Die Chroniken der drei Kriege

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Nur, was halfen sie ihnen jetzt?

Wütende Stimmen erklangen hinter der Tür, wieder ertönte das unerklärbare Poltern, nur viel leiser als zuvor, und fast im selben Moment glühten die Runen in der Tür auf. Ilmra hörte einen der Männer vor Schmerz aufschreien und zuckte zurück.

Die Tür hielt stand.

Das genügte, um Hoffnung in ihr aufkeimen zu lassen; ein leises Dankesgebet für den Lichten murmelnd, drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte weiter. Der Gang, in dem sie sich jetzt befand, war anders als diejenigen im Wohntrakt: Eng, niedrig und aus dem rohen Stein herausgehauen, diente er als eine Art Geheimgang, ein Fluchtweg für den Fall, dass dem Ordenshaus einmal Gefahr drohen sollte. Ilmra erinnerte sich verschwommen, dass sie den Gang früher für bloße Platzverschwendung gehalten hatte, dass sie bei der Ordensführerin sogar mehrmals darum gebeten hatte, ihn zumauern lassen zu dürfen, weil sich immer wieder Novizinnen darin versteckten oder heimlich nächtliche Ausflüge machten. Wie dankbar war sie Mutter Lenidar, dass sie nicht auf sie gehört hatte. Kurz und äußerst schmerzhaft verkrampfte sich ihr Herz bei dem Gedanken daran, was der alten Frau schon alles widerfahren sein konnte, dann gelangte sie ans Ende des Ganges; mit einem leisen Knarren öffnete sie die oben spitz zulaufende Holztür, zog den rostigen Schlüssel aus dem Schlüsselloch und verschloss sie hinter sich. Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Verfolger so aufhalten würde, aber sie wollte es ihnen nicht zu einfach machen. Erschöpft und mit rasend pochendem Herzen sah sie sich um: Sie war in der Andachtshalle, nur ein paar Schritte entfernt von der Steinbank, auf der sie Stunden zuvor gesessen und sich Gedanken über lächerliche, alltägliche Dinge wie die Ernennung von Novizinnen gemacht hatte. Wie sehr sie sich jetzt dafür verachtete.

Ihre Augen flackerten durch den Tempel auf der Suche nach Angreifern und blieben unwillkürlich an der Statue des Gottes hängen. Das Feuer zwischen den steinernen Händen war fast heruntergebrannt, das Zwielicht, das sie für gewöhnlich feierlich stimmte, hing lauernd zwischen den Säulen und machte sie blind für allfällige Gefahren, die sich darin verbergen mochten. Es herrschte absolute Stille, offenbar war es ihren Verfolgern noch nicht gelungen, die Tür zum Geheimgang aufzubrechen. Sie musste den kurzen Vorsprung nutzen, ehe sie auf die Idee kamen, den Tempel von außen zu stürmen, doch trotz dieser Überlegung blieb sie wie festgefroren stehen, unfähig, die Hand vom Türgriff zu nehmen.

Die Finsternis beobachtete sie.

Etwas lauerte in den Tiefen der Andachtshalle, wartend, hungernd, bis sie den ersten Schritt in den Mittelgang hinaus tun würde, um sich auf sie zu stürzen.

»Herr«, flüsterte sie unhörbar, ohne den Blick von der Statue zu nehmen, »wache über mich!«

Wie aus dem Nichts schoss eine Hand auf sie zu und umklammerte ihren Arm. Ilmra schrie auf, bevor sie sich zurückhalten konnte, und sprang zur Seite; klappernd fiel ihr die Wachstafel aus der Hand. Ihr Angreifer taumelte, von ihrer Reaktion überrascht, und prallte gegen sie. Ilmra entwand ihm ihren Arm und sammelte Kraft, um ihn beiseite zu stoßen, einen Augenblick, bevor sie das Gesicht erkannte.

Es war Elouané.

Ohne nachzudenken legte Ilmra ihr die Hand auf den Mund und drückte sie gegen die nächstbeste Säule.

