WASTELAND – Schuld und Sühne

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Z serii: Wasteland #1
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Kapitel 4

Bei Tagesanbruch konnte Lucas den Handelsposten ausmachen. Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte: Zwei Gebäude und ein überdachter Außenbereich auf einer Anhöhe nahe der Grenze zwischen Texas und New Mexico. Die Nähe zum Staudamm von Red Bluff und dem Pecos River machten ihn zu einem idealen Umschlagplatz für Waren, mit Carlsbad und Loving im Norden in New Mexico und Pecos, Texas im Süden.

Lucas lebte auf einer 50 Hektar großen Ranch in der Umgebung von Loving, seit er nach dem Tod seiner Frau sein Haus in El Paso aufgegeben hatte. Bei gutem Wetter war der Handelsposten einen harten Tagesritt von der Ranch entfernt. Aber das Feuerwasser seines Großvaters, der White Lightning, und das eine oder andere Wildpferd, das Lucas einfangen konnte, brauchten einen Käufer, und das war der letzte Außenposten der Zivilisation bis runter nach Pecos. Das war zu einem Unterschlupf für Knast-Gangs heruntergekommen und dort gehörten Mord und Totschlag zum Tagesgeschäft.

Lucas drehte sich im Sattel, um nach der Frau zu sehen. Ihr Gesicht war wachsbleich, ein schockierender Kontrast zur braunen Haut ihrer Unterarme. Dass sie so lange durchgehalten hatte, war schon ein kleines Wunder, doch er hatte getan, was er konnte. Er hatte keine Asse mehr im Ärmel. Seine einzige Hoffnung war Duke, der Halsabschneider, der den Handelsposten leitete. Vielleicht konnte er etwas für ihre Brustwunde tun. Er genoss den Ruf eines Universalgenies und war beim Militär gewesen, bevor er seinen Laden eröffnet hatte. Er kannte sich vermutlich besser als Lucas mit Schusswunden aus.

Er brauchte noch eine weitere Stunde bis zum Handelsposten und als er näherkam, erkannte er anerkennend, dass die Felsen zu beiden Seiten erst mit roter, dann mit gelber und schließlich mit weißer Farbe markiert worden waren. Sie unterteilten das Areal in Zonen von jeweils einhundert Metern, sodass man die Entfernung leichter abschätzen konnte, wenn der Posten angegriffen wurde. Das war in der Vergangenheit schon mehrfach geschehen. Herumziehende Gangs hatten es mit einem leichten Ziel verwechselt, da sie nicht wussten, dass Dukes Männer alles Ex-Militärs waren, kampferprobt und tödlich wie Skorpione. In letzter Zeit war es relativ friedlich gewesen, nachdem Duke sich den Ruf erworben hatte, ein Mann zu sein, mit dem man sich besser nicht anlegte. Außerdem hörte man Geschichten, dass man hier eine Menge verbotener Dinge kaufen konnte, wenn man die Tauschware dafür hatte.

Seit dem Kollaps basierte Handel wieder auf Tauschgeschäften. Duke verlangte fünf bis zehn Prozent vom Warenwert für die Geschäfte in einem sicheren Umfeld. Und er war die letzte Hoffnung für die Verkäufer, deren Waren keinen Interessenten fanden. Bei ihm konnte man Waren gegen Gold und Silber oder andere Wertgegenstände eintauschen. Zudem verfügte er über ein Waffenarsenal, das ein Bataillon Marines neidisch gemacht hätte, über Tanks mit gefiltertem Wasser und über Nahrungsmittel aus heimischem Anbau, kurz gesagt alles, was man nur begehrte.

Das machte ihn allerdings auch zu einem Ziel für Überfälle. Lucas schmunzelte, als er sich den Eisentoren des Postens näherte. Man hatte zusätzlich Stahlplatten aufgeschweißt, um sie kugelsicher zu machen. Er winkte dem Mann zu, der es sich im Schatten hinter den Sandsäcken gemütlich gemacht hatte: Clem, einer von Dukes Leuten, hatte Wachdienst.

»Wie ist die Lage?«, rief Lucas hinüber.

»Ziemlich gut«, antwortete Clem und winkte zurück.

