Totgeschwiegene Leben

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Die Zeit bis zur Komplet, dem tagesabschließenden Nachtgebet, war auf Säben der Lektüre vorbehalten. Das geistliche Buch auf dem Lesepult, aus dem einige angemerkte Kapitel vorgetragen wurden, war die Nachfolge Christi des Thomas von Kempen. Offensichtlich hatte jemand gerade solche Stellen, die zur Loslösung von den Nichtigkeiten des Weltlichen und zur Überwindung der Eigenwilligkeiten des Ichs ermuntern sollten, zur Vorlesung ausgesucht. Es waren durchwegs Sätze, die im Geheimen mit der friedvoll gelassenen Stimmung Maria Theresias übereinstimmten. Auch sie versprach sich im Einklang mit den nächtig besänftigenden Gedanken die schon seit Längerem ersehnte Loslösung von innerem Leid und Schmerz. Und dennoch vernahm sie inmitten dieser Stille zugleich eine verwirrende Nebenstimme, die das heilig Besänftigende in etwas dunkel Gefährliches zu verkehren suchte. Dieses Doppeldeutige würde sich allerdings erst einige Jahre später klären. Dann würde man ihr so viel Lateinisches angelernt haben, dass sie auf die allzu vereinfachenden Übersetzungen verzichten könnte. Sie würde in der dunkleren Urfassung blättern können und lesen: „ad patiendum et laborandum scias te vocatum … habitus … modicum confert; sed mutatio morum et integra mortificatio passionum …“7

Nach der Lektüre saßen die Schwestern noch gemütlich beisammen und verrichteten Handarbeiten, wobei auch das tagsüber heilige Stillschweigen gebrochen werden konnte. Die darauffolgenden Abendgebete waren die längsten und für Maria Theresia die mühsamsten. Ihr fielen dabei immer wieder die Augen zu.

Maria Theresia hatte ihren ersten Tag auf Säben empfunden, als sei es der längste Tag ihres Lebens gewesen. So viel Neues hatte sie gesehen und gehört. Zu Hause hatte sie nicht einmal in einer ganzen Woche so viel gebetet wie hier an einem einzigen Tag, obschon sie auch zu St. Maria ad Nives, zur Schneemadonna in Wolkenstein, täglich zur Messe gegangen war. Sobald sie auf ihrer Bettstatt lag, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen und den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Doch ihre Gedanken schafften es nicht einmal bis zur Konventsmesse, als sie schon eingeschlafen war.

Das frühe Aufstehen war Maria Theresia von zu Hause gewohnt. Sie war jeden Morgen mit dem Vater in den Stall gegangen, aber niemals, ohne zuvor gefrühstückt zu haben. Umso mehr staunte sie schon nach einer Woche über die Wirkung des Betens im nüchternen Zustand. In diesen Morgenstunden hatte sie das Gefühl, vollkommen klar und im Einklang mit sich selbst denken zu können. Sie empfand ihren Zustand als stimmig und spürte so etwas wie Glück. Es war ein starkes Gefühl, das sie jeweils einige Sekunden lang ansprang, aber Maria Theresia konnte sich nicht erklären, woher es kam. Sie schloss die Augen, ließ es durch sich hindurchfließen und dachte an ihre Tiere zu Hause, die sie so sehr vermisste, wobei sie das leichte Schnurren Luzis an ihren Beinen unter dem schweren Chormantel fühlte.

Tag um Tag verging immer rascher auf Säben und Maria Theresia bemerkte gar nicht, wie schnell sie sich an das neue Leben gewöhnte und es liebgewann: die Tagesordnung, die Stille, das Gebet, die regelmäßige Arbeit, die Schwesterngemeinschaft, die neue Sprache und natürlich Luzifer. Es war tatsächlich erstaunlich, wie schnell für Maria Theresia die deutsche Sprache vertraut wurde. Die Bibelgeschichten, die sie zu Hause bereits in ihrer Muttersprache Ladinisch gehört und auf Italienisch gelesen hatte, konnte sie in kürzester Zeit ohne Mühe auch auf Deutsch lesen. Sie verbrachte so viel Zeit, wie die Äbtissin es ihr erlaubte, in der Bibliothek und freute sich auf die Lesezeit am Abend, wobei sie bald auch lateinische Bücher las. Sie vertiefte sich selbstverständlich immer wieder in die Bibel, doch vor allem liebte sie die Lektüre im Stundenbuch, dem Gebets- und Andachtsbuch für das Stundengebet. In der Bibliothek wurde ein außergewöhnlich schönes Exemplar mit handkolorierten Bildern aufbewahrt.

