Liebe und Tod im Grenzland

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„Guter Rat deines Mannes: Solche Gedanken behältst du künftig besser für dich. Mit Sätzen wie den eben geäußerten kannst du dir ganz schnell den Mund verbrennen. Wie gesagt: ‚Vorsicht, nicht schwätzen, Feind hört mit.‘ Jeder kann das sein, ein vermeintlich ganz lieber Nachbar, der irgendwas in den falschen Hals bekommen hat und nun eine Möglichkeit sieht, dich, mich, uns beide in die Pfanne zu hauen“, sagte Paul gereizt, dem dieses ganze Thema allmählich auf die Nerven ging.

„Ihre Judenpolitik begründen die Nazis so: Sie sitzen an den Hebeln der Macht, überall da, wo das Geld ist. Ihnen gehören Kaufhäuser, Banken …“, er atmete schwer.

„Warum sind sie in den Geldberufen?“, wollte Emma wissen. „War es nicht so, dass man sie zu Handwerksberufen nicht zugelassen hat, dass sie vieles nicht durften, sodass nur Handel und Geld blieben? Und warum will Hitler ihnen nun an den Kragen? Wenn wirklich alles von vornherein auf einen Krieg zugelaufen ist, könnte es nicht sein, dass er bei den Schulden, die sich durch die riesige Aufrüstung angehäuft haben, einfach an ihr Geld ran will, an ihre großen Vermögen? Auch das wäre doch ein weiterer riesiger Etiketten-Schwindel, vergleichbar dem von heut Morgen mit dem angeblichen ‚zurückschießen‘, oder? Sie reden von Rasse und meinen ihr Geld. Sie reden von ‚Volk ohne Raum‘ und meinen Machtzuwachs. Oder sehe ich das alles falsch?“

Emma ließ nicht locker. Die Verlogenheit empörte sie und die menschliche Seite, die Tatsache, dass hier Menschenleben und Menschenschicksale bei aller Politik ausgeblendet wurden, so wie am heutigen Tag in Polen, wo möglicherweise schon die ersten Frauen ihre erschossenen Männer beklagten, Kinder ihren toten Vater. Politik hatte sie noch nie sonderlich interessiert, schmutziges Geschäft, fand sie. An die sogenannte ‚Reichskristallnacht‘ durfte sie gar nicht denken. Sie schämte sich, dass es ihre Landsleute waren, die Juden deren Geschäfte zerstört hatten. Wenn andere Pauls Büro verwüstet hätten, seine Lebensarbeit, die Grundlage der Existenz ihrer Familie? Woher kam überhaupt dieser Juden-Hass, der offenbar nicht nur in Deutschland existierte? Angeblich, weil es Juden waren, die Jesus 2000 Jahre zuvor ans Kreuz genagelt hatten? Irrsinn, fand Emma, solche an den Haaren herbeigezogenen Begründungen aus der Mottenkiste. Möglicherweise wollte man neben dem Wunsch, jüdische Vermögen zu kassieren, missliebige Konkurrenten loswerden.

So sah sie das jedenfalls, sie die unpolitische Mutter und Ehefrau, die die Dinge aus dem Bauch heraus beurteilte und sich wenig für die raffinierten Begründungen der Politiker interessierte, die ihr verlogen erschienen und an den Haaren herbeigezogen.

Pauls Informationen bis zu diesem Zeitpunkt waren die folgenden, die er für sich selbst vor kurzem in einer Art politischen Tagebuchs handschriftlich festgehalten hatte:

Als Hitler die Macht übernommen hatte, verkündete er Friedenswillen und die Fortsetzung der friedlichen Revision des Versailler Vertrages. Den Befehlshabern von Heer und Marine hingegen hatte er bereits zu diesem Zeitpunkt seine Revisionspläne für die Zukunft mitgeteilt. Die 1935 wieder eingeführte Wehrpflicht widersprach bereits den Bestimmungen von Versailles. Als er das entmilitarisierte Rheinland besetzen ließ, brach er den LocRocco-Vertrag. Vor einem Jahr marschierte er in Österreich ein. Mit dem Münchner Abkommen erreichte er die Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland, was von den Alliierten mit dem Münchener Abkommen nachträglich sanktioniert wurde. Ein Jahr später marschierten die deutschen Truppen in der Rest-Tschechoslowakei ein und Hitler gründet das Protektorat ‚Böhmen und Mähren‘. Die Westmächte wollten sich dem hochgerüsteten Deutschland noch nicht entgegenstellen. Dessen wirkliche Absichten waren ihnen zum jetzigen Zeitpunkt allerdings bereits klargeworden.