»Sei still!«, befahl sie, denn die Novizin machte Anstalten, sich von ihr loszukämpfen. »Sei still und hör mir zu! Es sind Leute da draußen, Männer in Kapuzen, die in den Tempelbezirk eingedrungen sind! Sie haben die Türwächterinnen angegriffen und die Novizinnen. Ich weiß nicht, was sie uns antun wollen, aber sie jagen auch mich! Für den Moment haben sie mich verloren, aber es wird nicht lange dauern, bis sie hierherkommen. Wir müssen fort von hier! Zu den Ställen und in die nächste Stadt, Hilfe holen! Du musst mir jetzt gehorchen und darfst keine Geräusche von dir geben, hast du mich verstanden?«

Das Mädchen nickte mit riesigen Augen. Ilmra nahm ihre Hand weg und winkte Elouané, ihr zu folgen. »Hier entlang.«

So leise wie möglich huschten sie den Mittelgang entlang und zur Tür. Das Tor hatte schon immer geknarrt, aber als sie es in diesem Moment aufzog, hatte Ilmra das Gefühl, der ganze Tempel würde beben vor Lärm. Vorsichtig spähte sie nach draußen; der Hof lag verlassen vor ihr, die Hoftür hing zerstört und schief in ihren Angeln. Eine umgestürzte Laterne lag dort, wo eine der Türwächterinnen zu Boden gestoßen worden war. Aus dem Wohntrakt zu ihrer Rechten waren Schreie und Lärm zu hören, und unruhiges Licht flackerte durch die Fenster.

›Der Schlaftrakt der Ordensschwestern‹, dachte Ilmra, und ihr Herz verkrampfte sich. ›Sie treiben sie zusammen wie Vieh.‹

Sie nahm Elouané bei der Hand und zog sie hinter sich her, fort von dem Lärm, dorthin, wo in einem ausgebauten Schuppen die Ackergäule des Ordens standen. Die Tiere wirkten aufgeschreckt und nervös, als sie eintraten, als wüssten sie, dass draußen etwas vor sich ging, das gegen jedes göttliche Gesetz verstieß.

»Erste Schwester«, wisperte Elouané, während Ilmra mit zitternden Fingern eines der Pferde sattelte, »Erste Schwester, wer sind diese Männer?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Ilmra, immer mit einem Ohr lauschend, ob sich nicht auf einmal Schritte näherten. »Raubritter vielleicht, oder Landstreicher. Vielleicht erhoffen sie sich Gold in unserem Tempel.«

»Ich habe sie durch ein Tempelfenster gesehen«, erwiderte Elouané, die graublauen Augen vor Angst geweitet. »Sie tragen schwarz wie die Soldaten aus dem Westland. Sie sind wie Fledermäuse und machen keine Geräusche beim Gehen. Als wären sie keine Menschen.«

Instinktiv wollte Ilmra ihr wütend über den Mund fahren, doch bevor sie Luft holen konnte, ertönte von draußen ein lautes Klirren und ein spitzer Schrei, dann ein dumpfes, Übelkeit erregendes Geräusch, als ein Körper zu Boden fiel.

Elouané fuhr zur Stalltür herum, die Hände an den Mund gepresst. »Jemand ist aus dem Fenster gefallen! Eine Schwester ist aus dem Fenster gefallen!«

Das Mädchen machte Anstalten, auf den Hof zu laufen, doch Ilmra hielt sie fest. »Steig auf das Pferd!«, befahl sie und drückte ihr den Steigbügel in die Hände. In ihrem Hinterkopf begann unter all der Angst und Besorgnis eine Erkenntnis zu dämmern, die, je länger sie dastand und Elouané ansah, klarer und unabwendbarer wurde. Als das Mädchen oben saß und sich ihr mit ängstlichem Gesicht zuwandte, legte Ilmra die Hand auf die Zügel. »Hör mir jetzt genau zu: Sobald du mich rufen hörst, reitest du los, so schnell du kannst, ohne dich umzudrehen! Reite durch die Magdpforte zur Stadt und alarmiere die Wachen! Halt nicht an, ehe du dort bist, hast du mich verstanden?«

»Aber …« Elouané sah sie an, verwirrt, aber mit beginnendem Verständnis dafür, was Ilmra vorhatte.

»Keine Widerrede! Du wartest hier, bis du mein Zeichen hörst, dann verschwindest du! Ist das klar?«

Elouané zögerte; ihre Wangen wurden aschfahl und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Erste Schwester …«

Ilmra packte ihre Handgelenke. »Wenn dir der Lichte und seine Kinder etwas bedeuten, dann gehorchst du mir! Hast du mich verstanden?«

Mit zitternden Lippen nickte Elouané.

