Die Chroniken der drei Kriege

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»Dennoch wird es Jahre dauern, bis Nardéz wieder das wird, was es vor Eurem Einfall war«, schmetterte Tumàsz seine Rechtfertigung ab. »Gar nicht zu reden von den hunderten von Toten, die Eure ostländischen Freunde verschuldet haben. Viele der Windreiter der Hauptstadt waren Söhne hochangesehener Familien und werden nie wieder zu ihnen zurückkehren. Gar nicht zu reden von dem Massaker, das Eure Soldaten unter den unschuldigen Bürgern dieser Stadt angerichtet haben!«

Kirin biss sich auf die Zunge; obwohl er diesen Mann von Herzschlag zu Herzschlag weniger leiden konnte, musste er zugeben, dass er Recht hatte. Er hatte die Klagen gehört, davon, dass hunderte wehrloser Bürger von ostländischen Soldaten im Kampfrausch niedergemacht worden waren, von vergewaltigten Frauen und abgeschlachteten Kindern … In den Ländern der Mitte und des Ostens mochte man die Windreiter für grausam halten, doch zumindest beschränkte sich ihre Gewalt auf das Schlachtfeld und die Soldaten dort. Eine Stadt mochte geplündert werden, aber auch das erst, nachdem der oberste Befehlshaber sie freigegeben hatte, und unter den unbeteiligten Bürgern gab es für gewöhnlich keine Opfer. Auch eine Taktik der Windreitergeneräle, hatte Rhùk ihn belehrt, denn wenn man sich neben der Wut der feindlichen Generäle auch noch die der gewöhnlichen Menschen zuzog, hatte man beim Einfall in ein fremdes Gebiet einen wesentlich schwereren Stand. Zwar hatte Kirin Gerüchte gehört von Vergeltungsschlägen in Uvonagh, dem Land, das Galihl als erstes den Rücken gekehrt hatte und zu den vereinigten Heeren übergelaufen war. Die Windreiter hatten Dörfer niedergebrannt und die Bevölkerung dort grausam niedergemetzelt, doch das waren gezielte Strafaktionen gewesen und machten trotz ihrer Schrecken nicht die Regel aus. Was in Nardéz geschehen war jedoch … Kirin musste sich unwillkürlich davon abhalten, die Augen zu schließen.

»Ich entschuldige nicht, was die ostländischen Heere an Furchtbarem angerichtet haben, als sie in die Hauptstadt einfielen«, sagte er mit lauter und klarer Stimme. »Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um das Elend der Bevölkerung von Nardéz zu lindern. Außerdem erwarte ich Abgesandte der Heere zu einer Audienz und beabsichtige, mit ihnen über eine Wiedergutmachung zu verhandeln.«

»Keine Wiedergutmachung der Welt wird unseren Söhnen das Leben und den Töchtern ihre Ehre wiedergeben können«, blaffte Tumàsz ihn an. »Von der Schande, die unserem Land zugefügt wurde, ganz zu schweigen.«

Kirin sog tief Luft ein. »Galihl war dem Wahn verfallen, den ganzen Kontinent an sich reißen zu wollen; er war ein blutdürstiger Tyrann, der alles Leben unter seine Herrschaft zwingen und jeden Menschen auf diesem Kontinent unterdrücken wollte. Was für eine Schande kann darin liegen, Wahnsinn und Blutvergießen zu beenden?«

Tumàsz machte einen Schritt auf Kirin zu, und die Verachtung, die auf seinem Gesicht lag, war jetzt nicht mehr zu übersehen. »Das Schlachtenglück lag auf unserer Seite! Unsere Armee hat einen ganzen Kontinent in die Knie gezwungen! Und dann werden durch einen hinterhältigen Trick unsere Hauptstadt eingenommen und unsere siegreichen Truppen zurückgepfiffen wie ungehorsame Köter! Wie wollt Ihr es denn nennen, dass die siegreiche Kriegsmacht gezwungen wurde, wider besseren Wissens den Schwanz einzuziehen und nach Hause zu rennen, nur weil ein Zögling der Ostlinge auf dem Thron sitzt?«

»Hütet Eure Zunge, Herr Tumàsz!«, fuhr Aderuz dazwischen; die Ärmel seiner Robe flatterten, als er sich an Kirins Seite stellte. »Bedenkt, es ist Euer Großfürst und Herr, an den Ihr das Wort richtet!«