Sobald die Bibliothekarin Franziska Xaveria die Freude Maria Theresias an den Büchern bemerkt hatte, erzählte sie Maria Theresia vom Reichtum einer untergegangenen Bibliothek, der allerersten und einzigen Bildungsstätte Tirols, und zwar der Domschule, die schon vor dem Jahr 1000 n. Chr. auf Säben durch Erlass Karls des Großen existiert hatte. Diese Schule zur Vorbereitung für den geistlichen Stand genoss ein so hohes Ansehen, dass die Schüler von weither kamen. Gelehrt wurde das Trivium (Grammatik, Dialektik und Rhetorik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik), wobei speziell die Musikpraxis gut organisiert gewesen sein musste. Doch als Bischof Richpert in den 60er-Jahren des 10. Jahrhunderts den Bischofssitz schrittweise vom felsigen Säben auf das ebene Gebiet von Brixen verlegte, was durch die Schenkung des Meierhofs Prihsna von König Ludwig dem Kind an Bischof Zacharias von Säben ermöglicht wurde, übersiedelte auch die Domschule nach Brixen.

Bedingt durch Maria Theresias Bildungseifer und ihr außergewöhnliches Erinnerungsvermögen war ihr trotz nichtadeliger oder bürgerlicher Herkunft der Weg zur Chorfrau bestimmt. Doch zunächst wurde sie während der gesamten Postulats-, Noviziats- und Professzeit, wie alle Laienschwestern, einem täglich zu verrichtenden klösterlichen Arbeitsbereich zugeordnet. Gemäß ihrer Neigung und Fähigkeit hatte die Äbtissin Marie Theresia einen Aufgabenbereich in der Landwirtschaft als sogenannte Ökonomin zugeteilt. Die schwere und aufwendige Arbeit im klösterlichen Stall wurde zwar von Laienschwestern und Viehmägden geleistet, doch die Chorschwester hatte die Aufgabe, sie so gut sie konnte zu unterstützen. Neben den Ämtern im Bereich des Gartens war dies ein Amt von hohem Stellenwert, da die Landwirtschaft nicht nur zur eigenen Grundversorgung diente, sondern auch ein wirtschaftliches Standbein war: Die Tierökonomin hatte die Aufgabe, für die Stallung der Nahversorgung und das in der Klausur gehaltene Kleinvieh an Geflügel, Katzen und Bienen zu sorgen.

Während die anderen Schwestern sich in der kurzen Pause nach den Laudes wuschen oder lasen, lief Maria Theresia jeden Tag rasch durch den Garten nach Bethlehem hinunter, wo die Tiere schon sehnsüchtig, besser, hungrig auf sie warteten. Luzifer flitzte immer schon voraus und wartete am Eingangstor des Stalles, bis Maria Theresia endlich kam. Sie beeilte sich, den Kühen, Ochsen, Pferden und Ziegen aus dem Futterloch ein wenig Heu in die Krippe hinunterzuwerfen und den Schweinen den Kübel Küchenabfälle, den Schwester Magdalena jeden Morgen bereitstellte, in den Trog zu schütten, um sofort wieder hinauf in die Kirche zur Prim zu laufen, denn sie wusste, dass dem gemeinsamen Beten nichts vorzuziehen war. Sie hatte gelobt, mit all ihren Kräften Gott zu suchen, auch wenn ihr die Tiere mehr am Herzen lagen. Luzi, der die Fütterung genau verfolgte, wusste, dass gleich darauf die Viehmagd kommen würde, die Kühe zu melken, und er ein wenig Milch bekommen würde, deshalb begleitete er Maria Theresia nicht mehr hinauf ins Kloster.

Die Hennen im Gehege vor der Küche wurden inzwischen von der Geflügelmagd versorgt. Doch nach der Konventsmesse schaute Maria Theresia trotzdem immer auch im Hühnergehege vorbei, ob auch alle Hennen noch da seien. Fuchs, Marder, Iltis und Dachs konnten den Hennen auf Säben, vor allem der Klausurmauer wegen, nichts anhaben. Doch die Habichte, und zwar die größeren Weibchen, konnten im Winter, wenn Nahrungsmangel herrschte, den Hennen durchaus eine Gefahr werden. Maria Theresia fürchtete sich auch vor den anderen Greifvögeln, dem Bussard, dem Sperber und dem Turmfalken, die mit den warmen Aufwinden über dem steilen Säbener Felsen kreisten und im richtigen Moment blitzschnell einen Vogel, eine Maus oder ein anderes kleines Tier erbeuteten.