»Gut.« Ilmra ließ das Mädchen los. »Möge der Lichte über dich wachen. Warte hier.«

Sie straffte die Schultern und huschte aus dem Stall, vorsichtig darauf bedacht, im Schatten des Tempels zu bleiben; mittlerweile war der Innenhof hell erleuchtet von Fackeln, und auch durch die Fenster im Schwesternwohntrakt auf der anderen Seite des Hofes strömte täuschend warmes Licht. Ilmra glaubte, den Umriss einer Frau zu erkennen, die unter einem zerbrochenen Fenster am Boden lag, viel zu weit weg vom Haus, um auf natürliche Weise gefallen zu sein. Einen Herzschlag, bevor sie hinter der Vortreppe zum Tempel in Deckung ging, sah sie weißes Haar unter dem Kopftuch der Regungslosen aufschimmern.

Mutter Lenidar.

Ilmra biss sich auf die Lippen und stahl sich vorsichtig ein Stück weiter vor, um den Innenhof im Blick zu haben: So wie es aussah, waren die schwarzgekleideten Männer damit beschäftigt, ihre Ordensschwestern zusammenzutreiben; die meisten von ihnen wirkten verängstigt, manchen waren die Kleider zerrissen worden, aber abgesehen von Lenidar, die noch immer reglos im Staub lag, schien keine ernsthaft verletzt. Ilmra zog den Kopf zurück und dachte rasch nach: Sie musste versuchen, die Männer auf sich aufmerksam zu machen, aber gleichzeitig darauf achten, dass sie nicht zu früh bemerkt wurde, um die Richtung, aus der sie kam, nicht preiszugeben. Sie warf einen Blick zum Eingang des Tempels, der zu ihrer Rechten über ihr aufragte; offensichtlich waren die Fremden mittlerweile auch dort eingedrungen, denn die Türflügel standen sperrangelweit offen. Sie waren nicht zerstört worden wie diejenigen in den Wohngebäuden, fiel Ilmra auf; vielleicht besaßen diese Frevler doch noch so etwas wie Gottesfurcht. Mit einem stummen Gebet auf den Lippen sprang sie auf und hechtete auf die Tempeltreppe, dann rannte sie auf der anderen Seite die Stufen wieder hinunter und in Richtung Wohntrakt der Novizinnen. Es dauerte keine drei Herzschläge, bis sie sie sahen, da war sich Ilmra sicher; sie hörte das überraschte Aufschreien der Mädchen und Frauen, doch keiner der Männer rief oder brüllte, dass man sie einfangen sollte, wie sie es erwartet hätte. Auch die hastigen Schritte hinter ihr blieben aus; stattdessen spürte sie einen plötzlichen, unerwarteten Ruck in der Magengegend, und als sie das nächste Mal klar denken konnte, lag sie alle Viere von sich gestreckt auf dem Boden. Ihre Knie ächzten vor Schmerz und von ihrer brennenden Stirn tropfte etwas Heißes. Im nächsten Moment schon packten sie grobe Hände und zogen sie auf die Füße; es tat weh, aber nicht so sehr, dass es den lauten, lang anhaltenden Schrei gerechtfertigt hätte, den sie ausstieß und der auch nicht verstummte, als der Mann in Schwarz sie über den Hof und zu den anderen Ordensmitgliedern schleifte.

 

Ihr Häscher stieß sie grob in die Knie, ohne sie loszulassen. Er ging vor ihr in die Hocke, sodass sie sein Gesicht sehen konnte: Es war ein bartloses Gesicht, dessen Alter unmöglich zu bestimmen war. Der Mann sah nicht wütend aus, tatsächlich verzog er keine Miene, als er sie mit ebenso ausdrucksloser Stimme fragte: »Möchtest du einen triftigen Grund zum Schreien haben?«

Ilmra antwortete nicht, verstummte aber. Der Mann schien zufrieden und stand auf, um sich in ein paar Schritten Entfernung als Wachposten aufzustellen. Ilmra kniff die Lippen zusammen und versuchte angestrengt, über das Wimmern und leise Beten ihrer Mitschwestern hinweg nach galoppierenden Hufen zu horchen, nach irgendeinem Zeichen, dass Elouané die Flucht gelungen war. Allerdings überhäuften die Frauen in ihrer nächsten Nähe sie mit Fragen, was vor sich gehe, wer diese Männer seien und was sie von ihnen wollten, sodass sie keine Chance hatte, etwas zu hören.