Kirin sah Tumàsz‹ Nasenflügel beben; einen Moment lang ballte er die Fäuste, dann öffnete er sie langsam wieder. »Mit Verlaub, Exzellenz, das ist die Lage, wie sie sich präsentiert. Ihr seid ein Fremder, der sich die Herrschaft genommen hat, obwohl sie ihm nicht zustand, und obwohl viele weitere würdige Mitbewerber dabei übergangen wurden.«

»Mitbewerber?« Kirin umklammerte die Lehnen fester und beugte sich nach vorn. »Was soll das heißen, Mitbewerber?«

»Falls es Eurer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte, edler Herr, vor Euch sitzt Kirin Phalaér, der einzige leibliche Sohn, den Galihl hinterlassen hat, und sein direkter Nachkomme. Ich meine mich zu erinnern, dass auch Ihr bei der Krönungszeremonie anwesend wart; Ihr habt ihn das Schwarze Schwert führen sehen, womit sämtliche Zweifel ausgeräumt sein sollten, selbst für Euch.«

Kirin konnte Aderuz nicht ansehen, während der diese Worte sprach, und hoffte, dass man ihm nichts anmerkte. Er bemühte sich, jegliche Unsicherheit zu verbergen, indem er Tumàsz aus starren Augen fixierte.

Der Adelige reckte unerschrocken das Kinn. »Gewiss, Heiler, aber er ist ein Bankert, ein unehelicher Sohn, der außer im Fall einer ausdrücklichen Ernennung kein Anrecht auf den Thron seines Vaters hat. Jeder andere männliche Nachkomme hätte ebenso das Recht …«

»Dummerweise gibt es keine anderen Nachkommen«, schnitt Aderuz ihm das Wort ab. »Großfürst Galihl selbst hat zu seinen Lebzeiten dafür gesorgt, dass seine sämtlichen lebenden Verwandten ausgerottet wurden, abgesehen von der Herrin Asusza«, bei diesen Worten neigte er respektvoll den Kopf in Richtung der Frau, die still und reglos wie ein Berg hinter Kirins Thron Wache stand, »und Prinzessin Aszka, die noch immer im selbst gewählten Exil weilt. Beide Blutbindungen an den ehemaligen Großfürsten sind aber weniger eng als die Seiner Exzellenz, und da Prinzessin Aszka noch nicht geruht hat, zurückzukehren und General Asusza offen ihre Unterstützung zu ihrem Neffen bekundet, sehe ich keinen Grund …«

»Aber ich sehe einen Grund, Meister Aderuz. Ich und einige andere sehr hochrangige Vertreter des arachinischen Adels, in deren Namen ich heute ebenso hier stehe wie in meinem eigenen.« Tumàsz stemmte die Hände in die Hüfte. »Im Lauf der Geschichte ist es oft vorgekommen, dass ein Kriegsherr sich eines Titels bemächtigt hat, der ihm nicht zustand. Sagt selbst, wollt Ihr Euch wirklich diesen Ruf aneignen? Den eines Usurpators? Wollt Ihr nicht einmal zulassen, dass andere, vielleicht besser geeignete Kandidaten ihre Ansprüche wenigstens vortragen?«

»Die Herrschaft über Aracanon bindet sich an den Besitz des Schwarzen Schwertes«, hörte Kirin sich selbst sagen; seine Stimme zitterte, und das nicht nur vor Wut. »Wollt Ihr Euch Nàrdarell ausleihen und sehen, ob Ihr in der Lage seid, es zu führen, Herr Tumàsz?«

Für einen winzigen Augenblick stockte der Adelige, und Kirin wusste, wieso: Das Schwarze Schwert Nàrdarell, seit unzähligen Generationen in Besitz der Fürstenfamilie Phalaér, konnte nur von den wahren Erben dieses Blutes geführt werden; jeder, der nicht aus der direkten Linie der Großfürsten stammte, fand einen grauenvollen Tod, wenn er versuchte, das Schwert zu berühren. Die Magie des Schwertes, die älter war als der zweite Zyklus, verbrannte jeden, der so kühn war, es zu versuchen, zu Asche, und wer von der Klinge verletzt wurde, fand ein ebenso sicheres und grausames Ende.