Wenn Maria Theresia am Morgen durch den Garten lief, sah sie immer wieder Insekten, die sie noch nie gesehen hatte. Trotz Eile blieb sie stets einen Augenblick stehen und bewunderte erstaunt die Geschöpfe Gottes, ja, für sie waren sie dem Menschen gleichwertig und sie verstand nicht, wie es zur Herabsetzung des Tieres zur Ware hatte kommen können. Die Natur unterwerfen und über die Tiere herrschen, das kam für sie einfach nicht in Frage. Sie konnte das von der Religion überlieferte Gesetz, dass nur der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen worden sei, einfach nicht beachten. Ihr deuchte eher, der Mensch habe seinen Gott als Ebenbild seiner selbst geschaffen und dabei die Tiere vergessen. Und den Menschen seiner Sprache wegen dem Tier als überlegen zu erachten, erschien ihr mehr als fragwürdig und lächerlich.

Sprache war für Maria Theresia nicht lediglich eine Reihe aufeinanderfolgender Wörter. Sprache bedeutete für sie viel mehr, und das Spektrum der Kommunikation reichte bei ihr von einer Palette vieler nonverbaler Ausdrücke, wie Blicken, Gesten oder Berührungen, bis hin zu unzähligen Tierlauten, die sie mit der Zeit zu deuten gelernt hatte. Sie behandelte alle Geschöpfe mit Würde und sprach mit allen, Menschen wie Tieren, auf gleicher respektvoller Ebene. So begrüßte sie alle kleinen Tiere, denen sie auf ihrem Weg durch den Garten begegnete, und sprach leise ein paar nette Worte zu ihnen. Die Schweigepflicht galt für Maria Theresia nur für Menschen, denn das Sprechen mit Tieren bedeutete für sie gegenseitigen Gefühlsaustausch der Zuneigung mit Lauten.

Besonders beeindruckt war sie von den Smaragdeidechsen. Nach den Wintermonaten beobachtete sie bei der Lacerta viridis, der großen grünen Smaragdeidechse, die erste Häutung, wobei sich deren Kinn-, Kehl- und Halsregion im schönsten Kornblumenblau verfärbte. Doch auch Luzifer fand an allen Eidechsenarten großen Gefallen und jagte sie wie wild umher. Er erwischte meistens nur ihren Schwanz, der sich sofort vom Körper löste, wobei sie selbst ihm entwischen konnten. Er spielte und tobte sich dann mit dem Eidechsenschwanz aus, der sich noch ganze vier bis fünf Minuten lang heftigst bewegte, und Maria Theresia war froh, dass er nicht die Eidechse folterte. Blindschleichen fing er noch leichter, aber Maria Theresia schaffte es für gewöhnlich, ihn mit anderen Spielen abzulenken und die Schleichen zu verjagen, sodass er sie nicht mehr finden und misshandeln konnte.

 

Unter den unzähligen Käfersorten, von denen Maria Theresia viele auf Säben zum ersten Mal sah, mochte sie den Hirschkäfer oder den Donnergugi, wie die Bauern ihn nannten, am liebsten. Doch auch der Alpenbock mit seinen langen Fühlern und dem wunderbaren blauen Gewand hatte es ihr angetan. Und wenn sie ein wenig Zeit hatte, ging sie zum Ameisenhaufen, den sie eines Tages am Rand des Klostergartens unter einem Baum entdeckt hatte. Es waren kleine rote Waldameisen, mit denen Luzi weniger Freude als mit den Eidechsen hatte. Er beschnupperte meist kurz die Ameisenstraße und suchte sich dann schnell ein sicheres höhergelegenes Plätzchen, von wo aus er alles im Blick hatte und nicht in die Pfoten gepikst wurde.