Sie wusste nicht, wie lange ihre Angreifer sie so dastehen ließen, in zunehmender Dunkelheit und Kälte, während sie sie wie Statuen umringten und weder auf Fragen noch auf Flehen reagierten. Hin und wieder stießen weitere ihrer Kumpane hinzu, die vereinzelte Ordensschwestern hinter sich herzerrten, doch Elouané war dem Lichten sei Dank nicht unter ihnen.

Die Hälfte der Nacht war schon verstrichen, als endlich eine Gruppe von fünf Männern über den Hof geschritten kam, eine einzelne Leitfigur vorneweg, für die sich der Wächterring teilte, um sie durchzulassen. Ilmra schauderte beim Anblick des Mannes: Wie alle anderen auch trug er ausnahmslos schwarze Gewänder ohne irgendeine Form von Schmuck oder Wappen, als wäre er direkt aus der Dunkelheit entstanden. Seine Züge wirkten merkwürdig verwischt, beinahe verbrannt, und tiefe Narben höhlten seine ohnehin eingefallenen Wangen aus. Seine kleinen, finsteren Augen glitten suchend über ihre Gesichter und blieben schließlich an Ilmra hängen. »Du bist die Stellvertreterin?«, fragte er mit einer Stimme, die so grausam war wie er aussah.

»Die stellvertretende Ordensführerin, ja.« Ihre eigene Stimme, fiel ihr auf, klang schwach und heiser, wie das Krächzen eines verängstigten Huhns gegen das tiefe Grollen eines Wolfes. Der Mann fixierte sie, und einen Moment hatte Ilmra den Eindruck, ihr würde bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen.

»Du führst Listen über alles, was hier geschieht? Wer kommt und wer geht?«

»So ist es.« Ilmra verschränkte die Finger und ging im Geiste die Abendgebete durch; fast augenblicklich fühlte sie sich gestärkt.

Der Mann kam einen Schritt auf sie zu. »Wo ist sie?«, fragte er.

Ilmra reckte das Kinn. »Ich weiß nicht, wen du meinst.«

Der Mann riss den Arm hoch und Ilmra zuckte zurück, weil sie dachte, er wollte sie schlagen. Dann sah sie, dass er ihr eine Wachstafel unter die Augen hielt, genau die Tafel, die sie selbst im Tempel verloren hatte.

»Auf dieser Liste sind dreizehn Namen notiert«, erklärte er. »Dreizehn Namen für dreizehn Novizinnen. Hier sind nur zwölf. Wo ist die letzte? Antworte!«

Ilmras Gedanken rasten mit dem Schlag ihres Herzens um die Wette; wenn überhaupt, war Elouané gerade erst fortgeritten. Wenn sie ihr jetzt nachsetzten, würden sie sie womöglich wieder einholen und ihr dasselbe antun, was sie mit all den anderen Unglücklichen vorhatten. Durch ihr Gelübde als weiße Priesterin aber war es ihr verboten zu lügen.

Hastig dachte sie nach, dann räusperte sie sich. »Sie hat uns in der Nacht verlassen«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Viele Mädchen geben die Laufbahn als Priesterin auf, wenn sie erkennen, wie hart dieses Leben wirklich ist.«

›Ich habe nicht gelogen‹, dachte sie, ›nur einige verschiedene Wahrheiten erzählt.‹

Der Mann mit dem verzerrten Gesicht musterte sie einen Moment verächtlich. Dann warf er ihr die Wachstafel ins Gesicht. »Sucht das letzte Mädchen!«, befahl er seinen Getreuen, die wie Fledermäuse in die Finsternis davonstoben. Daraufhin wandte er sich wieder ihr zu. »Wir werden sie schon finden, deine Entlaufene.

Die anderen«, fügte er hinzu und zog einen Gegenstand aus seinem Gürtel, »bringt unserem Herrn als Opfer dar. Er wird erfreut sein über so viel jungfräuliches Blut.« Bei diesen Worten hob er das Ding, das in seinem Gürtel gesteckt hatte, und Ilmra erkannte, was es war: Ein Dolch. Ein geschwungener, am Griff verzierter Dolch, den sie in ihrem Leben so oft gesehen hatte, dass sie ihn mit geschlossenen Augen hätte aufmalen können: Es war der Dolch, den die schwarzgewandete Statue in den Händen hielt, die neben der Waage und dem Lichten auf dem Sockel vor dem Tempel stand. Die Waffe des Dunklen Gottes. Entsetzt riss sie den Mund auf – und brach gurgelnd zusammen, als der schwarze Priester ihr die Kehle aufschlitzte.