Die Verunsicherung des Adeligen währte jedoch nur kurz; kaum einen Lidschlag später fasste er sich wieder und erwiderte ungerührt Kirins Blick. »Exzellenz, wart Ihr es nicht, der die Bindung an dieses verfluchte Schwert als unheilvoll bezeichnete? Habt nicht Ihr es aus den Augen jeder Menschenseele verbannen lassen, damit die Untaten, die damit begangen wurden, vergessen gehen? Wie könnt Ihr jetzt, da es Euch nützt, so plötzlich Eure Meinung gegenüber dieser Waffe ändern?«

Kirin krampfte unbewusst die Finger seiner linken Hand zusammen, der Hand, mit der er selbst bei seiner Krönungszeremonie Nàrdarell aus der Scheide gezogen hatte. Sie schmerzte allein bei der Erwähnung des Schwertes, und damit in einem Raum zu sein, war schon vor Monden für ihn unerträglich geworden.

»Mir wurde wiederholt vorgeworfen, dass ich mich zu wenig um die Traditionen dieses Landes kümmere«, entgegnete Kirin scharf. »Ich bin daher stets bemüht, das zu ändern.«

»Seht Ihr, Exzellenz, das ist das Problem: Ihr bemüht Euch. Ihr versteht nicht. Ihr seid kein Teil dieses Landes, wie Eure Zeugung auch immer zustande gekommen sein mag. Das größte Land des Kontinents einem Jungen zu überlassen, der kein Verständnis für dessen Kultur und Vergangenheit – seine Seele, mit anderen Worten – hat, das, so viel müsst Ihr einsehen, ist himmelschreiender Unsinn.«

Kirin bemerkte erst, dass er aufgestanden war, als Larniax ihm eine Hand auf die Schulter legte, wie um ihn zurückzuhalten. »Gebt auf Euren Ton Acht, Tumàsz! Ich mag nicht der wahnsinnige Mörder sein, der Galihl war, aber ich werde Eure Unverschämtheiten nicht tolerieren!«

Tumàsz musterte ihn für einen Augenblick sichtlich amüsiert. »Ich glaube nicht, dass Ihr mich angreifen werdet, Exzellenz. Abgesehen davon, dass Ihr in Euren Reden stets den Frieden und die Abkehr von der Gewalt gepredigt habt, dürftet Ihr Euch große Schwierigkeiten einhandeln, wenn Ihr es versuchtet. Wie ich schon sagte, bin ich mit dem Segen und der Ermächtigung der meisten großen Adelshäuser Aracanons hierhergekommen. Wir alle sind der Ansicht, dass Ihr uns, die wir das Fürstenhaus stets mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützten, mit Eurer Thronbesteigung übergangen habt. Die Ostländer haben Euch eingesetzt, als Fremdkörper könnte man sagen, und das, ohne sich zu überlegen, was für dieses Land das Beste ist. Alles, was die Ausländer wollten, war, den Dorn aus ihrem Fleisch zu ziehen, zu dem der frühere Großfürst für sie geworden war, und ihn durch einen möglichst bequemen Kandidaten zu ersetzen. Die Angst, dass Aracanon zu einer Provinz des Hohen Rates wird, ist verbreitet unter meinen Gefährten, und gewiss nicht unbegründet.«

»Ich versichere Euch, sie ist unbegründet«, sagte Kirin schneidend. »Ich mag ein Fremder in diesem Land sein, aber ich habe dennoch nicht die Absicht, seine Einwohner und seine Kultur den ostländischen Politikern zum Fraß vorzuwerfen. Ich habe genügend von ihnen kennengelernt, um zu wissen, dass ich mich niemals an einen von ihnen binden werde. Und dasselbe gilt für jede andere Art von politischen Machtmenschen.« Er bedachte Tumàsz mit einem Blick von ausgesuchter Verachtung.

 

Der Adelige wirkte alles andere als eingeschüchtert; er griff in seinen Ärmel und beförderte ein Dokument zutage. »Wie dem auch sei: Das hier ist ein Schreiben, aufgesetzt und unterzeichnet von vierzehn Vertretern der größten Häuser dieses Landes. Darin werdet Ihr aufgefordert, Euch gemeinsam mit selbigen in einem Rat einzufinden, wie er auch im vergangenen Großkönigreich üblich war. Dieses Gremium, das wir in Ermangelung eines besseren Wortes Fürstenrat nennen wollen, hat die Aufgabe, Euch während Eurer gesamten Regierungszeit zu beraten und Euch bei allen wichtigen Entscheidungen zur Seite zu stehen. Außerdem hat es das Recht, Beschlüsse Eurer Exzellenz, die nach Ansicht des Rates dem Wohle des Landes zuwiderlaufen, für ungültig zu erklären. Das ist ein Erfordernis«, fügte er etwas lauter hinzu, denn bei diesen Worten war lautes Gemurmel überall im Raum aufgebrandet, »ein Erfordernis, das uns allein in Anbetracht der Jugend Eurer Exzellenz, ganz zu schweigen aber von Eurer Unerfahrenheit und Unkenntnis unserer Gebräuche und der politischen und rechtlichen Lage absolut notwendig und nicht verhandelbar scheint.«