Schon zu Hause hatte sie oft in den Wäldern von Juac oberhalb des elterlichen Hofes wie hypnotisiert den Ameisen bei ihrer emsigen Arbeit zugesehen. Sie verstand nicht, wie jede einzelne Ameise bei solch einem Gewimmel Bescheid wusste, wohin sie gehen und was sie tun musste. Sie müssen sich untereinander verständigen können, sonst würde ein solcher Staat nicht funktionieren, dachte sie und war überzeugt, dass die Ameisen, genauso wie alle anderen Tiere, miteinander sprachen. In ihre Gedanken vertieft, sah Maria Theresia die Ameisen in ihrem Bau wie die Nonnen und sich selbst im Kloster, wo eine Einzelne verloren wäre, aber alle gemeinsam unbezwingbar waren, wie sich in den Folgejahren herausstellen sollte. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln und Jucken an den Beinen. Sie sprang auf und lief Hals über Kopf davon, gefolgt von Luzi, der dann schnell vorausstürmte.

Etwas zurückhaltender war sie bei den Skorpionen. Nicht dass sie vor ihnen Angst gehabt hätte, aber sie waren durch ihre geschickte Gangart nach allen Richtungen so flink, dass sie unberechenbar waren, und die vielen Augenpaare – genau hatte sie sie nie gezählt – machten einen unheimlichen Eindruck auf sie. Wenn sie einen davon ausgetrocknet fand, nahm sie ihn mit, hängte ihn mit einem Bindfaden am Schwanz neben ihrer Bettstatt auf und bestaunte immer wieder dessen schönen filigranen Körper. Doch seit jenem Tag, an dem Maria Theresia erfahren hatte, wie die Klosterapothekerin Schwester Karitas Skorpenöl herstellte, jagte sie alle Skorpione, die sie im Garten sah, die steile Felsenwand hinunter, damit sie nicht eingesammelt und lebend ins heiße Olivenöl geworfen werden konnten, wo sie in Todesangst ihr Gift freisetzten. Das Skorpenöl wurde gegen Koliken, Gicht, Ohrenschmerzen, Harnbeschwerden und gegen die Pest eingesetzt. „Lebend bringen sie uns den Tod und tot schenken sie uns das Leben“, sagte Schwester Karitas.

Die Gottesanbeterin oder das Maringgele, wie sie von den Bauern genannt wurde, liebte Maria Theresia über alles. Es war das erste Lebewesen, das sie auf Säben willkommen geheißen hatte. Damals hatte sie sich vor der großen eigenartigen Sechsfüßlerin und Neuflüglerin noch gefürchtet, doch mit der Zeit waren sie Freundinnen geworden. Die langanhaltende Reglosigkeit – die Gottesanbeterin verharrte oft stundenlang unbeweglich, um dann blitzschnell mit den langen ausklappbaren Fangbeinen in der Luft eine Fliege zu fangen – faszinierte Maria Theresia genauso, wie die Gottesanbeterin als Tarnung ihre Farbe und Gestalt an die Umgebung so genau anpassen konnte, dass man sie nur selten sah. Wenn Maria Theresia eine entdeckte und sie leise ansprach, drehte diese ihren Kopf mit dem kleinen spitzen Mund in ihre Richtung, schaute sie mit den großen Marsmännchenaugen verwundert an und hörte aufmerksam zu, wie Maria Theresia ihre Schönheit lobte, ihre Bewunderung für die meditative Fähigkeit, im Jetztzustand auszuharren, bekundete und ehrfürchtig beichtete, auf ihrem Gottesweg noch lange nicht so weit zu sein.

Seltener sah Maria Theresia Eichhörnchen, denn sie lebten im angrenzenden Wald. Aber ab und zu huschten einige über die Klostermauer, um auf den Obstbäumen herumzuklettern und zu spielen oder um ein paar Beeren, Nüsse oder Früchte zu suchen. Wie verhext beobachtete Maria Theresia die kleinen flinken Akrobaten mit ihren buschigen Schwänzen und den aufrechten Ohrpinseln. Zu Hause in Wolkenstein hatte sie in den Wäldern schon öfters hell- oder dunkelbraune Eichhörnchen mit weißen Brustlätzchen gesehen und wunderte sich, dass hier auf Säben so viele völlig schwarz waren. „Diese Eichhörnchen, wir nennen sie Kätzchen, leiden an Melanismus, einer Art genetischer Schwarzfärbung der Haut und des Fells, da sie auf Säben einer erhöhten Sonneneinstrahlung und im Winter niederen Temperaturen ausgesetzt sind. Und weil sie so andersartig sind, werden sie – gerade wie schwarze Murmeltiere – von den eigenen Artgenossen oft ausgeschlossen und suchen deshalb gern die Gesellschaft der Menschen“, klärte Schwester Karitas Maria Theresia auf.

