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9.



Der ziemlich große Enkplatz, der von einer mächtigen hellen Kirche mit zwei Türmen dominiert wurde, lag etwas zurückversetzt an der sehr belebten Simmeringer Hauptstraße. Rumpler kannte die Gegend von seinen früheren Einsätzen her, aber das Café Hagel selbst kannte er nicht. Es war eigentlich kein klassisches Café, eher das, was man früher gern als Espresso bezeichnet hatte, weil das moderner klang. Schon von außen verströmte es das Flair der Sechziger Jahre und kaum war Rumpler eingetreten, als sich für ihn dieser Eindruck noch weiter verstärkte. Über dem Tresen war ein Leuchtschild mit einer Werbung für Santora Kaffee angebracht, auf den Resopaltischen standen leicht verstaubte Kunstblumen und die Leuchten des Cafés waren aus Plexiglas. Trotz seines wenig einladend wirkenden Äußeren war das Café Hagel ziemlich gut besucht. Hier kannte wohl jeder jeden und bei Rumplers Eintreten blickten alle neugierig auf. Er ging zum Kellner, der hinter dem Tresen hantierte, einem mageren Mann mit einem leicht gekrümmten Rücken und schweren Augenlidern, der Rumpler nur ganz kurz taxierte und ihn dann sofort ansprach. „Is irgendwas net in Ordnung, dass die Polizei zu uns kommt?“



Als junger Polizeibeamter hatte Rumpler noch darüber gestaunt, mit welcher Treffsicherheit die Tätigkeit bei der Polizei ihm und seinen Kollegen speziell durch Kellner und Kellnerinnen zugeordnet wurde, mittlerweile aber kam ihm das völlig normal vor.



„Nein, nein, alles in Ordnung. Ich bin schon in Pension und treff mich hier mit Frau Locher.“



„Aber Sie waren bei der Polizei.“



Es war eine mit großer Sicherheit getroffene Feststellung, keine Frage.



„Ja.“



„Hab ich mir gleich gedacht. Da bleibt immer was zurück, ob Sie wolln oder nicht. Ich bring Sie jetzt zur Frau Locher.“



Rumpler folgte dem Kellner, der ihn zu einem in der Ecke des Lokals stehenden Tisch führte, an dem eine ältere Frau mit glanzlosem grauem Haar, deutlich eingekerbten Mundwinkeln und müden Augen saß. Ihre abgearbeiteten Hände, die sie vor sich auf dem Tisch liegen hatte, zitterten leicht. Rumpler begrüßte sie und zog seinen Ausweis hervor.



Sie winkte ab. „Is schon gut. Ich hab schon gsehn. Das passt schon.“



Rumpler, dessen Äußeres meistens vertrauenserweckend wirkte, sah, dass sie bisher nur ein Achtel Sodawasser, also vermutlich die billigste Konsumation auf der Speisekarte, vor sich stehen hatte. „Möchten Sie einen Kaffee oder vielleicht auch eine Kleinigkeit zum Essen dazu?“



„Eine Melange, bitte. Zum Essen mag ich nichts.“



Rumpler bestellte ihren gewünschten Kaffee und für sich sein übliches Vorsichtsgetränk in ihm unbekannten Kaffeehäusern – einen kleinen Espresso. Quasi zur Probe. Bevor er sich auf eine Melange einließ.