Aderuz räusperte sich vernehmlich; er sah aus, als wäre ihm für einen Augenblick die Sprache weggeblieben. »Was Ihr da vorschlagt oder vielmehr Euch zu fordern erdreistet, ist in höchstem Masse unüblich, Herr Tumàsz! Für solche Tätigkeiten hat Seine Exzellenz schließlich Berater!«

»Mit anderen Worten: Euch. Euch und diesen anderen ausländischen Jüngling, der ohne nennenswerte Abstammung auskommen muss«, fügte Tumàsz verächtlich hinzu, wobei er Larniax mit den Augen kaum streifte. »Was ganz und gar nicht ausreicht, mich und den Rest des Hochadels zu beruhigen! Ich ermahne Euch, besinnt Euch rasch, oder Ihr werdet die Konsequenzen zu tragen haben.«

»Wollt Ihr mir etwa drohen, Adeliger Tumàsz?« Kirin spürte das Blut in seinen Ohren pulsieren und zwang sich nur mit äußerster Mühe, seine Hände ruhig zu halten.

Tumàsz deutete ein weiteres winziges Kopfrucken an. »Keine Drohung, Exzellenz. Aber seht, auch für viele Eurer Soldaten ist unverständlich, warum sie sich nach so großen militärischen Erfolgen aus den eroberten Gebieten zurückziehen mussten, nachdem man ihnen doch Reichtümer und Ehren versprochen hatte. Noch gelingt es den für die jeweiligen Bezirke zuständigen Adeligen, sie mit Goldprämien und Ablenkung in Form von übermäßigen Nahrungslieferungen an die Kasernen ruhig zu halten. Aber wenn Eure Exzellenz uns kein Entgegenkommen zeigt … nun, dann werden die einen oder anderen von uns vielleicht eher geneigt sein, dem Zorn der Windreiter Verständnis entgegen zu bringen. Eure Exzellenz möge darüber entscheiden.«

Kirin brauchte einige Herzschläge, um sich wieder zu fassen. Wie gerne hätte er diesem aufgeblasenen Widerling einfach die Faust ins Gesicht geschlagen und dabei zugesehen, wie seine Zähne der Reihe nach ausfielen! Doch solche Ausfälle hatte er sich erlauben können, als er noch ein Schützling der ostländischen Heerführer gewesen und unter den Soldaten als Hoffnungsträger hochgejubelt worden war. Jetzt, als Großfürst, musste er jede Handlung doppelt und dreifach überdenken. Wie er es hasste.

Aderuz trat an seine Seite und legte nun an Larniax‹ Stelle die Hand auf seine Schulter. Kirin mochte kurz versucht gewesen sein, sie wegzuschlagen, doch ein Blick in Aderuz‹ Gesicht zeigte ihm, dass der Heiler genauso wütend war wie er selbst.

»Dann geht zurück zu Euren Freunden und beruft Euer Gremium ein! Hier in der Hauptstadt! Damit Seine Exzellenz die Gesichter derer sehen kann, die es wagen, seinen Anspruch mit Füßen zu treten.«

Tumàsz verbeugte sich, was hieß, dass er spöttisch mit drei Fingern seine Stirn berührte, dann drehte er Kirin demonstrativ den Rücken zu und ging davon.

Aderuz trat vor Kirin hin und versperrte ihm so die Sicht auf dessen Hinterkopf. »Atmet jetzt tief durch, Exzellenz«, flüsterte er so, dass es in dem immer lauter werdenden Gemurmel der Menge niemand hören konnte. »Bewahrt Haltung, so schwer es auch fällt.«

»Ich muss hier raus, Aderuz!«, stieß Kirin hervor, »ich muss raus, oder ich erschlage jemanden!«

Der Heiler nickte. Er wandte sein Gesicht den Versammelten zu und rief laut und deutlich über den Lärm hinweg: »Die Audienz ist unterbrochen! Seine Exzellenz wird sich morgen zur Mittagsstunde erneut hier einfinden und die weiteren Besucher und Gesandten empfangen! Möge der Segen der Drei über euch sein!«

Das Murmeln schwoll wenn möglich noch lauter an, doch der Heiler ignorierte es; an Kirins und Larniax‹ Seite stieg er das Podium hinunter und steuerte die Tür zum Fürstinnenflügel an.