So oft Maria Theresia konnte, lief sie die Treppe hinauf, die zur Heilig-Kreuz-Kirche führte. Im beinah rechteckigen, am Morgen lichtdurchfluteten Kirchenschiff überkam sie ein Gefühl von Leichtigkeit und Ruhe. Nur bei Wallfahrten zum wundertätigen Kruzifix der Heilig-Kreuz-Kirche – wie zum Beispiel jene der Gadertaler, die seit Jahrhunderten nach Säben pilgerten, um Beistand gegen Rübenwürmer, Heuschrecken und andere Katastrophen, wie Sonnenfinsternisse, Erdbeben oder den Schwarzen Tod, zu erbitten – füllte sich die Kirche bis auf den letzten Platz. Doch gerade in den ersten Jahren Maria Theresias auf Säben wurde den Gadertalern das Jí en Jeunn, der Gang nach Säben, untersagt. Erst nach dem Tod Josephs II. wurde die Wallfahrt 1792 wieder aufgenommen, und in den Folgejahren wurde sie nur noch im Jahr 1804 durchgeführt. Die Schwestern freuten sich immer so sehr auf den 13. Juni, den Tag des heiligen Antonius, und konnten die Ankunft der Gadertaler kaum erwarten. Maria Theresia war so ergriffen, die Wallfahrer – seit einiger Zeit waren nur noch Männer zugelassen – in ihrer Muttersprache beten zu hören. Sobald sie am Morgen die Pilger auf der orografisch linken Eisackseite aus dem Villnößtal kommen sah, betete sie, wie sie es für sich immer leise tat, auf Ladinisch mit, bis alle die Heilig-Kreuz-Kirche erreicht hatten. Die Schwestern saßen während der heiligen Messe in einem über dem Eingang abgeschirmten Raum, wo man sie nicht sah.

Am liebsten verweilte Maria Theresia allein im breiten Kirchenraum. Hier, auf dem höchsten Punkt des Berges, hatte sie das Gefühl zu schweben, ähnlich wie zu Hause, als sie durch Wald und Wiesen, über Felsstufen in Serpentinen bis auf Stevia hinaufgestiegen war, um sich bei den Tieren frei und sicher zu fühlen. Die Wände und die Decke der Kirche waren 100 Jahre zuvor, noch bevor die ersten Nonnen aus Nonnberg ankamen, vom Kulissenmaler Johann Baptist Hueber aus Neustift im Auftrag des Klausner Pfarrers Matthias Jenner vollständig ausgemalt worden. Die Säulenhalle mit den drei zum Grab eilenden Frauen und dem mahnenden Engel sowie der Kalvarienberg und die Grablegung mit den bewaffneten Soldaten weckten in Maria Theresia, speziell durch die Bodenmuster, eine solch illusionistische Raumerweiterung, dass sie immer wieder die Perspektivbilder berühren musste, um sich zu vergewissern, dass es nur flache Wände waren. Ebenso hinterließ die flache Holzdecke, die mit einer Leinwand überzogen und vollständig mit Scheinornamentik einer Balustrade und Darstellungen der Geißelung Christi, der Kreuzigung und der Himmelfahrt bemalt war, in ihr den Eindruck, sie würde durch die Wolken bis in den Himmel blicken. Diese raffinierte Architekturmalerei, die dem Domkapitel seinerzeit äußerst missfallen hatte, war tatsächlich mit der Absicht gemalt worden, den Blick durch die Wände und durch die Decke ins Freie zu leiten, und wurde von der maßgebenden Stelle in Brixen nicht gern gesehen, da sie nur auf Schein und nicht auf Beständigkeit beruhte. Die perspektivische Sicht in die Ferne bewirkte in Maria Theresia tatsächlich einen luftigen Durchblick in die Unbeschwertheit. Nur hier fühlte sie sich ruhig, frei, schmerzlos und bisweilen sogar glücklich. Es waren Augenblickszustände der Freiheit, die ihr viel Kraft schenkten und mit dem klösterlichen Gehorsam ein wohltuendes Gleichgewicht herstellten.