Noch bevor der Kellner das Gewünschte gebracht hatte, setzte sich Frau Locher ganz nach vorne auf die Sesselkante und sah Rumpler mit einer irritierenden Direktheit in die Augen. „Warum interessiern Sie sich für den Fall?“



„Ich war über zwanzig Jahre bei der Kripo tätig. Mit der Zeit entwickelt sich da ein Gefühl, ob ein Fall wirklich gelöst und damit auch abgeschlossen ist. Hier hab ich dieses Gefühl nicht.“ Rumpler hielt kurz inne, bevor er fortfuhr. „Ich glaub, den Zeitungen hat der Tod Ihres Sohnes“, er vermied ihr gegenüber das Wort Selbstmord, „ganz einfach in den Kram gepasst und sie haben eine Geschichte draus gemacht. Für mich sind das alles nur Spekulationen und ich hätt gern Gewissheit.“



Sie seufzte. „Das würd ich mir weiß Gott auch wünschen. Mein Bub hätt nie und nimmer wen umbracht, da bin ich mir ganz sicher, aber ich hab trotzdem so ein komisches Gefühl, weil er hat sich ja bei der Polizei und auch mit seinem Abschiedsbrief selbst beschuldigt.“



„Frau Locher, wenn ich mir einen Fall anschau, dann weiß ich nie, wie das ausgeht. Vielleicht kommt heraus, dass ihr Sohn tatsächlich was mit dem Verschwinden von Frau Tolser zu tun gehabt hat. Ich kann das nicht ausschließen.“



Sie schüttelte fast unwillig ihren Kopf. „Das versteh ich schon. Es kann natürlich sein, dass ich als Mutter blind bin für die Wahrheit. Es wär mir aber trotzdem recht, wenn Sie sich das Ganze noch einmal anschauen täten.“



„Wissen Sie vielleicht, wie Ihr Sohn Frau Tolser kennengelernt hat?“



„Ich glaub, das war in Oberösterreich oder Salzburg vor gut zwei Jahren. Mein Bub hat in den Ferien in einem großen Hotel als Aushilfskellner gearbeitet, weil er hat das Geld für sein Studium gebraucht. Frau Tolser war dort als Gast und da hat er sich halt in sie verliebt. Sie war ja wirklich sehr hübsch. Er hat mir damals ein paar Fotos von ihr gezeigt und wie sie verschwunden ist, waren auch Bilder von ihr in den Zeitungen.“



„Wie ist es eigentlich zur Trennung zwischen den beiden gekommen?“



„Ich glaub, es hat nach ungefähr zwei Jahren, die sie zusammen waren, einen ziemlichen Krach zwischen den beiden gegeben. Eigentlich wegen einem Schmarrn. Mein Bub hat Geld gebraucht, sie wollt es ihm geben und er hat gedacht, dass sie das nur aus Mitleid tut, und hat es nicht angenommen. Er konnte sehr stolz sein und furchtbar hart. Ich glaub, er hat ihr gesagt, dass er von ihr keine Almosen will oder so ähnlich. Sie hat sich anscheinend sehr darüber geärgert und ist gleich nach dem Streit mit einem Neuen, er hat Konrad geheißen, wenn ich mich richtig erinner, ausgegangen. Das hat mein Bub mitbekommen und ab da wars ganz aus mit ihm. Er hat nicht viel drüber gredt, schon gar nicht mit mir, aber ich glaub, die Trennung hat ihn furchtbar getroffen. Mir gegenüber war er ja eher verschlossen. Zu Haus hab ich ihn in dieser Zeit kaum gsehn. Vielleicht weiß der Alex mehr, der Alex Kucera. Das war sein bester Freund.“



„Glauben Sie, dass ich mit ihm sprechen könnte?“



„Ich denk schon. Er is ein Netter, der Alex, ein ganz junger Tischlermeister. Er hat seine Tischlerei ziemlich weit unten auf der Kaiserebersdorfer Straße. Ich ruf ihn an und werd ihm sagen, dass er mit Ihnen sprechen soll.“



„Danke. Wenn ich was herausfinden sollte, ruf ich Sie an.“



„Ich glaub nicht wirklich, dass das noch was bringt, aber Sie können es ja probieren.“



Rumpler hütete sich, dieser doch ziemlich resignativen Einschätzung zu widersprechen, um sie nicht herauszufordern und damit vielleicht sein ganzes Vorhaben zu gefährden.