Hinter sich hörte Kirin Asusza rufen: »Die Audienz ist beendet! Räumt den Saal! Räumt den Saal, Seine Exzellenz zieht sich zurück!«

Mit klingelnden Ohren stapfte Kirin Larniax und Aderuz voraus die Gänge entlang und stieß schließlich die Tür zu einem Gesellschaftszimmer auf, in dem sich einige kleine Tische und Sofas befanden. Er wartete, bis Larniax die Tür wieder sicher hinter sich geschlossen hatte, dann fuhr er auf: »Wie kann er es wagen! Was denkt der, wer er ist?«

Aderuz verbarg seine Hände unter den Ärmeln der Heilerrobe. »Ein Angehöriger des mächtigsten Adelshauses außerhalb der Fürstenfamilie und, wie es scheint, Sprecher für sämtliche anderen Familien, die von Belang sind. Sein Einfluss unter den Adeligen scheint in den wenigen Monden seit dem Sturz Eures Vaters noch gewachsen zu sein. Das ist schlecht.«

»Sie wollen mich zur Seite drängen! Das ist alles, was hinter seinen Reden von Sorge um sein Land steht! Er und seine hochwohlgeborenen Freunde wollen mich als Marionette vor sich herschieben, wie die ostländischen Heerführer es taten!«

Aderuz neigte abwägend den Kopf von einer Seite auf die andere. »Ich glaube nicht, Exzellenz. Meine Befürchtung ist, dass sie es darauf anlegen, Euch ganz vom Thron zu stoßen. Mit ihrem Gremium wollen sie Euch ihre Einigkeit beweisen, und sobald sie eine Schwäche erkennen, werden sie nicht zögern, Euch durch einen aus ihren Reihen zu ersetzen – Tumàsz, das ist offensichtlich, macht sich die größten Hoffnungen, diese Rolle selbst einzunehmen. Ihr habt die Nachdrücklichkeit gehört, mit der er seine Verwandtschaft zum Fürstenhaus betonte – er begehrt Eure Stellung, und er wird nichts unversucht lassen, sie sich zu nehmen!«

»Aber das ist Verrat!«, rief Kirin. »Hochverrat! Sie verschwören sich gegen mich, gegen ihren Großfürsten!«

»Exzellenz, ich fürchte, dass das den Adeligen sehr wohl bewusst ist«, merkte Aderuz an. »Aber ebenso fürchte ich, dass sie sich davon nicht einschüchtern lassen. Eure Stellung ist noch ungefestigt, die Unruhen in der Windreiterarmee, die Tumàsz angedeutet hat, sind leider bittere Wahrheit.«

Larniax, der bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf: »In der Tat. Ich habe Meldung erhalten, dass die Truppen, die sich in die Provinz von Sri Iliant aufgemacht haben, daran gehen, unter sich einen neuen Anführer zu wählen. Auch die Abteilungen in Uvonagh und Agoraekh sind unwillig, nach Hause zurückzukehren – zu verlockend ist die Nähe der Macht.«

Kirin vergrub die Stirn in den Händen; die Kopfschmerzen, die ihn vor einigen Monden über längere Zeit hinweg verfolgt hatten, drohten zurückzukehren.

»Wenn Ihr die Armee nicht hinter Euch habt, Exzellenz, fehlen Euch die Stärke und der Rückhalt, um gegen Tumàsz und die Seinen vorzugehen. Von dem Kontingent, das hier in der Hauptstadt stationiert ist, werden sie sich nicht einschüchtern lassen – wie Tumàsz uns freundlicherweise mitgeteilt hat, sind er und seine Freunde eifrig dabei, die Windreiter zu bestechen, um sich ihre Treue zu erkaufen.«

»Ich dachte, die Ehre der Windreiter sei unverletzlich!«, hielt Kirin wütend dagegen und ließ die Hände sinken. »Ich hörte, ihre Loyalität wäre grenzenlos und mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen!«

Aderuz lächelte traurig. »Das ist in der Tat so, Exzellenz, wenn sie auf ihren Großfürsten eingeschworen sind. Für Galihl, da bin ich sicher, wäre jeder seiner Soldaten in den Tod gegangen. Aber jetzt …«

» … jetzt sitzt ein von den Ostländern eingeschleuster kleiner Bastard auf dem Thron, der die Hauptstadt geschleift und den geliebten Herrscher getötet hat. Ich weiß schon.«

