu, doch Narvek scherte sich nicht darum.

»Wart ihr wenigstens in der Lage, irgendeine Schwachstelle in der Befestigung des Palastes auszumachen?«

Stilicho räusperte sich, auch er zunehmend verärgert. »Es gibt ein Tunnelsystem unterhalb des Palastes, in dem sich auch die Kerker befinden, doch die Pläne dazu sind längst verschollen. Selbst wenn wir einen Weg hinein fänden, bräuchten wir eine Ewigkeit, um uns durch dieses Labyrinth zu kämpfen, und auch dann stünde uns noch immer eine ganze Armee von Palastwachen gegenüber.«

Narvek tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. »Ich erinnere mich nicht, dich gebeten zu haben, mir zu sagen, was nicht funktioniert«, sagte er kalt. »Versuch nicht, dich herauszuwinden. Gibt es für uns einen Weg in den Palast hinein oder nicht?«

Stilicho richtete sich auf. »Die hinteren Palastgärten sind schwächer bewacht als der Rest des Komplexes«, sagte er, »aber solange die Aufmerksamkeit des Großfürsten sich voll darauf konzentriert, das Gefäß innerhalb dieser Mauern in Sicherheit zu behalten, wäre auch ein Versuch, dort einzusteigen, fruchtlos.«

Als Narvek sich entnervt abwenden wollte, fügte er hinzu: »Dennoch glauben wir, dass sich uns in Kürze die Möglichkeit für einen Angriff bieten könnte.«

Abwartend breitete Narvek die Arme aus und wandte sich dem Alten wieder zur Gänze zu. »Ich höre?«

»Auf Drängen der Stadtbevölkerung hat der Großfürst angeordnet, den Tempel des weißen Götzen wieder aufbauen zu lassen«, krächzte Stilicho, ein Glitzern in den trüben Augen. »Der Rohbau sollte in den nächsten Tagen fertiggestellt sein. Da es uns gelungen ist, die verbliebenen Ketzer zu töten, ist das Gefäß das einzige Mitglied dieses Konvents, das sich in der Stadt oder der näheren Umgebung aufhält. Du hast gehört, dass die wenigen, die dem Weißen geblieben sind, die Westlande verlassen …«

»Ja, habe ich«, unterbrach Narvek ungeduldig. »Erzähl weiter!«

»Nun, um den Tempel zumindest der Form nach einzuweihen, ist geplant, das Gefäß dorthin zu bringen, damit sie eine entsprechende Zeremonie abhalten kann«, erklärte der Alte mit einem wissenden Grinsen. »Zu diesem Zeitpunkt wird sie nur wenige Windreiter um sich haben – und es wird viel Volk auf der Straße unterwegs sein, um der Zeremonie beizuwohnen. Viele Gesichter, unter denen einige mehr oder weniger nicht auffallen.«

Narvek erlaubte sich ebenfalls ein Lächeln. »Ausgezeichnet. Dann wird dies der Tag sein, an dem wir uns dem Einen beweisen. Bis dahin wählt einige unter euch aus, die Augen und Ohren offenhalten für alles, was mit den Vorbereitungen für diese Zeremonie zu tun hat. Lass deinen Späher stets auf seinem Posten – nur zum Rapportieren kehrt er hierher zurück. Der Rest von euch geht in sich und ruht sich aus. Es wird ein schwerer Kampf, den wir zu bestehen haben.«

Der Alte lachte leise und rasselnd, und einige seiner Jünger stimmten mit ein.

»Die Windreiter sind nicht zu unterschätzen, das stimmt. Mit dem Metall, das sie tragen, können sie unsere Angriffe abwehren – aber wenn wir alle zusammen auf einen Schlag angreifen … Unser Vorhaben kann nur gelingen.«

Narvek fixierte sein Gegenüber. »Das ist nicht alles. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass sich unter den Gefährten des Gefäßes ein Halbblut befindet.«

Für einen Moment herrschte schockierte Stille, dann brachen alle Umstehenden in hektisches Gemurmel aus; Narvek sah, wie Köpfe geschüttelt wurden.