Hitler wandelte das deutsche politische System in eine Ein-Parteien-Führer-Diktatur um.‘

Emma und Paul waren in den Garten gegangen und hatten sich auf den Rand ihres Regenwasserbassins gesetzt, das Paul im Jahr zuvor gebaut hatte und ihnen das Gießwasser für den Garten lieferte.

„Ich weiß“, sagte Emma leise und ruhig, „dass du einiges nachvollziehen kannst und gut findest, was Hitler macht. Du siehst die Dinge aus einer anderen Warte und bewertest die Fakten politisch. Ich möchte dich verstehen. Vielleicht bin ich zu emotional. Nenne mal die Punkte, die du als Mitglied der Partei positiv siehst und ich, der weibliche Laie, sage dir meine Meinung dazu, ja?“

„Gut“, sagte Paul, „ich muss da allerdings etwas weiter ausholen. Beginnen wir mit dem Versailler Vertrag, der Wurzel allen Übels und dessen, was heute unter Umständen begonnen hat, ein zweiter Weltkrieg. Die uns auferlegten Zahlungen waren in der beschlossenen Höhe nicht zu stemmen und hätten unsere Wirtschaft und uns umgebracht. Besonders, wenn man die Besetzung des Rheinlandes, des Zentrums der deutschen Industrie, durch französische und britische Truppen berücksichtigt. Die Metaller waren nicht mehr bereit, unter diesen entwürdigenden und behindernden Bedingungen zu arbeiten. Die Besetzung war erfolgt, weil die Deutschen mit den Reparationszahlungen in Rückstand waren. Aber sie hatten das Geld nicht. Mit dem Young-Plan, der die Bedingungen abmilderte, kamen Erleichterungen, aber immer noch Zahlungen bis 1988. ‚Versklavung der Deutschen‘ nannte Hitler das und stellte die Zahlungen ein“, sagte Paul, „und wurde auf riskante Weise vertragsbrüchig“, entgegnete Emma lakonisch.

„Hitler ergriff gleich nach der Machtübernahme Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, im Jahre 1933 sechs Millionen Arbeitslose“, fuhr Paul fort. „Bereits 1936 war die Arbeitslosenzahl auf 1,6 Millionen gesunken. Das gelang durch den Bau von Autobahnen, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des Arbeitsdienstes, zum Beispiel Aufforstung und Bodenkultivierung, Erntehilfe, Wegebauarbeiten, Gebäudeinstandsetzung, Bau von Kleinsiedlungen und Versorgungsbetrieben.“

„Die Autobahnen dienten der Kriegsvorbereitung“, sagte Emma, „waren aber wirksam zur Linderung der größten Not, die die riesige Arbeitslosigkeit verursacht hatte“, ergänzte Paul.

„Durch den Bund deutscher Mädel (BDM) und die Hitlerjugend (HJ) sorgte er für eine Körperertüchtigung der Jugend. Dem dienten auch die Jugendspiele sowie die Olympischen Spiele.“

„Er schaffte sich gesundes, kräftiges Menschenmaterial für den kommenden Krieg. Vor allem hatte er die Möglichkeit, den Nachwuchs in den unterschiedlichen Organisationen bereits früh ideologisch indoktrinieren zu können“, konterte Emma.

„Hitler ist zutiefst überzeugt, dass die germanisch-arische Rasse intelligenter sei als andere und deshalb so rein wie möglich erhalten werden sollte. Sie seien die Herrenmenschen und ausersehen, die anderen zu führen.“

„Unglaublich anmaßend, wenn du mich fragst und durch nichts bewiesen. Eine Behauptung. Klar, ich wünsche mir auch, dass die blonden, blauäugigen Menschen nicht aussterben, die dunkelhaarigen sind ohnehin in der Überzahl. Aber kein Mensch hat das Recht, eine Art Menschenzucht zu betreiben. Wir als Christen glauben schließlich, dass wir alle aus Adam und Eva hervorgegangen sind, wenn denn an dieser alttestamentarischen Geschichte überhaupt was Wahres dran sein sollte.“