„Das mach ich.“



Rumpler gab ihr eine Karte mit seiner Telefonnummer, verabschiedete sich von ihr, zahlte und ging, während sie noch im Lokal blieb, vielleicht, um dem Kellner noch etwas über ihn zu erzählen.



Er fuhr die Simmeringer Hauptstraße stadteinwärts. Früher hatte er diese Straße gemocht. Sehr. Es hatte dort eine ganze Reihe gestandener Wirtshäuser gegeben, die auf kreidebeschriebenen Tafeln mit gerösteter Leber, Beuschel mit Knödel und oft auch original Hauerweinen Gäste einluden. Zudem hatte es eine Reihe kleinerer Geschäfte gegeben und auch die eine oder andere Fabrik. Jetzt war die Straße von Wettcafés, Billigläden und Handyshops dominiert, die aus Rumplers Sicht alle dasselbe taten, so verschieden sie auch sein mochten, nämlich die Süchte der Menschen bedienen. Beim Übergang in den dritten Bezirk begann sich das Bild zu ändern und Rumpler atmete auf.



Zu Hause angekommen, wurde er, kaum dass er die Wohnungstüre aufgesperrt hatte, von Rosamunde zur Rede gestellt. Er hatte ihr nichts mitgebracht, das war nicht zu leugnen. Während er für sie zur Wiedergutmachung ein Stück tiefgekühlten Fisch aufwärmte, setzte sie sich auf ihren Platz in der Küche und überwachte seine Vorbereitungen mit strengem Blick. Als dann ihre Mahlzeit schließlich fertig vor ihr stand und verführerisch duftete, war es mit ihrem Groll vorbei und sie schlug sich den Bauch voll.



Kaum hatte Rumpler Zeit gehabt, sich einen Espresso, ausnahmsweise diesmal sogar einen doppelten, zu richten, als sein Mobiltelefon läutete.



Es war Frau Locher. „Herr Rumpler?“



„Ja, Frau Locher. Rumpler hier.“



„Hallo. Ich hab jetzt mit dem Alex Kucera gesprochen. Sie können ihn jederzeit anrufen.“ Sie gab ihm die Nummer durch.



„Danke, Frau Locher. Wenn ich etwas Neues in Erfahrung bringen sollte, meld ich mich bei Ihnen.“



„Ich glaub nicht, dass was rauskommt.“



Rumpler gab auch diesmal Acht, sich nicht von ihrer resignativen Stimmung anstecken zu lassen, und rief sofort Kucera an. Er musste sein Telefon ziemlich oft läuten lassen, bis sein Anruf beantwortet wurde. Sein Gesprächspartner war etwas außer Atem.



„Kucera“



„Guten Tag, Herr Kucera. Mein Name ist Rumpler, Johann Rumpler.“



„Ich weiß schon. Frau Locher hat Sie angekündigt. Sie wollen mit mir über den Franz sprechen.“



„Ja, genau. Vielleicht können wir uns treffen, wenns Ihnen recht ist in einem Kaffeehaus?“



„Wie schauts bei Ihnen morgen am späteren Nachmittag aus? Ich beginn morgen früher und wäre ab vier Uhr Nachmittag frei.“



„Bestens. Welches Kaffeehaus wär Ihnen denn recht?“



„Ich hab morgen noch was auf der Mariahilfer Straße zu erledigen und da würd für mich das Café Ritter gut passen.“



„Ausgezeichnet. Geht fünf Uhr für Sie? Und wie kann ich Sie erkennen?“



„Ich bring meinen Hund mit, einen Jack Russel Terrier. Er ist stark gefleckt und schaut aus wie der Hund vor dem Grammophon von His Masters Voice, wenn Sie das kennen. Und fünf Uhr passt sehr gut. Vielleicht verspäte ich mich auch, aber höchstens um ein paar Minuten.“



„Kein Problem. Dann bis morgen.“



„Bis morgen.“






*

 






10.