»Ein Halbblut?«, raspelte Stilicho, »bist du sicher?«

»Mir wurden Berichte zugetragen, dass eine solche Kreatur den ersten Angriff unserer Mitbrüder zurückgeschlagen hat, als sie das Gefäß zu ergreifen suchten. Das Halbblut und ein menschlicher Krieger sollen sie auf ihrem Weg hierher begleitet haben.«

Stilicho dachte einen Augenblick nach, dann hob er die Hand, um die aufgeregten Brüder verstummen zu lassen.

»Es ist wahr, mein Späher berichtete von einem Windreiter und einer anderen Frau, die mit dem Gefäß im Palast eingetroffen sind. Wenn sie ein Halbblut ist … Über die Kräfte dieser Ungeheuer ist kaum etwas bekannt, und die wenigen Berichte, die es gibt, weichen stark voneinander ab.« Der Alte hielt inne und sah Narvek offen an. »Wir müssen den Obersten davon in Kenntnis setzen.«

»Unter gar keinen Umständen!«, hielt Narvek scharf dagegen. »Skaidridt ist mit den Vorbereitungen für das allerheiligste Ritual beschäftigt. Es ist nicht nötig, ihn mit solchen Dingen zu behelligen. Vergiss nicht, Bruder, es ist nur eine dieser Kreaturen – wir sind viele. Gemeinsam werden wir sie erdrücken, sollte sie es wagen, ihr Gesicht in der Stadt zu zeigen. Und ob das wahrscheinlich ist, wage ich zu bezweifeln – vergiss nicht, wie verhasst diese Kreaturen sind, in Aracanon noch mehr als sonst überall.«

Stilicho nickte nachdenklich. »Als die Stadt in die Hände des jungen Großfürsten fiel, hörte ich Gerüchte … Gerüchte über eine solche Bestie, die sich in den Reihen der Ostländer befinden sollte … möglicherweise ist es dasselbe Halbblut. Wenn dem so ist, dann wird sie sich hüten, sich erneut dem Hass der Stadtbevölkerung auszusetzen.«

»Bleibt auf alle Fälle aufmerksam. Wir können uns keine Fehler mehr leisten. Lasst uns jetzt gemeinsam beten«, fügte Narvek hinzu und ließ sich langsam auf die Knie nieder. »Betet für den Erfolg unserer Mission – und das Kommen des Einen.«

Der Hinterhalt

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Winter im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Fast drei Monde nahmen die Bauarbeiten in Anspruch, dann endlich wurde der letzte Stein ins Mauerwerk des weißen Tempels gesetzt. Noch fehlten Verzierungen, Schutzsprüche und Statuen, aber allein der Anblick des weißen Gebäudes, das von weither sichtbar zwischen den anderen Häusern hervorstach, schien den vom Schicksal gebeutelten Menschen wieder ein wenig Mut zu machen. Zwanzig Nächte waren vergangen, in denen es keinen einzigen Toten gegeben hatte, und viele sahen das als Zeichen dafür, dass der Lichte wieder in die Stadt zurückgekehrt war. Tatsächlich waren wieder einige fremdländische Gesichter in Nardéz gesehen worden – Händler, von denen die meisten sich von der blutigen Mordserie hatten abschrecken lassen und trotz der winkenden Reichtümer das Weite gesucht hatten. Allzu weit schien es aber nicht gewesen zu sein, denn kaum machten die ersten positiven Gerüchte die Runde, kehrten dickbäuchige Koggen und schlanke Flussschiffe in den Hafen zurück, um aus den für den Winter dringend benötigten dicken Stoffen für die Nardézer Profit zu schlagen.