Die anderen Frauen schrien und kreischten, als die Erste Schwester zusammenbrach, die adrigen Finger um die klaffende Wunde an ihrem Hals geklammert. Ihr Mörder drehte sich so gleichgültig von ihr weg, als hätte er gerade eine Fliege totgetreten.

»Was ist los? Was machst du da?« Ein weiterer Schwarzgewandeter kam im Laufschritt angerannt, den Blick auf die Tote gerichtet. »Was fällt dir ein, die Opfer zu verschwenden, um deine eigene Blutgier zu stillen? Du weißt genau, dass wir jede einzelne Gabe brauchen!«

Sein Gefährte wandte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihm um. »Sie hat versucht, mich zu belügen. Sieh her«, er hob die Ordensliste auf, »dreizehn Mädchen sollten es sein, zwölf sind hier. Habt ihr die Fehlende gefunden?«

Der zweite Mann schüttelte seinen blonden Kopf.

Der mit den verwischten Zügen schnaubte verärgert. »Sei’s drum. Brennt die Schlaftrakte ab, dann wird sie schon zum Vorschein kommen, wenn sie sich irgendwo dort versteckt hält.«

»Wir können aber nicht mehr länger warten, Narvek«, entgegnete der andere und hielt ihn entschlossen am Arm fest. »Der Mond ist fast verhüllt, wir müssen mit den Opferungen beginnen!«

»Dann tut das!« Wütend riss Narvek sich los. »Sollte die Dreizehnte wirklich noch irgendwo hier sein, werden wir einen anderen Weg finden, sie darzubringen. Die anderen … in den Tempel!«

Sein Gegenüber nickte, um einiges zufriedener, und rannte davon, um den Befehl weiterzugeben.

Elouané jedoch hatte Ilmras Anweisung befolgt und war in gestrecktem Galopp davon und gen Norden geritten. Daher sah sie nicht, wie wenig später Flammen aus dem Wohntrakt und dem Tempel schlugen. Und sie hörte nicht, wie die darin eingeschlossenen Frauen zu schreien anfingen.

Der Traum

Der Baum war geborsten und troff vor Blut.

Er ragte mitten aus einem einsamen, karg bewachsenen Hügel, umgeben von einer Mauer aus Nebel. Die Welt war grau, das Gras, die Rinde, als ob nie eine andere Farbe existiert hätte, geschweige denn jemand, der sich eine hätte ausdenken können. Nur das Blut, das über die gespaltene Rinde lief, war dunkelrot, fast schwarz, und es war, als fräße es sich durch das Holz, ein gieriger, fetter Egel auf seinem Weg zum schlagenden Herzen in den Wurzeln der Pflanze.

Er selbst stand auf halber Höhe des Hügels, ohne zu wissen, wer er war oder was er hier wollte. Mit dumpfer Faszination beobachtete er, wie das Blut herabfloss, und hörte dem gequälten Knarren des Baumes zu, fragte sich, was passieren würde, wenn die dicke rote Flüssigkeit den Boden erreichte.

Ein schauerliches Krächzen ließ ihn herumfahren; eine riesige Krähe saß hinter ihm, von waberndem Nebel umgeben, ohne davon berührt zu werden. Während er sie ansah, spreizte sie die Flügel und hüpfte davon, und im gleichen Moment wich der Dunst. Zerbrochene Steine und Hügel, kleinere als der, auf dem er stand, zeichneten sich ab, und er begriff: Ein Friedhof. Ohne es zu wollen, folgte er dem Vogel den Hügel hinab zwischen die Grabhügel. Es sah aus, als wäre der Ort seit langer Zeit verlassen; die Gedenksteine waren gesplittert und an vielen von ihnen rankte sich kränkelndes Unkraut empor. Bei jedem Schritt, den er machte, atmete der Boden, als träte er auf staubende Kissen, und ebenso gedämpft fühlte sich alles an.

Die Krähe ließ sich auf einem besonders großen, aus schwarzem Granit gehauenen Grabstein nieder und drehte sich boshaft starrend zu ihm um.

Schlafwandelnd näherte er sich dem Vogel, sicher wissend, dass er ihn nicht berühren wollte, aber unfähig, stehenzubleiben. Es war, als folgte er einem inneren Befehl, und je näher er kam, desto intensiver schien das Starren des Vogels zu werden. Er war noch etwa drei Schritte von dem Tier entfernt, als er weiteres Flügelschlagen hörte. Eine Schneeeule saß auf einem Stein zu seiner Linken, der so stark moosbewachsen aussah, dass man die ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen konnte. Sie sah ihn an ohne zu blinzeln, als wollte sie ihn mit ihren Augen an Ort und Stelle bannen. Tatsächlich merkte er, wie seine Füße innehielten; er blieb stehen, obwohl die Krähe zornig mit den Flügeln raschelte, und erwiderte wie betäubt den Blick des schneeweißen Tieres.