Rumpler freute sich über die Wahl des Kaffeehauses. Das Café Ritter hatte er zwar bei Weitem nicht so oft besucht wie das Café Rathaus oder das Sperl, aber nichtsdestotrotz war es für ihn eine ganz wichtige Wiener Institution, an der es überhaupt nichts zu ändern gab. Rumpler erinnerte sich, dass er eine Zeit lang Zeitungsartikel gelesen hatte, nach denen der Fortbestand des Café Ritter gefährdet war. Er hatte diese Meldungen nicht ohne Sorge verfolgt und ihr späteres Ausbleiben mit Erleichterung zur Kenntnis genommen.



Am nächsten Tag war Rumpler schon etwa zwanzig Minuten vor dem Termin im Kaffeehaus. Was er sah, beruhigte ihn sofort. Es war noch alles beim Alten. Rumpler bestellte eine Melange. Während er auf Alex Kucera wartete, dachte er an Ferdinand Weitel in einer unbestimmten Sorge, wohl weil der Obdachlosenmörder noch immer nicht gefasst war und die Polizei eigentlich auch noch keinerlei brauchbare Anhaltspunkte hatte. Objektiv gesehen war Weitel sicher weniger gefährdet, als andere Obdachlose, weil er einen Hund hatte, der ihn bei Gefahr warnen würde, aber was nützte das bei einem kaltblütigen, zu allem entschlossenen Mörder? Rumpler kannte solche Ängste noch aus seiner Aktivzeit, Ängste, die unerwartet und plötzlich aufstiegen wie Nebelschwaden und die die klare Sicht trübten. In seinen frühen Dienstjahren war er immer sehr energisch gegen solche Ängste vorgegangen, hatte sie ausdrücklich von sich gewiesen, sie quasi ausgesperrt, mit dem Ergebnis, dass sie in etwas veränderter Form oder zu einem anderen Zeitpunkt stärker als zuvor wiedergekommen waren. Erst Jahre später hatte ihm ein Gespräch mit seinem hoch verehrten, mittlerweile verstorbenen älteren Kollegen Anton Brunner geholfen, mit seinen Ängsten um Menschen, die ihm wichtig waren, anders umzugehen.



„Hans, die Angst musst reinlassen, damit sie wieder gehn kann“, hatte ihm Brunner damals gesagt.



„Wie meinen Sie das, Herr Brunner?“ Obwohl dieser Hans duzte, hatte Rumpler aus Respekt vor dem älteren Kollegen Sie zu ihm gesagt.



„Wennst die Angst aussperrst, strengst dich nur an – und das bringt doch nichts. Also lass sie rein, schau sie an und akzeptier einfach, dass sie da ist. Dann kannst sie auch wieder gehen lassen.“



Rumpler schreckte vor dieser Vorstellung zurück wie ein scheuendes Pferd. „Ich fürcht, ich werd die Angst dann nie wieder los, wenn ich sie erst reinlass.“



„Is schon klar. Probiers einfach aus. Es wird dir guttun.“



Und es hatte ihm gutgetan, das Gespräch mit Brunner, und vor allem der Rat, den er dabei erhalten hatte.



Rumpler blickte auf, als er aus dem Augenwinkel einen Mann mit Hund durch das Lokal gehen sah. Es war ein Jack Russel Terrier, genauer gesagt ein Parson Russel Terrier, ein für diese Hundeart eher hochbeiniger Typ. Er stand auf und ging Kucera ein paar Schritte entgegen. Bei der Begrüßung staunte Rumpler, der etwa einen halben Kopf größer als Kucera war, über dessen beinahe suppentellergroße Hände, die deutlich größer waren als seine eigenen.