Es war kälter geworden – lange nicht so kalt, wie es in Yorenin um diese Jahreszeit war, aber kühl genug, dass die meisten Frauen ihre hauchdünnen Sommerstoffe gegen samtene Überzüge und Röcke eintauschten und die Windreiter ihre Uniformen um schwarze Waffenröcke und Handschuhe erweiterten. Kirin, der die arachinischen Krieger bisher noch nie in dieser Montur gesehen hatte, fand den Anblick irritierend – tatsächlich machten die Stadtwachen in ihren langen Ärmeln auf ihn einen beinahe harmlosen Eindruck.

»Nur zu, fordere einen von ihnen heraus, dann wirst du sehen, wie harmlos sie sind«, ermunterte ihn Rhùk, als Kirin ihm diesen Gedanken mitteilte. Der Windreiter war noch immer beleidigt, weil er die Aufforderungen zum Kampf auf Leben und Tod nicht hatte annehmen dürfen, und daher war Kirin beinahe froh, dass der Tag der Einweihung nun endlich bevorstand; die Aussicht, seine Schwerter in einen der Schwarzmagier versenken zu dürfen, würde Rhùk hoffentlich von unüberlegten Handlungen abhalten.

Die Zeremonie sollte bei Sonnenaufgang stattfinden, mit dem Gedanken dahinter, dass die Schattendiener sich einerseits noch sicher genug fühlen sollten, aus ihren Löchern hervorzukommen, andererseits aber genug Licht vorhanden sein würde, damit sie nicht einfach unbemerkt verschwinden konnten. Demzufolge stand Kirin eine Stunde vor dem Morgengrauen auf dem Balkon des Fürstenpalastes und musterte die Szenerie auf dem Hof unter ihm; Soldaten, die sich in Reih und Glied aufstellten, Karren, die mit Blumen und Bildern festlich geschmückt durch die Stadt gezogen werden sollten, und einige Höflinge, darunter auch Monzù, die prächtig gekleidet ihre Positionen neben diesen Festwagen einnahmen.

›Das gefällt mir nicht‹, dachte er bei sich, ›das gefällt mir ganz und gar nicht.‹

»Mein Herr.« Elouané war aus der Düsternis des Palastes an ihn herangetreten, die graublauen Augen ebenfalls voller Sorge.

Kirin neigte den Kopf; Elouané trug eine helle Novizinnenrobe, dazu ein Tuch über dem Kopf, wie es zu religiösen Anlässen üblich war. Im Gegensatz zu den Tüchern der vereidigten Schwestern war es jedoch nicht in ihrem Nacken zusammengebunden, sondern fiel locker über ihre Schultern, sodass man eine Andeutung ihrer langen Haare sehen konnte. Dafür hielt sie eine schlichte weiße Maske in den Händen, die sie während der Prozession zum Tempel tragen würde, zum Gedenken an ihre toten Brüder und Schwestern.

Einen Moment schien sie um Worte zu ringen, dann sagte sie sehr schnell: »Mein Herr Kirin, ich habe Angst.«

Kirin machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu; selbst mit einer Armlänge Abstand zwischen ihnen meinte er die Wärme, die sie ausstrahlte, zu spüren.

»Ihr seid sicher«, beruhigte er sie. »Euch kann nichts geschehen.«

Doch Elouané schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um mich … ich habe Angst um die anderen, um Megan, um Euch … was ist, wenn Euch etwas zustößt? Wenn … wenn wieder jemand getötet wird?« Sie schürzte die Lippen, als müsste sie ihre Tränen zurückhalten.

Kirin versuchte zu lächeln.

»Wir können auf uns aufpassen. Durch Eure Warnung sind wir so gut gewappnet, wie es nur irgendwie geht. Jeder, der heute mitkommt, weiß, worauf er sich einlässt. Jeder von uns ist bereit, sein Leben zu riskieren, um den Wahnsinn dieser sogenannten Gottesdiener zu beenden.«

Lange sagte Elouané nichts; Kirin sah, wie sie unruhig mit ihrer Maske spielte. Schließlich hob sie den Kopf und sah Kirin so direkt an wie nie zuvor, und wieder war ihm, als würde ein unsichtbares Band gesponnen, zwischen ihren Augen und seinen.