Aderuz kam näher und berührte Kirin vorsichtig am Arm. »Das ist es, was viele Windreiter gerüchteweise hörten. Und was die Adeligen eifrig weiter verbreiten werden.« Er nahm die Hand weg und räusperte sich. »Macht nicht den Fehler zu glauben, Tumàsz oder einer seiner Gefährten sei traurig über Galihls Tod. Oh, seine Eroberungen verschafften den Adeligen Macht, gewiss, aber auch sie zitterten vor dem Zorn des Großfürsten. Er hat sie alle ebenso verachtet, wie Ihr es noch lernen werdet, und hätte keinen Moment gezögert, sich ihrer zu entledigen, wenn er einen günstigen Zeitpunkt dafür gesehen hätte.«

»Ich hätte nie geglaubt, dass ich das je sagen würde«, sagte Kirin, die Augen finster ins Leere gerichtet, »aber in diesem Punkt kann ich ihn verstehen.«

Larniax grinste, und Aderuz setzte sich auf ein Sofa und entrollte das Dokument, das Tumàsz ihm gegeben hatte. »Ja«, murmelte er leise und fuhr mit dem Finger an der Liste mit Unterschriften entlang, »Idalér, Norkész, Pelarusz … die einflussreichsten Häuser Aracanons. Exzellenz, ich fürchte, Ihr müsst Euch auf einen nahenden Sturm vorbereiten.«

Fest schlossen sich Kirins Finger um den Griff des Dolches, der an seiner Hüfte baumelte. »Das fürchte ich auch.«

Als Kirin einige Stunden später alleine auf der Terrasse vor seinen Gemächern stand, fühlte er sich unsäglich alt. Er war noch nicht einmal achtzehn, aber während er der Sonne dabei zusah, wie sie weit hinter der Stadt am Horizont verschwand, kam er sich so müde vor, als trüge er die Last von hunderten von Jahren auf den Schultern. Frustriert lehnte er an einer mit Kletterpflanzen überwachsenen Säule und beobachtete einen Kolibri, der scheinbar schwerelos von Blüte zu Blüte flog und den Nektar trank. Er schwebte nur eine Armlänge über Kirins Kopf und erweckte den Eindruck, wenn man bloß die Finger nach ihm ausstreckte, könnte man ihn fangen, doch Kirin hatte seit seiner Ankunft in Nardéz viele der Tiere gesehen und wusste, wie sehr er sich auch anstrengte, er würde nie schnell genug dafür sein. Beinahe neidisch sah er dem Vogel bei seiner Arbeit zu, verfolgte, wie mühelos er immer höher stieg, dabei seitwärts und rückwärts flog und plötzlich schneller als ein Blinzeln verschwand. Langsam ließ sich Kirin auf die Treppenstufe sinken. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf; das Gespräch mit Tumàsz, die Drohungen, Larniax‹ Erzählung von Aufständen und Aufrührertum in der Armee, Aderuz‹ Ankündigung des nahenden Sturms … und immer wieder drängte sich ungebetenerweise die Erinnerung an die Krähe dazwischen; auch wenn der Rest des Traums mittlerweile völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden war, den Vogel schien er nicht abschütteln zu können. Unwillkürlich schauderte er in einer aufkommenden Brise und schlang die Arme um seine Knie.

Er fühlte sich einsam und wünschte, seine Freunde wären hier, die einzigen beiden Freunde, die er hatte: Der spöttische Windreiter Rhùk und die Heilerin Megan Dwayne, die mit ihm gezogen war. Es war noch nicht lange her, wenige Monde erst, seit sie fortgegangen waren, und doch kam es Kirin so vor, als sei es die längste Zeit seines Lebens. Megan war es gewesen, die Kirin in der Großen Bibliothek die Sprache der Arachinen gelehrt und ihm feine Manieren beigebracht hatte, nachdem er zuvor sechzehn Jahre das Leben eines einfachen Bauern hatte führen müssen. Sie hatte ihn auf seiner Reise zum Treffpunkt der vereinigten Heere begleitet, und während dieser Reise hatte er auch die Wahrheit über sie erfahren. Darüber, was sie wirklich war.

Ein Halbblut.

Seit seiner Kindheit hatte er immer wieder Geschichten gehört über die Westlichen, Kreaturen, die in den Wäldern im Norden Aracanons hausten, unnennbare Horrorgestalten, deren Aussehen keiner kannte, die jedoch jedes Kind bereits in der Wiege zu fürchten lernte. Natürlich glaubte heutzutage keiner mehr so recht daran, dass es sie wirklich gab, aber der Gedanke an sie war eine gute Gelegenheit, sich zu gruseln.