»Danke, dass du nicht gleich losgeballert hast.«

»Keine Ursache. Hab dich doch auf eine halbe Meile erkannt«, sagte Clem und klopfte auf ein altes Teleskop, das auf einem Dreibein montiert war.

Lucas bemerkte die auffällige Mündungsfeuerbremse eines Barrett Scharfschützengewehrs Kaliber .50, die zwischen den Sandsäcken hervorlugte. Er hatte keinen Zweifel, dass Clem, hätte er ihn als Gefahr betrachtet, leicht aus einem Kilometer Entfernung hätte ausschalten können. Die Idee war, den Ärger zu beseitigen, bevor er in Schussweite kam. Zu viele Waffenlager waren geplündert und zu viele Waffen der Nationalgarde zurückgelassen und später eingesammelt worden. Diese Waffen waren jetzt im Umlauf und deshalb ließ man keinen Fremden nahe an sich heran. Zählte man die Panzerfäuste und Granaten hinzu, die man bei den mexikanischen Kartellen kaufen konnte, sowie automatische Waffen aller Art, dann war Vorsicht die Mutter der Porzellankiste.

Clem deutete auf die Trage. »Wen hast du da drauf?«

»Eine Frau. Verletzt. Ist Duke in der Nähe?«

»Klar doch. Aber vermutlich ziemlich schlecht drauf. War spät gestern Nacht.«

Duke trank gerne mal einen. Je öfter, desto mehr, wie Lucas wusste, denn der Händler war ein großer Freund von Großvaters Elixier. »Sie braucht dringend Hilfe.«

»Wie schlimm hat es sie erwischt?«, fragte Clem.

»Ziemlich übel.«

Der rechte Torflügel öffnete sich und Clem nickte Lucas zu, als dieser hindurchritt. »Kannst dein Pferd da bei der Tränke anbinden«, sagte er.

»Muss auch gefüttert werden«, gab Lucas zurück.

»Alles hat seinen Preis.«

»Dachte ich mir schon.« Er zügelte Tango, der auf der Stelle tänzelte. »Ich könnte Hilfe gebrauchen, um sie ins Haupthaus zu tragen.«

»Die Jungs sind drin. Helfen dir sicher. Ich muss hier auf Posten bleiben. So sind die Regeln.«

Lucas band Tango an einen Pfosten und das Pferd begann gierig zu saufen. Lucas nahm die Stufen zu dem Backsteingebäude hinauf und klopfte an die Stahltür. Zu seiner Linken sah er eine Anordnung von Solarpaneelen in der Sonne glänzen, die so hinter einer Schutzwand im Innenhof aufgestellt waren, dass sie den ganzen Tag möglichst viel Sonne einfingen.

Die Tür öffnete sich und einer von Dukes Männern musterte ihn. »Was ist?«

»Ist Duke schon wach?«

»Kann sein. Wer fragt?«

Lucas' Augen verengten sich. Er hielt dem Blick des Mannes stand. »Bist wohl neu hier?«

»Stimmt. Na und?«

»Sag ihm, dass Lucas da ist. Hab eine verwundete Frau dabei, die Hilfe braucht.«

Die Tür knallte hinter dem Mann zu. Zwei Minuten später erschien Duke auf der Schwelle, mit blutunterlaufenen Augen über dicken Tränensäcken. Sein strohiges Haar und die rote Gesichtsfarbe erzählten einem auf den ersten Blick seine gesamte Lebensgeschichte.

Lucas Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Wohl vom Blitz getroffen oder was?«, fragte er.

»Unsinn. Ich hab nur ein wenig meditiert«, antwortete Duke mit einer Stimme wie Sandpapier. »Was ist los? Doug erzählte, du hättest eine Dame in Not?«

Lucas beäugte ihn skeptisch. »Kriegst du das denn überhaupt hin?«

»Allzeit bereit. Ist mein zweiter Vorname.« Duke blickte an Lucas vorbei auf die Trage, drehte den Kopf und brüllte ins Innere des Gebäudes hinein: »Doug! Aaron! Helft mir, die Frau ins Esszimmer zu bringen. Macht schon, Tempo!«

Der Mann, der an der Tür gewesen war und ein klein gewachsener, tonnenförmiger Afroamerikaner, den Lucas als Aaron erkannte, drängten sich an ihm vorbei und liefen zu der Frau hinüber. »Sachte, Männer«, warnte Lucas und sah mit Duke dabei zu, wie sie ins Gebäude getragen wurde.

