Löwenfisch

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9.

Nachdem die Herren sich voneinander verabschiedet hatten, war ihre Stimmung diametral entgegengesetzt. Während Moser noch immer heftig mit der Tatsache haderte, dass er als Kriminalist trotz eines gewissen Verdachts keine offizielle Untersuchung vornehmen konnte, fühlte sich Rumpler wie in alten Zeiten vom Jagdfieber gepackt, geradezu beflügelt. Er hatte wieder einen Fall.

Als er bei Rosamunde eintraf, glücklicherweise mit etwas faschiertem Kalbfleisch versehen, übertrug sich seine angenehm aufgeregte Stimmung augenblicklich auch auf sie. Rosamunde erkletterte in der Küche ihren Beobachtungsplatz, überwachte Rumplers Vorbereitungen und genoss dann ihre vorzügliche Mahlzeit.

Rumpler ging ins Wohnzimmer und machte sich auf die Suche nach dem Kistchen mit den von ihm über Jahrzehnte gesammelten Visitenkarten, in dem er auch eine Karte des Yeti vermutete. Er rechnete zwar damit, dass sich dessen Telefonnummer mittlerweile geändert haben würde, aber mit etwas Glück konnte die Adresse noch aktuell sein. Schließlich entdeckte er unter einem Stapel von Papieren das sorgfältig gearbeitete dunkelbraune Holzkistchen mit seiner alphabetischen Registereinteilung, sah aber nicht unter dem Buchstaben S nach, wo die Karte des Yeti, der eigentlich Bernhard Schaffer hieß, zu vermuten war, sondern blätterte kurze Zeit wahllos darin. Erinnerungen tauchten auf, auch der eine oder andere schon längst verstorbene Kollege wurde durch seine Karte für Rumpler wieder lebendig. Schon nach kurzer Zeit rief er sich aber zur Ordnung und blätterte die unter S abgelegten Karten durch. Tatsächlich, da war die Karte, zwar schon etwas vergilbt, aber noch immer sehr edel, aus vorzüglichem Karton hergestellt, mit erhabener Schrift, wie sie nur durch den Einsatz einer eigens gravierten Metallplatte möglich war. In der Zeit des Digitaldrucks ein wunderbares Relikt, wie Rumpler dachte. Die Karte wies eine Adresse im 19. Bezirk auf, mit einem Gassennamen, der ihm nichts sagte. Jetzt, wo er die Möglichkeit für die Kontaktnahme zum Yeti in Händen hielt, wehten ihn plötzlich doch leise Zweifel an, ob es wirklich richtig war, ihn aufzusuchen. Vielleicht war er ein schwerkranker Mann, der sich durch die Rumplersche Anfrage belästigt fühlen würde, oder, schlimmer noch, das früher untrügliche Gedächtnis des Yeti war altersbedingt geschwunden und jenem nebelhaften Durcheinander gewichen, das so oft als deprimierende Begleiterscheinung des Alterns auftritt.

Egal. Rumpler wollte die Möglichkeit, den legendären Yeti um Hilfe zu bitten, nicht außer acht lassen. Er beschloss, ihm ein kurzes Schreiben in den Briefkasten zu werfen, in welchem er ihn um Kontaktnahme bat. Rumpler brauchte ziemlich lange, bis er ein ihm geeignet erscheinendes Kuvert samt passender Karte gefunden hatte. Auch den Text schrieb er, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, zunächst nur probeweise auf einen Block – aus Respekt vor dem Yeti. Vor allem bei der Anrede zögerte er länger. Der Yeti hatte ihm seinerzeit bei seinem überraschenden Hilfsangebot das Du-Wort angetragen, das zu verwenden Rumpler aber durch etwa zwanzig kontaktlose Jahre fast wie eine Anmaßung vorkam. Schließlich gab er sich einen Ruck, schrieb trotz seiner Bedenken einfach Lieber Bernhard, ersuchte ihn um Kontaktnahme, ohne in irgendeiner Weise auf das Thema selbst einzugehen, und fügte seine Kontaktdaten hinzu. Er steckte die fertige Karte ins Kuvert, ohne es zuzukleben, stärkte sich noch rasch mit einem kleinen Espresso und machte sich auf den Weg in den 19. Wiener Bezirk – Döbling.