„Hitler schrieb bereits in seinem Buch ‚Mein Kampf‘, dass wir ein Volk ohne ausreichend Lebensraum seien und nach Osten expandieren sollten und müssten. Diesem Ziel dienen seine Kriegsvorbereitungen, Landgewinn, etwas, was zahlreiche Führer in der Geschichte versucht haben. Denk an Alexander den Großen, Friedrich den Großen, Napoleon. Machtzuwachs, Gewinn an Ansehen und einen historischen Gedenkstein in den Geschichtsbüchern durch Landgewinn mit allem, was sich in diesem Land befindet. Die Kriege werden im Allgemeinen von denen finanziert, in deren Ländern sie stattfinden, sind demnach theoretisch kostenneutral, allerdings nur, wenn sie gewonnen werden.“

„Und das ist genau der springende Punkt: wenn sie gewonnen werden. Und wenn nicht? Bezahlen die Frauen, Kinder, Alten und Kranken die Zeche. Und die Soldaten, sprich: die Familienväter, Söhne mit ihrem Blut. Die Frauen mit ihren Kindern, ihren Alten und Kranken können später sehen, wie sie im Elend überleben. Meine Meinung zu Krieg: jeder Krieg ist ein Verbrechen, weil er zerstört, Leben und Besitz, Pläne und jegliche Moral. Ein Soldat, der Jahre im Dreck gekämpft hat wie seinerzeit vor Verdun, ist, wenn er überlebt, allzu häufig nur noch ein Schatten dessen, der er mal war. Vielleicht ist er nur körperverletzt, vielleicht invalide und nicht mehr arbeitsfähig, oft aber sind sie seelisch so zerschunden, sich selbst und ihrem Umfeld nur noch eine Zumutung. Mit allen unguten Auswirkungen auf ihre Kinder, die ein solches Unglück ertragen müssen. Von den Frauen nicht zu reden. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe sie erlebt, in dem Lungen-Sanatorium, in dem ich gearbeitet habe, diese menschlichen Wracks, die mit zerfressenen, zerfetzten Lungen aus dem Krieg zurückkamen. Viele von Anbeginn an Todeskandidaten. Deshalb: mir wäre am liebsten, wir hätten weiter unsere Reparationen bezahlt und alles gelassen, wie es war. Ich weiß, die Brüning’schen Notverordnungen während der Weimarer Republik waren schwer zu verkraften, die Kürzungen von Löhnen und Gehältern, das Ansteigen der Beiträge zur Sozialversicherung, der Steuern, das ganze Elend einer kaputten Wirtschaft, die nicht in Gang kam, die Not der Menschen. Ja, das alles hat die Menschen mürbe gemacht und bereit, einem neuen Heiland zu folgen. Und die Augen zu verschließen vor den ersten Anzeichen einer düsteren Unwetterwolke, die mit dem heutigen Tag dunkler und bedrohlicher ist als in den letzten Jahren.“

Emma war aufgewühlt. Sie hatte versucht, das alles ruhig und leise zu sagen, denn bereits seit sechs Jahren hatten sie sich angewöhnt, leise zu sprechen und darauf zu achten, dass niemand mithörte, so wie heut. Aber sie hatte sich wieder ungewollt ins viel zu Laute gesteigert.

 

„Die Reichsregierung erklärte 1936 die Wiederherstellung der deutschen Hoheit über die deutschen Flüsse Rhein, Donau, Elbe und Oder. Diese Flüsse waren laut Versailler Vertrag internationalisiert worden. Aber ich schlage vor, wir hören mit diesem Thema auf. Es gäbe da noch einiges. Ich hoffe, er erreicht auf anständige Weise, was er für unser Vaterland erreichen will“, sagte Paul, erschöpft und eher ungläubig den Kopf schüttelnd.

„Uns bleibt ja keine andere Wahl, als zu hoffen“, ergänzte Emma. „Was hat Luther gesagt: ‚Und wenn morgen die Welt untergeht, so will ich noch heute meinen Garten bestellen und mein Apfelbäumchen pflanzen. Wie wahr! Auch damals war Krieg, die Not groß und das Elend. Und die Menschen haben in ihrer jeweiligen kleinen Nische versucht zu überleben. Auch wir wollen überleben. Deshalb lass uns unseren Garten anschauen und auf andere Gedanken kommen.“

Emma fasste Paul an der Hand, sie erhoben sich vom Rand des Regenwasserbeckens und gingen den mit Ziegelsteinen zu beiden Seiten eingefassten Mittelweg entlang bis ans Ende, um dann auf dem Rückweg ihr kleines Haus und den ganzen Garten im Blick zu haben.