„Danke, dass Sie gekommen sind, Herr Kucera.“



„Gerne.“



Rumpler hockte sich kurz auf den Boden, um auch den Hund zu begrüßen, hielt dabei aber etwas Abstand, um ihn selbst entscheiden zu lassen, ob er ihn kennenlernen wollte oder nicht. Er wollte. Wie schon zahlreiche Hunde vor ihm war auch er über Rosamundes Geruch an Rumplers Händen entzückt. Rumpler lächelte, stand wieder auf und sie gingen zu dem bei einem Fenster gelegenen Tisch, den Rumpler wegen des Hundes so ausgesucht hatte, dass weder Gäste noch Kellner daran vorbeigehen mussten.



„Sie kennen sich mit Hunden aus“, stellte Kucera fest.



„Wieso meinen Sie?“



„Wegen dem Tisch, den Sie ausgsucht haben. Er liegt so, dass der Hund nicht gstört wird, und ich glaub, dass das kein Zufall ist.“



„Da ist schon was dran. Ich hab zwar nur eine Katze und keinen Hund, aber ich versteh mich auch mit Hunden eigentlich sehr gut.“



„Das sieht man. Mein Artus war ja auch gleich interessiert.“



Sie gaben ihre Bestellung auf, wobei Rumpler, von seiner ersten Melange ermutigt, gleich eine zweite nebst zwei Buttersemmeln bestellte, während Kucera einen doppelten Espresso und ein großes Glas Leitungswasser nahm.



„Herr Kucera, ich weiß nicht, wie genau Sie Frau Locher über mich informiert hat. Ich bin ehemaliger Kriminalbeamter, schon seit ein paar Jahren in Pension und ich bin über die Zeitungen auf das Verschwinden von Frau Tolser aufmerksam geworden. Ich hab auch das große Interview von Frau Locher gelesen, in dem sie ihren Sohn gegen die Vorwürfe der Medien verteidigt hat. Für mich ist der Fall noch immer offen und so etwas lässt mir einfach keine Ruhe.“



Die Kaffeeschale verschwand fast zur Gänze in Kuceras Hand, als er sehr sorgfältig und bewusst den ersten Schluck machte. Dann sah er Rumpler ruhig und ein wenig nachdenklich an. „Ich glaub Ihnen das. Aber ich glaub auch, dass da noch mehr dahinter ist, was Sie mir aber nicht sagen können oder wollen.“



„Können Sie das akzeptieren?“



„Ja, das kann ich. Aber nur unter der Voraussetzung, dass Sie der Frau Locher nicht wehtun. Sie hat es schon schwer genug gehabt.“



„Darüber hab ich auch schon nachgedacht und auch mit Frau Locher gesprochen. Bei meiner Profession gibt es keine Sicherheit, ich kann nicht versprechen, was dabei herauskommt, aber ich glaub, sie hat das gut verstanden und ist damit einverstanden.“



Der Hund hatte sich mittlerweile unter dem Tisch einen Platz gesucht und seinen Kopf auf Rumplers linker Schuhspitze abgelegt.



„Herr Rumpler, was wollen Sie wissen?“



„Was war Franz Locher für ein Mensch?“



„Ein ziemlich schwieriger. Hochanständig, aber auch sehr selbstbewusst und stolz, trotz, oder vielleicht auch gerade wegen seiner finanziellen Nöte, dass es fast schon absurd war. Ich hab ihn im Gymnasium kennengelernt und wir haben gemeinsam maturiert, bevor ich zur Tischlerei gegangen bin und er begonnen hat, Psychologie zu studieren. Er wollt immer alles ganz genau ergründen und konnte nächtelang über etwas nachgrübeln, das ihn beschäftigt hat. Was aber immer wieder bei ihm durchgekommen ist, war sein Gefühl, für praktisch alles verantwortlich zu sein. Wenn seine Mutter einmal krank war, hat er gemeint, er sei daran schuld, oder eben auch zuletzt, als die Anita verschwunden ist, hat er sich selbst die Schuld daran gegeben.“