Duke winkte Lucas heran. »Kannst gleich mit reinkommen. Ich nehme an, du hast ein paar Sachen im Tausch für meine Hilfe?«

»Klar doch.«

»Dann sag ich mal: Mi casa … und der ganze Scheiß.«

Lucas folgte Duke ins Esszimmer. Aaron und Doug hatten die Frau auf einem großen, rechteckigen Holztisch abgelegt. Duke schnippte mit den Fingern. »Bring mir das Vergrößerungsglas und eine von den tragbaren LED-Lampen«, befahl er Doug.

Doug, dessen Arme mit Militärtattoos übersät waren, nickte und eilte wortlos davon.

Lucas räusperte sich. »Neuer Mann?«

Duke nickte, ohne die Augen von der Frau zu nehmen. »Solomon hat ins Gras gebissen.«

»Eine Schande. Ich mochte ihn. Wie denn?«

»Schlangenbiss«, sagte Duke kopfschüttelnd. »Der Junge war nie der Hellste.«

Doug kehrte mit einer Arbeitsleuchte auf einem Stativ und einem riesigen Vergrößerungsglas zurück, das an einem olivgrünen Gelenkarm befestigt war. Duke nahm es ihm ab, klemmte es an der Tischplatte fest und deutete dann auf ein Verlängerungskabel in der Ecke. Doug schloss die Lampe an und der ganze Raum wurde mit ihrem hellen, weißen Licht geflutet.

Lucas blinzelte. »Die Batterien sind noch gut, wie ich sehe.«

»Tagsüber betreiben wir alles direkt über die Paneele. Verbraucht ja auch fast nichts.«

»Clever. Meine laufen auch noch.«

»Wir sollten noch etwa drei Jahre plus X aus den Batterien herausquetschen, denke ich«, erklärte Duke. »Bis dahin ist das Stromnetz längst wieder in Ordnung.«

Beide Männer grinsten bei der Bemerkung.

»Das erzählen sie uns doch schon mindestens seit fünf Jahren«, sagte Lucas.

»Angeblich waren wir nie dichter dran als jetzt. Ich habe gehört, die Verantwortlichen hätten DC wieder am Netz. Oder einen Teil der Stadt.«

Lucas hob eine Augenbraue. »Ist das bestätigt?«

»Ein kleiner Vogel hat es einem anderen zugezwitschert, das wiederum hat ein Kerl gehört, der es dann mir erzählt hat.«

Eine der Legenden im Hoffnungsszenario der Überlebenden war, dass irgendjemand die Ordnung wiederherstellte, sodass die Regierung das Land wieder zum Laufen bringen konnte. Allerdings ignorierten sie dabei die Tatsache, dass die Regierung aus Menschen und nicht aus Superhelden bestand, von denen die meisten noch nicht einmal die eigentliche Arbeit machten. Doch die fleißigen Arbeiter, die wussten, wie man ein Kraftwerk am Laufen hielt, wie man eine Turbine reparierte oder wie man die Leute davon abhielt, die Kupferkabel der Stromleitungen zu stehlen, hatten es einfach sattgehabt. Die Menschen, die man sonst davon überzeugen konnte, auch dann noch unentgeltlich LKWs und Züge mit dem Notwendigsten zu fahren, wenn bereits eine Seuche wütete und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, hatten ihren Unwillen deutlich gezeigt: Sie waren stattdessen zu Hause geblieben und hatten ihre Familien beschützt.

 

So einen Schwarzen Schwan, so genannt, weil es sich um ein unvorhersehbares Ereignis handelte, in diesem Fall eine Kombination aus einer Supergrippe – wobei es keine Rolle spielte, ob sie von Flüchtlingen, illegalen Migranten oder Kriegsheimkehrern eingeschleppt worden war – und einem globalen Finanzcrash, hatte niemand vorhergesehen. Dafür hatte es keinen Notfallplan gegeben. Und als es dann geschah, war die Zivilisation schneller zerfallen, als man es je für möglich gehalten hätte.

Trotzdem verging keine Woche, in der nicht irgendjemand aus zuverlässiger Quelle gehört hatte, dass irgendwo anders alles längst wieder in Ordnung war und die Männer in den schwarzen Anzügen verzweifelt daran arbeiteten, die Nation wiederherzustellen.