Links neben ihnen an der Seite des Kompostes reiften die ersten Reineclouden, grüne, runde Pflaumen, die, bevor sie honigsüß und erntereif waren, Harztropfen hervorbrachten, die an den Früchten herabglitten. Paul schluckte bei dem Gedanken an die saftigen Früchte mit dem außergewöhnlichen Geschmack. Zur Rechten reiften die bäuerlich wuchtigen Tonger-Birnen in warmen Herbstfarben, Ocker, Orange, Dunkelgrün und Rot. Noch waren sie hart. Sie brauchten bis zur Ernte noch einige warme, sonnige Herbsttage. Die Winterkartoffeln wuchsen vielversprechend, sie gediehen prächtig auf dem leichten Sandboden. Der Herrenhuter Apfelbaum hing voller rot-grün gestreifter großer Früchte. Sie konnten bald geerntet werden und würden im Dezember, mit weichem Tuch auf Hochglanz poliert und mit Bindfäden ausgestattet, einen farbenprächtigen Christbaumschmuck abgeben. Sie schäumten beim Hineinbeißen, wenn sie im Keller zur vollen Reife gelangt waren. Unter dem Eva-Apfelbaum im Gras lagen einige Früchte, die Emma und Paul aufhoben. Sie waren von Wespen angestochen, notreif, würden aber schon herrlich munden. Sie waren die kleinen Schönheiten unter den Äpfeln: zart lindgrün mit einem pink-farbigen Bäckchen auf einer Seite, kleine Engelsgesichter kurz nach erquickendem Nachtschlaf, kleine liebliche Köstlinge.

Sie kamen zu der zweiten Terrassenstufe, die Paul mit einer Natursteinmauer angelegt hatte, um in dem schräg nach hinten abfallende Gartengelände zu verhindern, dass Regen den knappen Mutterboden rückwärtig wegschwemmen konnte. Das Wasserspeichern war bei dem Sandboden eine Herausforderung. Nach jedem Regen versickerte das kostbare Nass viel zu schnell. Dem hatten Paul und Emma mit Torf, selbsterzeugtem Kompost und Dung aus ihrer eigenen Senkgrube entgegengewirkt, und sie würden weiterhin den Boden anreichern mit dem, was einmal jährlich mit eimergroßer Blech-Kelle aus ihrer selbst gefüllten Dunggrube als Gold des Kleingärtners auszuschöpfen und segenspendend zu verwerten war.

Die andere Terrassenstufe befand sich unmittelbar unterhalb des vorderen Gartenzauns. Hinter dem grün gestrichenen Holzlattenzaun war ein breites Beet angelegt, bestanden mit farbig blühenden Sträuchern, blauem Flieder, Weigelien mit ihren altrosa Blüten, maisgelben Forsythien und cremefarbigem Schneeball. Liebling der Familie eine Spiräe neben dem Gartentor. Bei Regen saugten sich ihre kleinen Blättchen und satten Blütenreihen voll Wasser, mit dem sie Eintretende mit sprühfeiner, breitgefächerter Regentaufe begrüßte, hochwillkommen an gewittrig-heißen Sommertagen.

Gleich hinter dieser Hecke, einem Blickfang Passanten gegenüber und beliebtes Revier für die Vögel des Gartens, stand die erste Natursteinmauer, einen knappen Meter hoch, mit viel Schweiß, großer Freude am handwerklichen Tun und den vielfältigen Farben der Natursteine von Paul aufgebaut. Emma brachte anschließend nach und nach Stauden vom Gärtner mit oder als Mitbringsel vom einen oder anderen Nachbarn. Zwischen die Ritzen gesteckt, gediehen sie innerhalb kürzester Zeit üppig und wuchsen zu dicken farbigen Polstern heran.

An der vorderen Hauswand wuchs an einem Holzgestell eine Ranke wilden Weins empor, nach und nach die gesamte Hausfront bedeckend, die sich im Herbst in den schönsten Rottönen färbte und ihrerseits Vögeln Nistgelegenheiten bot. Die gefiederten Freunde aßen die dunkelblauen Beeren frisch im Herbst und zu kleinen Mini-Rosinen eingetrocknet an kalten Wintertagen.

Auf der rückwärtigen Hausseite mit dem großen Wohnzimmerfenster zum kleinen Hof hin stand die Teppichklopfstange, gut zum Turnen für die Kinder, für Klimmzüge und Aufschwünge.