Und dann hatte er Megan kennengelernt und erfahren, dass Märchen wesentlich mehr sein konnten als nur Märchen. Megan war ein Halbblut, ein Wesen, das der grauenhaften Verbindung zwischen Mensch und Ungetüm entsprang, ein Abkömmling der Westlichen und mit deren Fähigkeiten ausgestattet. Ihr Vater, Lord Andru von Westfurt, war in seiner Jugend in die Wälder gezogen und dort von diesen Kreaturen gefangen worden, auch wenn er Zeit seines Lebens nie über dieses Erlebnis gesprochen hatte. Megan war aus dieser Begegnung hervorgegangen und einsam und verbannt in der Bibliothek von Egasté aufgewachsen, wo Kirin ihr erstmals begegnet war. Sie hatte ihm nicht gesagt, was sie war, bis sie auf ihrer Reise von agoraekhischen Soldaten überfallen worden waren und er das verderbliche Ausmaß ihrer Kräfte mit eigenen Augen gesehen hatte. Er schauderte erneut, als er an den furchtbaren Schrei dachte, den Megan damals ausgestoßen und der allein den Tod von dreißig Angreifern verursacht hatte, und daran, wie ihre Augen geglüht hatten, als das Wüten zu Ende gewesen war.

 

Er hatte damals den Fehler begangen, sich von ihr abzuwenden, doch glücklicherweise waren sie sich wieder begegnet und hatten gemeinsam bis zum Ende gegen Galihl und die Windreiter gekämpft. Tatsächlich war es Megan gewesen, die Kirin dazu gebracht hatte, den entscheidenden Schlag gegen Galihl zu führen und Nardéz anzugreifen; sie war gemeinsam mit einer Handvoll Heerführer von den Windreitern verschleppt worden, und Kirin hatte allen gegenteiligen Ratschlägen zum Trotz darauf gedrängt, sie zu befreien. Es war gelungen, auch wenn Lord Andru und viele andere dabei ihr Leben gelassen hatten. Und jetzt war er hier, und sie war fort. Gemeinsam mit Rhùk davongezogen, wussten die Drei allein, wohin.

Sie wollte ihm keine zusätzlichen Scherereien verursachen, indem sie bliebe, hatte sie gemeint. Nein, beim Schatten, davon hatte er wahrlich mehr als genug!

Doch da war noch etwas … Megan war der einzige Mensch abgesehen von ihm, der sein letztes und finsterstes Geheimnis kannte, die Wahrheit hinter der mangelnden Entschlossenheit in seinen Erwiderungen, wenn ihm seine Feinde Frevel und Thronraub vorwarfen … Megan wusste, warum seine Hand immer schmerzte, wenn Nàrdarell in der Nähe war, und hätte man Galihls Leiche damals nicht verbrannt, hätte sie auch erklären können, wie die furchtbare Verletzung an der linken Hand des arachinischen Großfürsten entstanden war.

Als hätte ihm der Gedanke einen Schlag versetzt, stand er auf und marschierte kurzentschlossen davon, über die Terrasse und eine schmale Steintreppe hinunter, die in die weit verzweigten Gartenanlagen des Palastes führte. Unterwegs begegnete er stumm ausharrenden Wachsoldaten, doch kein einziger von ihnen drehte den Kopf, als er an ihnen vorbeiging. Was der Großfürst machte, hatte sie nicht zu interessieren, nur seine Sicherheit. Wieder dachte er an Rhùk, und ein Gefühl von Dankbarkeit durchflutete ihn.

Als er sein Ziel am äußersten Rand der Palastgärten erreichte, war es schon fast dunkel geworden; Fackeln erleuchteten den kleinen hölzernen Bau vor ihm, der den Eindruck machte, als sei er in äußerster Hast zusammengezimmert worden. Dahinter erstreckten sich ein eingezäunter rechteckiger Platz mit sandigem Untergrund und eine freie Wiesenfläche, die extra für diesen Zweck von Zierbüschen und anderen Pflanzen gesäubert worden war. Als Kirin die Baracke betrat, sprangen die beiden jungen Windreiter auf, die gemeinsam an einem Tisch gesessen und gegessen hatten.