Lucas hatte vor langer Zeit erkannt, dass es sinnlos war, auf eine Rückkehr zur Normalität zu hoffen, jedenfalls nicht in seiner Lebensspanne. Eigenständigkeit und Selbsterhaltung waren das Gebot der Stunde. Radiomeldungen rund um den Globus zeigten, dass kein Land ungeschoren geblieben war: Europa lag in Ruinen, Russland war ein Friedhof, Asien und der Mittlere Osten waren Katastrophengebiete. China hatte in einem halbherzigen Versuch gewagt, in den ersten Tagen nach dem Kollaps in Japan einzumarschieren, war jedoch eingeknickt, als die USA mit dem Einsatz von Kernwaffen gedroht hatten. Innerhalb von Wochen hatte das alles keine Rolle mehr gespielt – mittlerweile lag jeder im Sterben oder war zu krank, um noch zu kämpfen.

Hungersnöte wüteten in Indien und Pakistan, die Sterblichkeitsrate in China kletterte auf fast 60 Prozent, weil es nicht genügend Krankenhäuser gab, und bald wusste man nicht mehr, wie man die Leichenberge entsorgen sollte. Von der Einhaltung von Recht und Ordnung ganz zu schweigen.

Deshalb war der Gedanke, dass diese Idioten in Washington sich endlich zusammengerissen und wirklich etwas auf die Reihe bekommen hatten, nur ein Wunschtraum. Lucas konnte über solchen Schwachsinn nur mit den Augen rollen. Jeder, der sich an diesen Strohhalm klammerte, dass exakt die Bürokraten, die die Katastrophe nicht kommen sahen, wirklich mehr auf die Reihe bekamen, als ihre eigene Inkompetenz zu beweisen, musste komplett weltfremd sein. Besonders deshalb, weil die gesamte Infrastruktur längst zusammengebrochen war.

Es war besser, sich zusammenzureißen und selbst das Nötige zu tun, um am Leben zu bleiben, statt an solche Märchen zu glauben. Wenn der Kollaps eines bewiesen hatte, dann war es Folgendes: Der größte Teil der Menschheit war unfähig gewesen, sich der harten Realität zu stellen. Sie waren abhängig von dem, was sich Zivilisation schimpfte und doch nur eine Art Sozialstaat war, der sich scheinbar um alle Probleme kümmerte.

Als der Staat es dann nicht mehr hinbekam, wie schon zuvor bei regionalen Naturkatastrophen – zum Beispiel bei dem Hurrikan, der New Orleans von der Landkarte gefegt hatte – konnte sich Lucas nur noch über die große Anzahl an Menschen wundern, die es komplett unvorbereitet traf.

Duke rückte die Lampe zurecht, bis das Licht auf die Frau fiel, und begann die Wunde zu begutachten. Er sah sich den Verband an und rief Aaron zu. »Bring mir das OP-Besteck. Alkohol, Gaze und das Brenneisen.«

»Bin sofort zurück«, antwortete Aaron und verschwand in einem der Hinterzimmer.

»Was ist ihre Geschichte?«, fragte Duke, während sie warteten.

Lucas zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Habe sie in der Wüste gefunden, neben ihren toten Freunden.«

»Sieht ziemlich heiß aus, oder?«

Lucas grunzte etwas Unverständliches. »Wie laufen die Geschäfte?«

»Kann nicht klagen.«

Duke hatte den Handelsposten aufgebaut, nachdem das größte Chaos vorüber gewesen war, und war seitdem ganz gut damit gefahren. Dukes Regeln waren eigentlich ganz einfach: Er war ziemlich ehrlich, aber er fragte nicht, woher die Ware kam und sprach auch nicht darüber, woher er sie hatte. Seine Verschwiegenheit wurde geschätzt, allerdings nahm er sich dafür auch das Recht heraus, gewisse Deals abzulehnen.