Der Hof schloss ab mit einem Drahtzaun zum Doppelhaus-Nachbarn, den Großeltern Hermine und Gustav. An diesem Zaun hatte Ute, die vierjährige Jüngste, ein eigenes Beet. Sie durfte hier alles selbst entscheiden. Sie wünschte sich Lilien. Emma hatte ihr geholfen, die Lilienzwiebeln fachmännisch, einen halben Meter tief, auf Sand einzugraben und dann viel zu gießen. Ute war entzückt über die großen, wundersamen Blüten, die aus diesen unscheinbaren Zwiebeln emporsprossen. Radieschen-Samen hatte sie ferner ausgewählt, rote, längliche Zeppeline mit weißen Spitzen. Oft kontrollierte sie am oberen Blätterschaft, wie groß ihre roten Lieblinge schon waren. Drei Monatserdbeerstauden hatten auf ihrer Wunschliste gestanden, die bis Oktober kleine, hocharomatische Früchtchen hervorbrachten.

„Mehr braucht ein Mensch eigentlich nicht“, sagte Emma, als sie noch einmal über ihren Garten schauten, in dem alles wuchs, in dem sie viele Stunden im Jahr verbrachten mit Arbeit, die Glück vermittelte, eine besondere Art von Glück, Glück mit Langzeitwirkung. Jede Woche ist irgendwas anders: etwas sprießt aus dem Boden, etwas anderes kann geerntet werden und im Winter stehen im Keller Einmachgläser in Reih und Glied, gefüllt mit Marmeladen, Gurken, Gemüse, Kartoffeln in einer Schütte, ein großes Fass mit Holzdeckel und Wasserrinne, gefüllt mit geraspeltem Weißkohl, in Gärung begriffen, um herrliches Sauerkraut zu werden. Möhren in einem sandgefüllten Steinkrug, die auch im Winter noch frisch gegessen werden konnten. Das eigene Gemüse war eine große Hilfe bei ihrem Bemühen, regelmäßig ihre Raten für das Haus zu überweisen. Sie kamen voran. Auch das machte sie zufrieden.

„War das nicht eine enorm gute Idee von mir, vor vier Jahren, als du aus der Kur zurückkamst, zu entscheiden, dass wir das Haus kaufen sollten?“, fragte Paul und legte Emma den Arm um die Schulter. „Es war die genialste Idee, seit wir verheiratet sind, Paul, du autoritärer Wahnsinniger! Ich habe eine Waschmaschine, teilmechanisch, sie kurbelt an meiner Stelle, die Miele-Presse quetscht das meiste Wasser aus den schweren Teilen. Vor der Wäsche kann ich die Wäsche zum Bleichen auf die Wiese legen, vorab in Bleichsoda eingeweicht und quasi vorgewaschen. Später hänge ich den ganzen Salat auf die Leinen im Garten, Sommer und Winter, alles gut durchlüftet. Im Winter steifgefroren, standfeste Wäsche sozusagen. Ich muss nicht mehr von morgens früh bis abends spät endlos viele Treppen erklimmen, wenn ich in Keller, Waschküche oder auf den Boden will. Ich muss auch nicht mehr mit den Kindern spazierengehen. Ute spielt gern in ihrer Sand-Ecke oder bei ihrer Freundin Bea in deren Sandkasten. Die Großen haben Freunde, spielen draußen auf der Straße, auf der nur ein Auto verkehrt, das des Großvaters Gustav, und die Kinder müssen nicht Rücksicht auf Straßenverkehr nehmen. Hinter den Häusern sind Wiesen und Äcker.“

Gegenwärtig machen sie Stoppelschlachten auf den abgeernteten Getreidefeldern, das heißt, sie reißen Büschel der Getreidestrünke mitsamt Wurzeln aus und bewerfen sich damit. Abends sehen sie aus wie zweibeinige Ferkel. Zwar müssten die Haare täglich gewaschen werden, aber den Umstand macht sich hier keiner. So sind auch in den Betten Sandspuren, auf den Betten, den Treppen, den Teppichen. „Warum eigentlich nicht?“, sagt Emma. „Kinder, die nicht in Watte gepackt werden, sind gesünder.“ Die Fakten geben ihr recht. Baden, Haare-Waschen inbegriffen, ist am Samstag angesagt. Bade-Fest in der Zinkwanne in der Waschküche. Nach jedem Badegang wird Seifenschaum abgeschöpft und ein Töpfchen frisches, heißes Wasser für den Nächsten nachgeschüttet. Spaß macht es auf jeden Fall. In der Woche reicht die Schüssel in der Küche für Gesicht, Hände und Füße.

„Was für ein gutes Leben wir haben“, sagt Emma und umfasst Paul, dankbar für alles, was sie vor sich sehen und gemeinsam erlebt haben, seit sie vor neun Jahren geheiratet haben. „Ja, meine Emma“, bestätigt Paul.