Maria Theresia hatte auch gleich bemerkt, dass der Maler erstaunlich viele Tiere in seine Malerei eingeschmuggelt hatte. Sie versuchte, alle Tiere ausfindig zu machen. Es waren vor allem Vögel im weitesten Sinne: Tauben als Symbole für den Heiligen Geist, eine Schwalbe, ein Papagei, ein Pfau, ein Adler, ein Hahn, ein Fasan und ein fliegender Drache. Gerade dieser fliegende Drache beschäftigte Maria Theresia sehr, denn es war im Grunde gar kein Drache, sondern vielmehr eine Mischung aus Hahn, Vogel, Schlange und Echse, die feuerspeiend ein beflügeltes Wesen – wohl Christus – in die Hölle verjagte. Es war ein Basilisk, der eine sonderbare Wirkung auf sie ausübte. Sie fühlte sich von diesem Tier gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Sein winziges Auge im verdrehten Kopf schaute den Betrachter mit einem stechenden Blick, dem man sich nicht entziehen konnte, direkt ins Gesicht. Maria Theresia fürchtete sogar, er könne sie mit seinem Gift anhauchen und versteinern. Aus Angst nahm sie manchmal einen kleinen Spiegel mit in die Kirche und hielt ihn dem Basilisken vor, damit er gegebenenfalls selbst versteinert würde.

Andere Tiere, die sie in der Kirche entdeckte, waren Bären, die sie aus den Wäldern in Gröden gut kannte, Löwen, als Begleiter des Evangelisten Markus und des heiligen Hieronymus, ein Lamm im Diözesanwappen der Bischofsstadt Brixen, ein großer Fisch, der gerade den heiligen Jonas verschlang, ein Stier als Begleiter des Evangelisten Lukas, eine Schlange, die gebändigt wurde, und kleine Hunde, von denen der Maler einige hinter Säulen und einer Balustrade hervorspähen ließ. Über diese Hündchen freute sie sich außerordentlich, denn sie hatte sich immer einen eigenen Hund gewünscht. Aber ganz besonders angetan war sie von der Darstellung eines Vogels, der eigentlich einen Adler darstellen sollte, denn er stand zu Füßen des Evangelisten Johannes. Er sah aber einer Gracula religiosa, einem großen Beo mit orangen Füßen und Schnabel, viel ähnlicher, hielt ein Tintenfass mit einer Schreibfeder im Schnabel und saß auf einem Buch. Maria Theresia kannte nur die Alpenkrähe mit rotem Schnabel und die Alpendohle mit gelbem Schnabel, die die Berggipfel umflogen und um ein Stückchen Brot bettelten. Sie wusste auch nicht, dass der Beo aus der Familie der Stare eine ausgesprochene Sprachbegabung hatte und der Maler vielleicht deshalb diesen Singvogel gewählt hatte. Sie empfand dieses Bild jedenfalls als Aufforderung zum Schreiben, denn sie hatte schon lange diesen Wunsch gehegt, es hatte ihr nur immer an Mut und Selbstvertrauen gefehlt, in einer ihr fremden Sprache zu dichten. Und in ihrer Muttersprache zu schreiben, wäre ihr nie im Leben in den Sinn gekommen.

Unter all den Tieren, die das Kirchenschiff verzierten, fehlten die Katzen. So oft Maria Theresia auch danach suchte, nie fand sie eine. Leider war das heilige Tier seit dem Spätmittelalter in Ungnade gefallen und wurde von der Kirche gemeinsam mit den Hexen dämonisiert und verbrannt. Maria Theresia konnte sich wenigstens mit Luzifer trösten, der sie mittlerweile überallhin – wenn sie niemand beobachtete, sogar in die Kirche – begleitete, außer er war gerade zum Betteln in die Küche zu Schwester Magdalena geflüchtet.

Im Gegensatz zur Freude, die sie im Kirchenschiff empfand, stand die Beklemmung, die die vier Tafelbilder in der Vorhalle der Heilig-Kreuz-Kirche in ihr hervorriefen. Jeder, der die beglückende Kirche betreten wollte, musste auch an den mahnenden Bildern der Vier letzten Dinge – dem Tod, dem Jüngsten Gericht, der Hölle und dem Himmel – vorübergehen. Entweder stammten die einwandfreien Kopien der vier originalen Miniaturbilder des Franziskanerpaters Frère Luc – Claude François aus Amiens, der später nach Neufrankreich in Nordamerika ausgewandert war – von ihm selbst, oder sie wurden vom malkundigen Oratorianerbruder Franz Metz aus Bayern, der bereits vor der Erbauung des Klosters als Einsiedler in den Ruinen der alten Burg auf Säben gelebt hatte, angefertigt.