»Wenn Ihr getötet werdet … Dann stirbt ein Teil der Welt, die der Lichte geschaffen hat. Alle, die ich in Eurem Umfeld sah, sind gute Menschen, das weiß ich. Aber Ihr … es ist mehr in Euch, und ich glaube, Ihr spürt es auch. Der Lichte hat Euch ausersehen. Wozu, weiß ich nicht, aber … Bitte, Ihr dürft nicht zulassen, dass Sie Euch etwas antun! Ihr müsst leben, versprecht mir das!« Sie schien nicht zu bemerken, dass sie beim Sprechen die Hände nach ihm ausgestreckt hatte, und ebenso unbewusst hob Kirin die seinen und umfasste sie.

Ihre Finger waren kalt, aber er spürte, wie seine Wärme auf sie überging.

»Ich verspreche es«, sagte er leise.

»Versprecht mir, dass Ihr nicht für mich sterben werdet«, flüsterte Elouané. »Versprecht mir, dass Ihr Euer Leben rettet, bevor Ihr meins rettet.«

Kirin spürte, wie ihre Finger die seinen drückten, und er erwiderte den Druck.

»Das kann ich nicht«, sagte er mit einem Lächeln. »Und wenn Ihr mich so kennt, wie ich es glaube, dann wisst Ihr das auch.«

Elouané erwiderte nichts, sondern sah ihn nur aus traurigen Augen an, die goldenen Punkte um ihre Pupillen wie sterbende Sonnen.

In diesem Augenblick erschallte unten auf dem Platz eine Trompete, und beide fuhren zusammen. Verlegen und auch ein wenig verwirrt lösten sie ihre Hände voneinander.

»Es ist Zeit«, sagte Kirin.

Elouané sah ihn an, als wollte sie noch etwas sagen, senkte denn aber nur den Kopf und kehrte gemeinsam mit ihm ins Innere des Palastes zurück.

Trotz der frühen Stunde waren die Straßen voller Menschen; es waren nicht so viele wie bei ihrer Heimkehr nach dem Vergeltungsschlag gegen die Ostländer, aber noch immer genug, um allfälligen Angreifern eine Deckung zu bieten. Ein weiterer Grund, warum Kirin dieser Plan nicht behagte.

Er reckte den Hals und überblickte den Festzug, dem er folgte: Ganz vorne ging eine Abteilung Windreiter, dann folgten die sechs geschmückten Wagen. In deren Mitte, für Kirin durch die ganzen Blumengirlanden gerade noch zu sehen, schritt die weißgekleidete Dienerin des Lichten, flankiert von weiteren Wachen. Danach folgte Kirin zusammen mit einigen hochrangigen Adeligen und seinen Leibwächtern. Rhùk und Larniax gingen direkt hinter Kirin, Asusza jedoch war im Palast zurückgeblieben. Ebenso fehlte die Heilerin, um die sich so viele Geschichten rankten.

 

Das Volk von Nardéz tuschelte, es handele sich um dieselbe widernatürliche Kreatur, die damals gefangen in die Stadt geführt worden war und den Untergang Galihls herbeigeführt hatte. Gerüchten zufolge hatte der Großfürst mögliche Angriffe auf sie verhindern wollen, andere wiederum behaupteten, er habe sie im Palast zurückgelassen, um das Gotteshaus nicht mit ihrer Anwesenheit zu entweihen.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie den vierten Stadtring passierten, wo der Tempel sich erhob, und Kirin war plötzlich von einer fiebrigen Erwartung erfüllt; etwas würde geschehen, da waren er und die anderen sich einig. Die große Frage war: Was?