Der Kurzwellenempfänger in der Ecke rauschte und verstummte dann wieder. Lucas sah zu ihm hinüber. »Irgendwas neues da draußen in der Welt?«

Duke lachte humorlos. Es klang wie ein raues Bellen. »Schwarze Helis. Die Russen kommen. Das Stromnetz wird bald in Ordnung gebracht. Ein Atomkraftwerk in Kalifornien hatte eine Kernschmelze und wir sind alle so gut wie tot. Such dir was aus.«

»Also der übliche alte Scheiß.«

»Genau.« Duke sammelte Gerüchte wie ein altes Fischweib und verbrachte Stunden damit, alle Funkfrequenzen abzusuchen, um mit anderen Überlebenden Informationen auszutauschen. Es war so etwas wie sein Hobby, aber er war tatsächlich auch einer der Ersten gewesen, die die Gefahr erkannt hatten, als der Kollaps begann. Die Medien hatten gern und oft gelogen, das Internet war im Namen der nationalen Sicherheit immer stärker zensiert worden und ehrliche Antworten waren rar. Man fand sie nur zwischen den Zeilen. Duke aber hatte Nachrichten aus dem ganzen Land von unabhängigen, gleichgesinnten Bürgern gesammelt, die sich schon Jahre im Voraus auf eine solche Katastrophe vorbereitet hatten und sich zu schützen wussten.

Als die ersten Opfer der Supergrippe in Asien und dem Nahen Osten zu beklagen waren, hörte er die Geschichten darüber von dem heimkehrenden Militärpersonal, das zu seinem Netzwerk gehörte. Und die Geschichten unterschieden sich erheblich von dem, was online oder in den Nachrichten zu finden war. Anders als frühere Grippepandemien hatte diese einen langsamen Infektionsverlauf mit zunächst milden, kaum erkennbaren Symptomen. Das erlaubte dem Virus, sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten, bevor jemand die Gefahr erkannte. Zu dem Zeitpunkt, an dem die heimischen Medien und das CDC schließlich bereit waren zuzugeben, dass die Sterblichkeitsrate des hochinfektiösen, durch die Luft übertragbaren Virus bei fast 40 Prozent lag, war es schon zu spät. Zwar überlebten letztendlich 60 Prozent der Erkrankten, aber selbst diese Glücklichen waren für zehn Tage bis zwei Wochen ans Bett gefesselt. Die Übertragungsrate lag bei fast 96 Prozent und nur eine verschwindende Minderheit entkam der Erkrankung dank einer angeborenen Immunität.

In den frühen Tagen der Seuche grassierten diverse Verschwörungstheorien: über ein Laborvirus, einen Angriff auf die Vereinigten Staaten als Teil eines Plans zur Reduzierung der Weltbevölkerung, den Versuch einer Übernahme der Welt durch eine Gruppe von Eingeweihten. Besonnenere Stimmen erinnerten daran, dass so ziemlich alle einhundert Jahre irgendein Virus auftauchte, der dann einen Großteil der Weltbevölkerung auslöschte. Die letzte große Pandemie war die Spanische Grippe gewesen, die quasi den Ersten Weltkrieg beendet hatte, weil beide Seiten zu krank zum Kämpfen gewesen waren. Sie hatte in dieser Zeit, noch vor Erfindung der zivilen Luftfahrt, zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung getötet.

Doch so schlimm die Supergrippe auch gewesen war, es war letztendlich der Zusammenbruch des Finanzsystems und des Rechtsstaats gewesen, das weltweit alles zum Einsturz brachte. Anders als im Jahre 1918 war das globale Finanzsystem wegen unregulierter Derivatgeschäfte viel zu stark vernetzt. Die riesigen US-Banken hielten Papiere von europäischen und asiatischen Banken im mehrstelligen Billionenbereich – und umgekehrt. Das bedeutete: Wenn auch nur ein Dominostein in der Reihe fiel, würde er alle anderen mitnehmen. Da die führenden Industrienationen von der Grippe außer Gefecht gesetzt waren, wurden Kredite in Höhe von hunderten Billionen Dollar fällig und wie in einer Kaskade war plötzlich jede Firma und jede Bank auf dem Planeten zahlungsunfähig, weil sie überschuldet war. Nachdem das Vertrauen erst einmal erschüttert war, brach der nächste Pfeiler der modernen Finanzsysteme in sich zusammen: Der Staat wurde zahlungsunfähig, nachdem die US-Pfandanleihen über Nacht wertlos geworden waren. Die Zentralbanken warfen die Druckerpressen an, in dem hoffnungslosen Versuch, dem Verfall noch entgegenzuwirken, doch das führte nur zu einem Vertrauensverlust in die eigene Währung. Die folgende Hyperinflation ließ selbst Zimbabwe wie einen Musterschüler in guter Haushaltsführung aussehen.