Die vier Tafelbilder entstanden noch im Geiste mittelalterlichen Denkens, in dem man nur durch die Tugenden und nicht wie später durch die Wissenschaften Weisheit erlangte. Auf jedem Bild war dementsprechend am Bildrand auch ein Täfelchen mit einem Mahnspruch auf Latein und Französisch gemalt:

 

Der Tod wird durch den Sensenmann dargestellt. Der Schädel mit seinen Öffnungen, die linke Hand mit den Armknochen und die rechte Hand, mit der das Skelett das Täfelchen mit der Aufschrift Temperamentum Deliciarum hält, sind sichtbar. Auf dem Kopf trägt der Knochenmann ein weißes Tuch und um die Schultern einen schwarzen Umhang mit weißen Punkten. In Erinnerung an das Memento mori ruft das Bild zur Bändigung und Maßhaltung im Leben auf.

Das Jüngste Gericht stellt der Maler als tröstlichen Läuterungsort nach dem Tod dar. Es zeigt einen von Flammen umringten nackten Mann in Ketten, der mit flehend erhobenen Händen im Fegefeuer betet. Trotz Tränen schaut er uns angstfrei und zuversichtlich an. Der Leitspruch lautet Stimulus Poenitentium als Hoffnung, durch die Buße vor das Jüngste Gericht treten zu können und gerettet zu werden.

Das Höllenbild mit dem Libidinum Remedium als Mittel gegen die Leidenschaft stellt die verdammte Seele durch einen nackten Mann mit funkelnden Augen und struppigem Haar dar, der sich aus Reue selbst in den Arm beißt und von zwei langen Schlangen bedrängt wird.

Schlussendlich das Himmelsbild mit der glücklichen Seele als Votum Christianorum, bestem Christenwunsch, mit einem verklärt in den Himmel schauenden Jüngling in hellblauem Mantel: Durch die Helligkeit des Bildes, die blonden Locken, den Haarschmuck als Krone und die Strahlen um den Kopf sieht er wie eine Heilige aus.

Maria Theresia gefielen aber die zwei angsteinflößenden Bilder am besten. Beim Tod liebte sie die dunklen Farben und den Lichteinfall auf den Schädel. Außerdem gefiel ihr der Gedanke, dass der Tod alle Menschen gleich behandelt und es von jedem selbst abhängt, was anschließend mit ihm geschehen würde. Bei der Hölle mochte sie die intensive rote Farbe des Bildhintergrunds und die Schlangen, die Köpflein wie kleine Rehkitze hatten. Sie hatte sich vor Schlangen nie gefürchtet, denn sie hatten ihr nie etwas getan und waren außerdem wunderschön.

Franz Metz war mit Pfarrer Jenner befreundet gewesen und hatte nach der Errichtung des Klosters auch Altarbilder für die Klosterkirche und Dekorationen in den Zellen gemalt. An den Wänden des Innenhofs bzw. des Blumengärtleins mit Brunnenhaus zwischen der Klosterkirche und dem Wohntrakt der Schwestern schuf Franz Metz ein emblematisches Kunstwerk aus Wort und Bild zu alttestamentarischen Texten, wie zum Beispiel dem Hohelied Salomos. Diese Szenen entzückten Maria Theresia dermaßen, dass sie bei deren Anblick in eine Art Trance verfiel. Hierzu wurde in der Klosterbibliothek ein Exemplar des Werkes Pia Desideria des Jesuiten Hermann Hugo aufbewahrt, worin Holzschnitte mit Motiven des mystischen Verlangens der geweihten Jungfrauen nach ihrem Bräutigam abgebildet waren. Dieses Buch wurde für Maria Theresia zum Quell all ihrer frommen Wünsche hinsichtlich ihres geliebten Bräutigams: des Sehnens, Suchens, Findens und Lobpreisens. Sie wollte wie die heilige Kümmernis alles auf sich nehmen, um einzig und allein ihrem Bräutigam zu gefallen. Gleich dem armen Spielmann kniete sie oft vor dem kleinen Bild mit der gekreuzigten Heiligen, das auf Säben im Innenhof etwas versteckt hing, da die zum Christentum bekehrte Tochter des heidnischen Königs von der Kirche nie anerkannt wurde. Doch Maria Theresia verehrte die bärtige Frau und fühlte die sinnliche Kraft, die sie ausstrahlte. So wie Maria Theresia zwischen Tier und Mensch keinen Unterschied machte, gab es für sie auch zwischen den Geschlechtern keine Grenze.