Erst ein melodischer Schrei machte ihn auf den dritten Vogel aufmerksam, der ein Stück weit von den anderen entfernt im Geäst eines verkrüppelten Busches saß. Auch dieser war ein Raubvogel, ein Gerfalke mit wundervoll gemustertem Gefieder, der mit leicht schräg geneigtem Kopf das Geschehen vor seinen Augen beobachtete.

Es war unheimlich still.

Er selbst wagte nicht sich zu rühren aus Angst, eines der Tiere zu reizen. Erst, als er das immer lauter werdende Gluckern hörte, fuhr er auf: Ohne dass er es bemerkt hätte, hatte das Blut am Baum den Boden erreicht, doch anstatt in der Erde zu versickern, quoll es zwischen den Wurzeln hervor, als ob es von einer geheimen Quelle darunter gespeist würde. Wie ein langsam anschwellender Bach kam es den Hügel hinabgekrochen, zwischen den Totensteinen hindurch, als ob es einen Weg zu ihm suchte. Erschrocken stolperte er zurück, und die Krähe ging zum Angriff über: Mit einem heiseren Krächzen warf sie sich auf die Schneeeule und schlug ihre Krallen in das strahlend weiße Gefieder. Verbissen hackte die Krähe auf die sich sträubende Gegnerin ein, bis diese mit einem Kreischen am Boden zusammenbrach, blutüberströmt und tot. Ohne zu zögern ließ sich die Aaskrähe auf ihrer Brust nieder und begann in haltloser Gier Fetzen herauszureißen. Er wollte sie wegscheuchen, aber noch ehe er einen Schritt getan hatte, hatte der Gerfalke sich von seinem Strauch erhoben und warf sich auf die Krähe. Auf grausige Art fasziniert, starrte er auf die kämpfenden Vögel und bemerkte zu spät, dass der Blutstrom seine Richtung geändert hatte. Er erreichte den Falken in dem Moment, als sein Widersacher sich kreischend in die Luft erhob und die Flucht ergriff. Das Rot sprudelte über die Krallen des Gerfalken, der mitten in der Bewegung zurückzuckte, als ob ihn unsichtbare Hände am Boden festhielten. Der Falke schrie dumpf und schauerlich auf, dann fiel er in sich zusammen, wild mit den Flügeln schlagend, und wälzte sich noch mehr in dem dickflüssigen Blut. Mit stummem Entsetzen sah er zu, wie der Vogel langsam erstickt wurde, sich kreischend und flatternd hin und her warf, bis er sich nicht mehr regte.

Eine furchtbare Traurigkeit erfasste ihn; er wusste, ohne sagen zu können woher, dass der Tod dieser beiden Tiere das Ende einer Epoche bedeutete, dass ihr Verlust mit nichts auf der Welt wiedergutzumachen sein würde. In diesem Moment schoss ein scharfer Schmerz durch seine Schulter, dort, wo sich lautlos die Krähe niedergelassen hatte. Sie krächzte spöttisch und fixierte ihn mit ihrem schwarzen, toten Auge, und im gleichen Augenblick löste sich die Form des Blutstroms auf, dutzende Nebenarme zweigten davon ab und strömten in Windeseile über den Friedhof, ertränkten Gras, Boden und Stein, sickerten in die Ritzen der Erde und kehrten wild kochend wieder zurück, und über all dem war die scheußliche Stimme der Krähe, der Schmerz und seine eigene Stimme, die schrie, obwohl ihn niemand hörte. Und plötzlich – urplötzlich erkannte er –

Kirin schlug die Augen auf.

 

Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Frühsommer im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

Verwirrt blinzelte Kirin und drehte sich auf den Rücken; mit klammen Fingern rieb er sich die Augen und versuchte sich an die Einzelheiten seines Traumes zu erinnern: Ein Baum war darin vorgekommen, geborstene Totensteine, Nebel und Blut. Und die Krähe.