Als die Banken geschlossen blieben, die Kreditkarten nicht mehr funktionierten und niemand mehr Bargeld annehmen wollte, funktionierte gar nichts mehr, nicht einmal das Militär. Niemand war mehr bereit, für wertloses Papier zu arbeiten, das nur auf den leeren Versprechungen eines bankrotten Staates basierte.

Als der Preis für eine Gallone Benzin innerhalb von zwei Wochen von drei über dreißig auf dreihundert Dollar kletterte, brach der Glaube an die Fiat-Währungen und an die hochverschuldeten Staaten endgültig zusammen. Dieser Glaube aber war das Einzige, was das System über Generationen am Leben erhalten hatte.

Die Amerikaner mussten schnell feststellen, dass ihr sogenannter Reichtum ein recht fragiles Konstrukt war, das sich binnen weniger Tage in Luft auflösen konnte. Entsetzt sahen sie dabei zu, wie sich ihre Ersparnisse als Trugbild entpuppten. Und das geschah auch in jedem der anderen Länder der Welt, die alle vom selben Kartell vernetzter, privater Banken abhängig waren und die ihren Bürgern eingeredet hatten, dass wertloses Papier ein guter Gegenwert für ihre Arbeitskraft und ihren Landbesitz wäre. Als in den Städten Proteste aufflammten, was an der West- und an der Ostküste begann und sich ins Inland ausbreitete, waren die Behörden schon nicht mehr in der Lage, die Kontrolle aufrechtzuerhalten. Was zunächst nur kleine Aufstände in Baltimore, Los Angeles und New Orleans gewesen waren, wurde zu einer landesweiten Katastrophe, als die Verzweifelten sich gegeneinander wandten, in der Erkenntnis, dass Überleben eben kein Kinderspiel war.

Lucas wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, als Aaron mit dem OP-Besteck zurückkehrte.

»Wie gewünscht, Boss«, sagte Aaron mit einem Grinsen und legte es neben Duke auf den Tisch. Duke öffnete die überdimensionierte Plastikbox und holte eine Flasche White Lightning und eine verwirrende Ansammlung chromglänzender Instrumente heraus. Er platzierte eine Metallschale, die er großzügig mit Alkohol füllte, neben dem Kopf der Frau. Danach blickte er nachdenklich auf die Flasche, nahm zwei Schlucke und rülpste.

Lucas versuchte sich nichts anmerken zu lassen. »Bist du sicher, dass du es auf die Reihe kriegst?«

»Das werden wir bald wissen.« Dukes Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Aaron, ich brauche mehr Verbandszeug. Und was ist mit dem Brenneisen?«

Aaron nickte. »Bin sofort wieder da.«

Duke beschäftigte sich damit, Skalpelle, Zangen, Klammern, Spanner und eine Menge anderer Instrumente in Alkohol einzulegen, bevor er sich wieder Lucas zuwandte. »Wir sollten uns vorher die Hände waschen. Willst du mir assistieren?«

»Sag mir, was ich tun soll, und ich versuch' es«, antwortete Lucas.

»Also zuerst wollen wir mal den ganzen Dreck runterwaschen. Und dann zieh dir ein frisches Hemd an. Sie braucht nicht noch eine Infektion von dem ganzen Straßendreck.«

»Ich hab keine Klamotten zum Wechseln.«

»Keine Sorge, ich schon. Wir setzen es einfach auf deine Rechnung.« Duke sah ihn prüfend an. »Ich hoffe, du hast ein paar wirklich gute Sachen dabei, sonst belieferst du mich für den Rest deines Lebens mit White Lightning

»Hab ein halbes Dutzend Schnellfeuergewehre. Dazu etwa 1000 Schuss Munition. Und ein paar Handfeuerwaffen. Kein Grund zur Aufregung.«

»Was für Gewehre?«

»AR-15 und AK.«

»Zustand?«

»Besser als deine Leber.«

Duke verzog das Gesicht zu einem schmerzlichen Grinsen. »Ein Mann nach meinem Herzen.«

Lucas ahmte seinen Gesichtsausdruck nach. »Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.«