Als für Maria Theresia das Postulat vorüber war, bat sie um Aufnahme ins Noviziat. Trotz angekündigter Aufhebungen der Frauenklöster schien auf Säben das Dekret der fürstbischöflichen Kanzlei von Brixen nicht allzu streng gehandhabt zu werden. Das aufklärerische Denken Josephs II. konnte 1786 auch die Feierlichkeiten zum ersten Jahrhundert des Bestehens von Kloster Säben nicht vereiteln. Noch weilten an die 50 Chorfrauen und Laienschwestern auf Säben.

Maria Theresia wurde im selben Jahr 1786 ins Noviziat aufgenommen, und in einem feierlichen Ritus während der Vesper fand die Einkleidung statt, an der ihr die benediktinische Ordenstracht, der Habit, überreicht wurde. Sie bekam als Untergewand eine Tunika, die mit dem Zingulum, einem Gürtel, zusammengebunden wurde, und ein Skapulier als Überwurf, das auch als Arbeitsschürze fungierte. Dazu kamen eine große schwarze Kukulle bzw. ein Chormantel mit Kapuze, dem Klima entsprechend aus grobem schwerem Wolltuch, für die Stundengebete und festlichen Anlässe. Zuallerletzt wurde ihr noch der weiße Velan, der Schleier, übergeben. Wie alle Verlobten mussten natürlich auch diese Jungfrauen als Novizinnen und später als Bräute Christi einen Schleier zum Zeichen der menschlichen Begrenztheit, die Größe Gottes zu erkennen, tragen. Abgesehen davon hatte sie bereits zu Hause zum Zeichen der Trauer mehrfach die napla getragen, ein weißes Kopftuch, das die Stirn vollständig verdeckte.

Während der zeremoniellen Aufnahme ins Noviziat erhielt Maria Theresia auch ihren Ordensnamen: Maria Benedikta von St. Kassian. Darin lag ein Verweis auf den Heiligen Benedikt, den Gründer des Nonnenordens auf dem Säbener Berg, der sich radikal von der Welt abgewandt hatte und dessen Regel die Grundhaltung des Horchens an den Anfang setzte und die Tugend des Schweigens hervorkehrte. Nach eingehender Lektüre der Heiligen Schrift und der Regeln des Heiligen Benedikt hatte sie sich diesen Namen innigst gewünscht, sodass die Äbtissin ihrem Wunsch nachgekommen war. In Gröden wurde zudem in St. Ulrich eine Reliquie von Benedikt von Nursia8 aufbewahrt, die Maria Theresia einige Male bestaunt hatte. Obwohl Benedikt in einer Zeit der Unzuverlässigkeit und Angst lebte, hatte er es gewagt, an das Gute im Menschen zu glauben.

Maria Theresia hatte ebenso Vertrauen in den barmherzigen Kern des Menschen, obwohl auch sie in einer durchwegs unsicheren Zeit lebte. Sei es durch die Gefahr der Aufhebung der Klöster, sei es durch die ständigen Bedrohungen der bayerischen und französischen Soldaten. Die zusätzliche Bezeichnung von St. Kassian hatte die Ehrwürdige Mutter für Maria Theresia ausgesucht, da sie mit dem Namen des legendären ersten Bischofs auf Säben ihre rätischen Wurzeln und ihren Wissenshunger in Erinnerung rufen wollte.

Bedenken hatte Maria Theresia, nun Schwester Benedikta, keine gehabt, sich nach dem Probejahr endgültig für das Klosterleben zu entscheiden. Der Gedanke an den Makel, der ihr im Fall eines Abspringens in den Augen ihrer Verwandtschaft haften geblieben wäre, hatte sie dabei keinen Augenblick lang beeinflusst. Sie verspürte bereits nach einem Jahr das Verlangen, nie mehr von der Welt draußen beunruhigt zu werden. Als obligatorische Aussteuer, die schon einige Tage nach ihrem Eintritt von einem Fuhrwerk herbeigebracht worden war, dienten eine Bettstatt, ein Tisch, ein Stuhl und ein kleiner Schrank sowie Bettwäsche, Handtücher und ein silberner Löffel. Nach dem Probejahr hatte die Familie dem Kloster als Mitgift noch 1500 Florentiner ausbezahlt. Das war für einen Bauern aus Gröden eine hohe Summe, die rund drei Jahresgehälter betrug. Doch Giuani Demëine Sanoner hatte mittlerweile eingesehen, dass dieser Weg für seine Tochter der richtige war, und die Familie war stolz auf Maria Theresia und froh, eine Fürbitterin zu haben.