»Bleibt sitzen«, meinte Kirin leichthin, die Augen auf einen Punkt hinter den beiden gerichtet. »Ich wollte nur kurz nachsehen, wie es ihm geht.«

Der Windreiter, der näher bei der Tür gesessen hatte, lächelte. »Oh, er macht sich hervorragend, Exzellenz. Wir haben seine Futterration erhöht, er baut täglich Muskeln auf. Bald ist er so schnell wie der Wind, Herr.«

Kirin ging an dem Tisch vorbei auf den Gegenstand des Gesprächs zu, einen hochgewachsenen, kräftigen jungen Hengst. Seine Hinterläufe und Kruppe waren noch dunkel gefleckt, aber schon jetzt war zu sehen, dass er einmal ganz weiß werden würde. Das Tier stieß ein leises, freundliches Wiehern aus, als er Kirin näherkommen sah, und beschnüffelte gierig die Hand, die er nach ihm ausstreckte.

Die Verbindung der Windreiter zu ihren Pferden, die sie Windpferde nannten, war legendär, und Kirin war entschlossen, ihnen zumindest in diesem Punkt keinen Grund zur Klage zu geben. Rhùk hatte ihm beigebracht, wie ein Windreiter zu reiten, und als Großfürst brauchte er ein passendes Pferd. Aderuz hatte ihm vorgeschlagen, sich Szàrad zu nehmen, Galihls Pferd, doch abgesehen davon, dass der graue Hengst niemanden außer Galihl auf seinem Rücken duldete, war Kirin unerklärlicherweise abgestoßen davon gewesen. Da unter den Windreitern bereits Reibereien auszubrechen drohten, wer sonst das herrliche Tier für sich beanspruchen durfte, hatte Kirin kurzerhand entschieden, dem Hengst die Freiheit zu schenken. Er erinnerte sich an den Tag, als Szàrad unter dem tosenden Jubel der Windreiter die Straße hinunter aus dem Haupttor der Stadt hinausgaloppiert war, seine lange silberne Mähne wie eine Fahne hinter sich herflatternd. Mit dieser Geste hatte sich Kirin aus unerfindlichen Gründen den Respekt vieler Windreiter gesichert, die ihn feierten wie einen, der gerade eine Hundertschaft Kriegsgefangener befreit hatte. Da Kirin aber im Laufe der vergangenen Monde hatte feststellen müssen, dass viele Windreiter die Ehre ihrer Pferde höher schätzten als das Leben ihrer Verbündeten, hätte ihn das eigentlich nicht überraschen dürfen.

Was ihn anging, so hatte er sich ein Jungpferd aus der fürsteigenen Zucht ausgesucht, den Hengst, der jetzt vor ihm in seiner Box stand und auf den Namen Rýsz hörte, was in der arachinischen Sprache so viel wie ›Neuling‹ bedeutete. Kirin selbst hatte ihm diesen Namen gegeben; angesichts seiner eigenen momentanen Position empfand er ihn als durchaus passend. Er klopfte dem Pferd den Hals, lobte die beiden Windreiter für die gute Unterbringung und machte sich dann auf den Rückweg. Als er aus dem Fackellicht in die Dunkelheit eintauchte, kehrten seine Gedanken noch einmal zu Szàrad zurück. An dem Abend, an dem Kirin und seine Gefährten sich durch die Windreiterstallungen in die Stadt geschlichen hatten, hatte das Tier sie beinahe verraten, indem es den halben Stall zusammengeschlagen und einen Höllenlärm veranstaltet hatte. Er erinnerte sich, dass einer seiner Begleiter gemeint hatte, der Hengst habe dasselbe böse Blut in seinen Adern wie Galihl. Ein weiterer Grund, dass er ihn nicht in seinem Besitz haben wollte. Abgesehen davon, dass er kein Recht dazu gehabt hätte, denn …

Kraa.

Kirin zuckte zusammen und blickte auf; auf einem Baum zu seiner Rechten saß ein Vogel und starrte in der immer tiefer werdenden Finsternis auf ihn herab.

Kraa.

›Ein Rabe‹, dachte Kirin, ›oder eine Krähe‹.

Instinktiv wich er zurück. Er konnte nur die Silhouette des Tieres vor dem etwas helleren Abendhimmel sehen, doch er war sicher, dass der Vogel ihn beobachtete.

Kraa.

Ein leises Kribbeln breitete sich in seiner Schulter aus, und ein zweites, viel stärkeres in seiner linken Hand.

Kraa. Kraaa … rin.

Kraaa … rin.

Der Vogel sagte seinen Namen.

Ohne dass es ihm bewusst war, schloss sich seine Hand um das Schwert über seiner linken Schulter. Er zog sich langsam weiter zurück, einen Schritt, dann noch einen.