„Hat er einen großen Freundeskreis gehabt?“



„Nein, gar nicht. Er hatte gelegentlich Kontakt mit ein paar Studienkollegen, aber ich war eigentlich sein einziger Freund. Mit mir hat er auch noch gesprochen, als die Anita verschwunden ist, weil er hat sich damals furchtbar aufgeregt und wollte aber damit seine Mutter nicht belasten.“



„Was hat ihn damals eigentlich so stark getroffen? War es die Trennung von Frau Tolser?“



„Das natürlich auch. Aber ganz schwer war für ihn, dass sie sich gleich nach der Trennung mit diesem Konrad Kraufer getroffen hat. Der Franz hat ihn nicht wirklich gut gekannt, nur ein- oder zweimal getroffen, aber er war felsenfest davon überzeugt, dass er ihr nicht guttut oder womöglich sogar gefährlich für sie ist. Die Kraufers stinken ja vor lauter Geld und sie haben im vierten Bezirk, in der Nähe vom Belvedere, eine Wohnung. Wenn sich der junge Kraufer und die Anita dort getroffen haben, ist der Franz unten auf der Straße auf- und abgegangen, um auf sie aufzupassen, wie er gesagt hat. Ich wollt ihm das ausreden, aber ohne Erfolg, und er hat ja dann auch Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen, weil sich die Nachbarn aufgeregt haben, dass jemand in der Nacht ihr Haus beobachtet. Er wär ein Stalker, haben sie bei der Polizei gesagt, und er müsst froh sein, wenn er ohne Anzeige davonkommt. Er war ein paar Tage lang völlig verzweifelt und ist dann am Abend vor seinem Tod zu mir gekommen und hat gesagt, dass er die Anita nicht mehr erreichen kann. Bis dahin haben sich die beiden, obwohl sie sich doch so verkracht haben, gelegentlich ein SMS geschickt. Ich hab ihm gut zugeredet, wie einem kranken Ross, hab ihm auch noch vorgeschlagen, dass er bei mir übernachten kann, aber er hat sich verabschiedet und ist gegangen. Am nächsten Tag hat mich seine Mutter angerufen und gesagt, dass er sich umbracht hat.“



„Halten Sie es für möglich, dass er mit dem Verschwinden von Frau Tolser etwas zu tun gehabt hat?“



„Nein, ganz sicher nicht. Er hat sich zwar selbst beschuldigt, immer wieder, aber das war ja überhaupt ein Wesenszug von ihm, dass er sich für buchstäblich alles verantwortlich gefühlt hat.“



Eine Erinnerung an seine Gymnasialzeit stieg in Rumpler auf, das Bild eines riesenhaften Mannes aus der griechischen Mythologie, der die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern trug. Der Riese Atlas.



„Hat er eigentlich irgendwelche Aufzeichnungen gemacht, vielleicht so etwas wie ein Tagebuch?“, fragte Rumpler einer plötzlichen Eingebung folgend.



Das Zögern in der Antwort seines Gegenübers war nur minimal, bevor dieser verneinte, aber doch lange genug, um seine volle Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Er beschloss, das Thema offen anzusprechen. „Herr Kucera, ich respektiere, dass Sie Ihren verstorbenen Freund schützen wollen. Ich gebe Ihnen aber auch zu bedenken, dass etwas, das Sie vielleicht als für ihn belastend empfinden, eventuell eine neue Sicht auf den Fall ergeben kann. Ich halte es für möglich, dass er Ihnen vor seinem Tod etwas übergeben hat. Es liegt ganz bei Ihnen, ob Sie es mir anvertrauen wollen.“



„Ich glaub, Sie waren wirklich gut in Ihrem Beruf, Herr Rumpler“, sagte Kucera entwaffnet, griff in seine Tasche, zog ein mittelgroßes, schwarz gebundenes dünnes Buch heraus und gab es Rumpler.