Unwillkürlich legte er die Hand auf die Schulter, dort, wo der Vogel die Krallen in sein Fleisch geschlagen hatte; ihm war, als täte sie immer noch weh. Langsam wich die Kälte, die sein Innerstes ergriffen hatte, und er setzte sich auf. Graues Licht flutete durch geschlossene Läden in den Raum und zeigte ihm schemenhaft die Möbel, die sich darin befanden: Ein Schreibtisch mit Stuhl, einige niedrige Sessel, Kleidertruhen, ein Spiegel. Verwirrt strich er über die weiche Bettdecke, wie um sich zu versichern, dass sie wirklich da war. Obwohl die Erinnerungen an den Traum von Herzschlag zu Herzschlag mehr verblassten, schwitzte er und seine Finger zitterten leicht. Die Stimme des Aasvogels dröhnte ihm noch in den Ohren und der zerfetzte Kadaver der Eule hatte sich in seine Netzhäute gebrannt. Es war ihm so wirklich vorgekommen …

Als die Tür zu seinem Gemach aufgerissen wurde, zuckte er so heftig zusammen, dass es ihn eine Handbreit von der Matratze hob; hektisch versuchte er, seine Augen gegen das hereinströmende Licht abzuschirmen.

»Exzellenz«, ertönte eine heisere Stimme, »Exzellenz, verzeiht, dass ich Euch störe. Aber die Sonne ist lange aufgegangen und die Besucher beginnen bereits, sich zu versammeln …«

Kirin schloss die Augen und stöhnte; richtig, die Audienz. Fast hatte er sie vergessen.

»Ich komme«, sagte er, indem er die Decke zurückschlug; sein Nachthemd war durchgeschwitzt und klebte ihm am Rücken. »Ich brauche ein Bad«, befand er und streifte es sich über den Kopf.

»Sicher, Exzellenz. Und ich habe Eure Rüstung für Euch zurechtlegen lassen.«

Kirin verzog den Mund. »Haltet Ihr das für eine gute Idee? Damit ich mir wieder anhören darf, dass ich mich anbiedere?«

Mit einem leisen Quietschen wurden die Läden geöffnet; Kirin blinzelte gegen den strahlenden Sonnenschein an, konnte aber nicht verhindern, dass er ihn für einen Augenblick blendete. Als er wieder etwas sehen konnte, stand er einem Mann in den Fünfzigern gegenüber, dessen kurzes schwarzes Haar und hellbraune Haut ihn ohne jeden Zweifel als Arachinen auswiesen. Er trug einen sorgfältig gestutzten Vollbart und war in eine lange braune Kutte gehüllt, die ihm bis zu den Stiefeln reichte.

Auf Kirins Worte hin neigte er leicht den Kopf. »Ihr müsst Euch als der präsentieren, der Ihr seid: Mit der Annahme der Uniform eines arachinischen Kriegers zeigt Ihr Euch als einer der Ihren.«

»Und das ist genau das, was sie mir übelnehmen.« Verärgert strich sich Kirin sein blondes Haar zurück. »Ein ausländischer Bastard, der so tut als wäre er Arachine, das ist es, was sie alle von mir denken.«

»Sie würden sicher nicht besser von Euch denken, wenn Ihr in den Kleidern eines ostländischen Bauern herumlaufen würdet.« Ein leichter Anflug von Humor blitzte in den dunklen Augen des anderen Mannes auf. Sein Name war Aderuz und er war Heiler am Hof von Aracanon, schon seit über zwanzig Jahren. Er hatte unter dem vorherigen Herrscher gedient, so wie er jetzt unter Kirin diente – was einige vielleicht als Nachteil empfunden hätten, weil Kirin seinem Vorgänger erst vor wenigen Monden brutal ein Messer in den Hals gerammt hatte. Kurz schloss Kirin die Augen und wandte Aderuz den Rücken zu, als ihn die Erinnerung daran überflutete: Galihl Phalaér hatte als Großfürst von Aracanon versucht, auch den Rest des Kontinents für sich zu erobern. Er war in seine Nachbarländer eingefallen und hatte somit die Bestimmungen des Großen Vertrages, der die Länder Paradons in Frieden hätte einen sollen, gebrochen. Die übrigen Reiche waren gegen ihn marschiert und hatten zunächst katastrophale Niederlagen erlitten – bis sie mithilfe einer von Kirin entwickelten neuen Waffe und der List eines arachinischen Überläufers das Blatt hatten wenden und den Krieg für sich entscheiden können. Dazu hatte es allerdings erst der Eroberung von Nardéz bedurft – und des Todes von Galihl selbst, der zu allem Übel Kirins Vater gewesen war. Nun, eher Erzeuger; soweit Kirin hatte in Erfahrung bringen können, waren die Umstände seiner Entstehung sehr unglücklich gewesen: Galihl hatte eine im Palast gefangene Sklavin namens Szarell geschändet und geschwängert, woraufhin sie geflohen war, aus Angst, Galihl würde ihr Kind töten, sobald es auf der Welt war. Dabei war sie gestorben, ihr Sohn jedoch hatte überlebt und jetzt endlich seinen rechtmäßigen Platz eingenommen.