Bevor die Prozession ihr Ziel erreichte, machte ihre Route einen kleinen Schlenker von der Hauptstraße weg, scheinbar, um den Zuschauern länger Gelegenheit zu geben, das farbenfrohe Gepränge zu bestaunen. Allerdings wurde die Straße jetzt enger, und so hatten die Menschen keine Möglichkeit, dem Zug zu folgen. Es wurde still um die Festwagen, und Kirin war, als hielte die Stadt mit ihm zusammen den Atem an. Er hob unauffällig den Blick und musterte die überhängenden Dächer ringsum.

›Nun macht schon‹, dachte er nervös, ›zeigt euch! Diese Stelle ist ideal für einen Hinterhalt!‹

Es geschah jedoch nichts, und die Gruppe kehrte nur wenig später auf die Hauptstraße zurück. Ein kleiner Platz lag vor ihnen, an den der neugebaute Tempel grenzte, und auch diesen hatte Kirin weiträumig absperren lassen. Während er hinter den quietschenden Wagen auf die freie Fläche hinausritt, versuchte er die Entfernung zu den von Soldaten zurückgehaltenen Zuschauern abzuschätzen. Zwanzig, dreißig Schritte?

›Viel zu weit‹, überlegte er finster. ›Zu viel Platz, zu wenig Deckung, um von hier aus anzugreifen.‹ Frustriert tauschte er einen Blick mit Rhùk; auch der Windreiter schien irritiert.

»Wo stecken sie denn?«, murrte Larniax ungewöhnlich laut, dennoch hörten es nur Kirin und Rhùk. »Ich hätte geschworen, sie greifen uns an!«

»Allein der Schatten weiß, was in den verdrehten Gehirnen dieser manteltragenden Fanatiker vorgeht«, erwiderte Rhùk in derselben merkwürdigen Lautstärke. Kirin kaute auf seiner Unterlippe herum und schwieg.

Mittlerweile hatten die Anführer der Prozession den Tempel erreicht und machten Platz, um die Wagen durchzulassen; in gemäßigtem Tempo scherten sie nach links und rechts aus, um den kleinen Steinbau in entgegengesetzten Kreisen zu umfahren, während die Novizin mit klarer Stimme einen Gesang anstimmte, in den nach und nach die Zuschauer einfielen.

Er sah, wie Rhùks Lippen sich bewegten und beugte sich näher zu ihm, um seine Worte zu verstehen.

»Ich sagte, sie sind religiös geworden, meine Landsleute!«, wiederholte der Windreiter lauter.

Kirin zog eine Augenbraue hoch. »Sie wissen jetzt, dass Magie noch immer existiert und dass auch die Märchen über die Gräueltaten des schwarzen Ordens keine Märchen sind – kannst du es ihnen verübeln, wenn sie glauben, dass auch noch andere Dinge wahr sein könnten?«

Er war zusammen mit seinen Begleitern stehengeblieben und sah nun zu, wie die Karren in gleichbleibendem Tempo um den Tempel gezogen wurden, während die Novizin sich langsam auf den Eingang des Baus zubewegte. Sie war die Erste, die ihn betreten würde, ansonsten hatte bis auf die Arbeiter noch niemand einen Fuß hineingesetzt. Während er ihr zusah, blendete auf einmal ein gleißendes Licht seine Augen; die Sonne ging weit hinter dem Tempel auf und stach ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Er blinzelte und hob die Hand, um sich vor dem Licht zu schützen – und in diesem Augenblick sah er es: Ein Huschen im dunklen Eingang des Tempels.

Eine Bewegung, nur einen Schritt von der weißgekleideten Gestalt entfernt, die sich ein letztes Mal vor dem Tempel und damit auch vor ihrem Gott verbeugte, ehe sie den Fuß über die Schwelle setzte.