„Danke für Ihr Vertrauen.“



„Der Franz hat mir das Buch am Abend vor seinem Selbstmord gegeben und gesagt, ich soll es nehmen. Bei sich zu Hause wollt er es nicht mehr lassen, damit seine Mutter nicht vielleicht zufällig darauf stößt und sich dann noch mehr Sorgen macht.“



„Haben Sie es gelesen?“



„Ja, aber ich hab nicht alles verstanden, und es gibt tatsächlich einige Stellen bei seinen Eintragungen, die den Franz für Außenstehende mit Sicherheit verdächtig gemacht hätten.“



„Ich werd sorgfältig damit umgehen und Sie bekommen es von mir wieder zurück.“



„Danke.“



Rumpler schlug vor, die Rechnung zu übernehmen, was Kucera aber dankend ablehnte. Nachdem er sich von ihm verabschiedet hatte, machte er sich zu Fuß auf den Heimweg. Er ging zunächst die Mariahilfer Straße ein Stück stadteinwärts und bog in die Kirchengasse ein, wobei er mit Befriedigung feststellte, dass es das kleine Uhrengeschäft an der Ecke immer noch gab, jenes Geschäft, in dem Rumplers Großvater vor etwa fünfzig Jahren für ihn seine Firmungsuhr gekauft hatte, eine schlichte Stahluhr der Marke Omega mit Handaufzug, aber immerhin schon mit Datum und Zentralsekunde. Rumpler trug diese Uhr immer noch, obwohl das jährliche Service, das er in einer Fachwerkstätte machen ließ, ihn in Summe schon ein kleines Vermögen gekostet hatte.



Als sich die Kirchengasse bei der Siebensterngasse zu einem kleinen Platz öffnete, erinnerte er sich an den nahe gelegenen Häuserdurchgang, der vom sogenannten Adlerhof bis zur Burggasse führte. Dieser Durchgang, den er schon sehr genau kannte, faszinierte ihn nach wie vor. Er führte über eine erstaunlich lange Reihe von Innenhöfen, die aber nicht auf gleich hohem Niveau lagen, sondern gegeneinander etwas abfielen und durch Stufen miteinander verbunden waren. Am jeweiligen Ein- und Ausgang gab es Torbögen, die gegen Beschädigungen mit den heutzutage nur mehr ganz selten zu sehenden steinernen Kugeln geschützt waren, und diese Torbögen ermöglichten spannende Durchblicke.



Rumpler ging ganz langsam und bewusst, blieb auch manchmal kurz stehen oder machte einen Schritt zur Seite und kostete die vielfältigen perspektivischen Möglichkeiten, die sich vor ihm auftaten, voll aus. Als er schließlich in der Burggasse angekommen war, fühlte er sich schlagartig ernüchtert. Er fragte sich, ob er bei seinen aktuellen Nachforschungen nicht vielleicht auf Abwege geraten war. Sein Ausgangspunkt war klar genug. Es ging um die Möglichkeit von Informationen über die Obdachlosenmorde, und zwar solchen Informationen, die der Polizei nicht zugänglich waren. In dieser Frage war er zwar in Rudi Schätters seltsame Welt ein wenig vorgedrungen, hatte aber ihre zahlreichen Rätsel beileibe nicht gelöst. In der Frage, die ihn sehr stark beschäftigte, ob nämlich zwischen Anita Lochers Verschwinden und den Obdachlosenmorden ein Zusammenhang bestand, war er überhaupt nicht weitergekommen. Er hatte zwar bei sich zu Hause jene ominöse Mappe mit den Fotos liegen, die ihm diesbezüglich vielleicht Klarheit schaffen konnte, aber er hatte sie Rudi Schätter noch nicht vorgelegt.

 



Für Rumplers Zuwarten gab es durchaus vernünftige Gründe. Schätters Vertrauen musste erst Schritt für Schritt gewonnen werden, bevor er dieses Wagnis auf sich nehmen würde,

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