Das zumindest war die Geschichte, die er jedem erzählte und die er sich selbst jeden Abend vor dem Einschlafen wiederholte, in der Hoffnung, sie eines Tages glauben zu können. Die Ereignisse nämlich, die auf Galihls Tod gefolgt waren, waren auf ihre Weise ebenso schrecklich gewesen wie der Kampf gegen Galihl höchstpersönlich, und er tat alles, was er konnte, um sie zu verdrängen.

Er holte tief Luft und öffnete die Augen, um im Spiegel einen Blick auf Aderuz zu werfen, der hinter ihm stand. Er wirkte mitfühlend, aber auch aufmerksam, und Kirin wusste, warum: Aderuz diente dem Thron Aracanons, nicht dem Mann, der auf ihm saß, und solange er glaubte, dass Kirin dem Wohl des Landes diente, würde er ihn vollumfänglich unterstützen. Sollte Kirin sich jedoch als eine Enttäuschung erweisen … Nun, Kirin hatte gesehen, wie schnell sich seine Ergebenheit in Gleichgültigkeit verwandeln konnte. Vielleicht hätte ihn das beunruhigen sollen, doch tatsächlich war ihm diese Haltung viel lieber als das kriecherische Gehabe der anderen Hofbeamter, die während des Kampfes um die Hauptstadt nicht geflohen oder getötet worden waren und sich jetzt mit dem neuen Herrscher zu arrangieren versuchten. Kirin traute keinem von ihnen über den Weg, eine Einstellung, die immer mehr zur Gewohnheit wurde.

»Wen erwarten wir?«, fragte er. »Wie viele?«

Aderuz räusperte sich. »Abgesandte zweier Adelsfamilien, die sich aus dem Exil zurückmelden, Exzellenz, dazu hochrangige Vertreter der Handwerkerzünfte. Außerdem möchten einige Abgesandte der östlichen Länder bei Euch vorsprechen.«

Kirin mühte sich, eine gleichgültige Miene beizubehalten. »Gut«, sagte er, obwohl ihm gar nicht danach war. »Dann hätte ich jetzt gerne mein Bad.«

Aderuz verbeugte sich und ging hinaus, und Kirins Blick kehrte zu seinem Spiegelbild zurück. Sein Aussehen war ein weiterer Punkt auf der unerschöpflich langen Liste von Gründen, aus denen die Arachinen ihn hassten. Er sah nicht aus wie einer von ihnen, war zu hell, zu blond, zu blauäugig, kurz: Zu ostländisch. Nicht, dass Galihl Phalaér dem typischen Bild eines Arachinen entsprochen hätte: Wie Kirin hatte er weder das dunkle Haar noch die schwarzen Augen oder die gebräunte Haut seines Volkes gehabt, aber er war in Aracanon geboren und zweifelsfrei der Sohn einer arachinischen Großfürstin gewesen, außerdem der beste und gnadenloseste Schwertkämpfer, den sein Land je gesehen hatte. Kirin war erst vor wenigen Monden in dieses Land gekommen, während er zuvor eine durch und durch ostländische – und bürgerliche – Erziehung durchlaufen hatte. Ein Jahr Unterricht in arachinischer Kampfkunst hatte keineswegs einen überragenden Krieger aus ihm gemacht, und selbst die Sprache des Westlandes bereitete ihm hin und wieder noch Schwierigkeiten. In den Augen der ostländischen Politiker und Krieger mochte er ein Held sein, einer, der die schlimmste Gefahr abgewendet hatte, die dem Kontinent seit Jahrzehnten gedroht hatte, der einen Tyrannen getötet und viele Völker aus der Sklaverei befreit hatte – für dieses Volk hier war er nur jemand, der einen beliebten Herrscher gemeuchelt und jedwede Chance, das größte und mächtigste Land des Kontinents zu werden, zunichte gemacht hatte.