»ACHTUNG!«, brüllte Kirin, doch das war alles, was er tun konnte; im nächsten Augenblick fegte ein Brausen wie ein Sturmwind über sie alle hinweg, und dann brach das Chaos los: Kirin sah verschwommen, wie schwarzgekleidete Gestalten aus dem Tempel strömten, während gleichzeitig aus allen Richtungen Geschosse geflogen kamen und auf dem Platz und in der Mitte der Prozession einschlugen; sie schienen direkt aus der Menschenmenge um den Platz herum zu kommen. Wieder waren entsetzte Schreie zu hören, und von einem Herzschlag auf den nächsten verwandelten sich die Zuschauer in eine panische Masse aus hirnlosen Tieren, die haltlos in alle Richtungen davonstürmten.

Hinter sich hörte er etwas zischen und warf sich instinktiv auf den Boden; das magische Geschoss sirrte über ihn hinweg und traf einen Zeremonienwagen, der von der Wucht regelrecht in Fetzen gerissen wurde. Die zwei Männer, die ihn gezogen hatten, wurden nach vorne geworfen und knallten hart auf den Stein. Rasch atmend drehte sich Kirin auf den Rücken und sah, wie die Windreiter, die die Menschenmassen zurückgehalten hatten, von Flüchtenden niedergetrampelt wurden, und noch immer gingen von überallher Geschosse auf sie nieder, die Löcher in den Boden rissen und jene, die sie trafen, durchbohrten.

»Da vorne!«, schrie Rhùk, der sich neben Kirin auf den Boden geschmissen hatte, und deutete mit einem seiner Schwerter auf den Tempel. Kirin sah hin und erkannte, dass die Schwarzmagier vor dem Gebäude auf dem Platz Stellung bezogen. Die meisten gestikulierten wie wild mit den Händen. Die Luft um sie her begann zu flirren, dann jagten unzählige unsichtbare Magiepfeile davon und schlugen Krater in die Masse aus fliehenden Menschen.

Hinter dieser Wand aus Ordensmitgliedern jedoch erkannte Kirin, wie eine einzelne weiße Gestalt von einem der Männer ins Innere des Tempels gezerrt wurde.

»Nein!«, brüllte Rhùk und sprang hoch; im Zickzackkurs lief er auf die Magier zu, und Kirin folgte ihm. So gut er konnte, wich er Geschossen, fliehenden Menschen und am Boden liegenden Körpern aus und zog im Laufen seine Schwerter; er hielt sich in Rhùks Windschatten und sah mit einer Mischung aus Schock und Bewunderung, wie der Windreiter Magiegeschosse von sich ablenkte, indem er sie mit der flachen Seite seiner Klinge abwehrte.

Als Kirin eines der flirrenden Dinger auf sich zukommen sah, zögerte er nicht und schlug danach als wäre es ein Ball, den er treffen wollte. Das schimmernde Etwas prallte mit der Wucht eines zweihändigen Schwerthiebes von der Klinge ab und sauste lebensgefährlich trudelnd davon, wobei es einen weiteren Karren in Stücke riss.

Mittlerweile hatten Kirin und Rhùk die Hälfte des Weges zum Tempel hinter sich gebracht; die Schattenjünger standen noch immer geschlossen davor und feuerten auf Windreiter ebenso wie auf Unbeteiligte.

Einer der Ordensjünger schien es besonders auf Kirin abgesehen zu haben; immer wieder sammelte er Kraft und schleuderte ein magisches Geschoss nach dem anderen gegen ihn, wobei Kirin oft nur im letzten Moment ausweichen konnte. Schließlich jedoch, als er auf etwa zehn Schritte an den Mann herangekommen war, reichte seine Schnelligkeit nicht mehr aus; statt die Magiekugel ganz abzulenken, streifte er sie nur mit seinem Schwert, woraufhin sie ihn zwar nicht mehr mit voller Wucht im Gesicht traf, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, dafür aber gegen seine Schulterpanzerung donnerte.