„Komm, ich zeig dir mal was Schönes.“ Emma zieht Paul hin zu ihren beiden Lieblingen. Rechts und links vom großen Wohnzimmerfenster zum Hof hin, haben sie kurz nach ihrem Einzug je einen Weinstock angepflanzt. Die Ranken reichen bis zur Dachrinne und werden von einem Holzgestell gehalten. In diesem Jahr tragen beide Weinstöcke zum ersten Mal. Die Trauben sind zwar noch grün, aber Emma zupft einige goldgrüne Beeren einer Traube vom linken und steckt sie Paul in den Mund. Paul verzieht zwar unwillkürlich sein Gesicht Richtung sauer, dann kaut er andächtig die Beeren und spürt ihrem Aroma nach: „Wie wunderbar“, sagt er schließlich, „wer hätte das gedacht! Der Versuch hat sich gelohnt. Und Du, mein Mädchen, kommst an deine heißgeliebten Weintrauben.“ Emma zieht Paul zur anderen Seite: „Diese hier sind rund, noch dunkelgrün, haben große Trauben, brauchen aber noch länger.“ Eine Hand unter einer Traube sagt sie, stolz lächelnd: „Schau dir das an, wie riesig!“

Paul muss noch arbeiten, wie an den meisten Sonntagen. Emma hat vor, mit Ute und Sportwagen zu den Bleichen zu gehen, einem kleinen Hof Richtung Stadt, nahe der Neiße, wo ein Wurf junger Boxer angekommen sein soll. Sie will sie nicht nur anschauen. Sie hat seit Wochen kleine Beträge ihres Wirtschaftsgeldes zurückgelegt. Paul wünscht sich einen Boxer. Auch Emma denkt seit langem an einen Hund, jetzt, wo die beiden Großen an den Vormittagen in der Schule sind und auch Ute in absehbarer Zeit eingeschult wird.

Zuvor macht Emma für Paul einen Malzkaffee aus selbst gerösteten Gerstenkörnern. „Du willst doch sicher noch deine ‚Krönungs-Kuchen-Krusten‘ aufessen“, sagt sie und stellt die dampfende Tasse auf seinen Schreibtisch.

Am späteren Nachmittag kommt sie zurück, Ute im Sportwagen, den achtwöchigen Boxer-Welpen Rocco auf ihrem Schoß, der bereits unterwegs Erfahrungen mit einem Zitronenfalter gemacht hat, den er fangen wollte und dabei kopfüber aus dem Wagen purzelte.

Emma schleicht bei ihrer Rückkehr zusammen mit Ute auf Zehenspitzen ins Herrenzimmer, den Zeigefinger Richtung Ute auf den Lippen und hält Paul den warmen, seidenweichen Hund von hinten an die Wange. ‚Ihr sollt mich doch nicht beim Arbeiten stören‘, wollte Paul gerade sagen. Stattdessen ist ein überraschtes, freudiges: „Nein, das gibt’s doch nicht“, zu hören. Paul steht so schwungvoll auf, dass sein Schreibtischstuhl schwankt und dann umkippt, nimmt den neuen Familien-Zuwachs in beide Hände und hält ihn sich an die Nase, um ausgiebig an ihm zu schnuppern, den Welpen an sich schnuppern zu lassen und seine Wärme zu empfinden, dann hält er das Hunde-Baby hoch in die Luft, um ihn eingehend zu betrachten und zu bewundern. Rocco hat einen dicken Milchbauch und weiche Beine, die den Tonnenbauch noch nicht tragen können. Deshalb rudert er, als Paul ihn auf den Boden setzt, mit seinen vier Gummibeinen und bewegt seine Milchtonne rutschend durch das Herrenzimmer. „Was für ein Prachtbursche“, findet Paul und nimmt Emma und Ute in die Arme. „Willkommen in unserer Familie, du kleiner Hundemann, hochwillkommen auch zur Verstärkung des unterrepräsentierten männlichen Teils der Familie. Wir zwei Männer müssen gegen so viele Frauen zusammenhalten, was meinst du?“ Paul hat den kleinen Milchsack wieder hochgehoben. Er hängt, alle vier Pfoten abwärts baumelnd wie weiche Würste, in Pauls Händen und schaut mit großen, samtig-braunen, neugierigen Augen aus seiner zerfurchten Faltenstirn. Sabber tropft aus seinen schwarzen, seidenweichen Lefzen.

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