Das Navigationssystem seines Autos führte ihn in einen ihm kaum bekannten Teil von Döbling, in dem die Straßen immer schmaler und die Villen samt den sie umgebenden parkartigen Gärten immer größer wurden. Als er schließlich bei der auf der Karte angegebenen Hausnummer war, sah er, dass dort wie bei den meisten Häusern dieser Gegend kein Namensschild angebracht war. Rumpler beschloss, trotzdem den Versuch der Kontaktnahme zu wagen. Er hob die massive Klappe des in die Einfriedungsmauer eingelassenen Messingbriefkastens, registrierte die ebenso unauffälligen wie umfassenden Sicherheitseinrichtungen, sah durch das schmiedeeiserne Gartentor zwei belgische Schäferhunde, die ihn zwar nicht verbellten, aber umso genauer beäugten, und warf sein Kuvert ein. Eine Kamera bewegte sich unter leisem Surren. Man hatte ihn offensichtlich registriert. Eben als er sich umdrehte, um zu gehen, knackte die Gegensprechanlage. Er verharrte kurz und lauschte gebannt, fassungslos.

„Komm doch herein, Hans.“

Nahezu zeitgleich erschien ein junger, vermutlich arabischstämmiger Mann, der Rumpler entgegenging und ihn höflich begrüßte, nachdem er den Hunden signalisiert hatte, dass dieser ein willkommener Gast war. „Herr Schaffer erwartet Sie im Pavillon. Würden Sie mir bitte folgen?“ Seine gepflegte Sprache war praktisch akzentfrei.

Rumpler folgte seinem Führer über einen Kiesweg, der zunächst zwischen unglaublich präzise geschnittenen Hecken verlief und erst nach etwa zwanzig Metern den Blick auf den riesigen parkartigen Garten freigab. Auf der rechten Seite Rumplers lag eine Villa, die wohl im frühen 20. Jahrhundert erbaut worden war, mit großen, durch kunstvoll geschwungene Holzstege aufgelockerten Fensterflächen, während halb links ein stark mit wildem Wein bewachsener Pavillon stand, auf den sein Führer jetzt zusteuerte. Der Pavillon stand am Ufer eines kleinen Teichs, über den eine aufgewölbte Holzbrücke führte. Sie erinnerte Rumpler in ihrer schlichten perfekten Schönheit an japanische Gärten, die er einmal in Kyoto gesehen hatte, vor etwa zwanzig Jahren, als sein Chef plötzlich erkrankt war und er ihn auf einem internationalen Polizeikongress in Japan hatte vertreten dürfen.

An dem großen runden Marmortisch im Pavillon saß ein riesenhafter Mann, leicht vornübergebeugt, unbeweglich wie ein Berg. Der Yeti. Die beiden Hunde, die den Männern zunächst im Abstand von einigen Metern gefolgt waren, liefen ihnen voraus, schlank und beweglich, mit schwingenden Rücken. Hätte Rumpler nicht aus seiner Zeit bei der Kriminalpolizei die Wachsamkeit und unglaubliche Leistungsfähigkeit dieser Tiere kennengelernt, er hätte sie sicher unterschätzt. Der Yeti blickte auf, während er die Hunde zärtlich hinter den Ohren kraulte. Es war schwer, sein Alter zu schätzen, vor allem deshalb, weil seine tief liegenden Augen gleichzeitig große Ruhe und volle Konzentration ausstrahlten. Er war irgendwie alterslos.

„Schön, dass du da bist, Hans. Ich hab schon gedacht, du kommst überhaupt nicht mehr.“ Der Händedruck des Yeti war fest wie der eines jungen Mannes.

„Danke, dass ich zu dir kommen darf.“

„Ich hab dir doch damals vor …“ Der Yeti zögerte ganz kurz, bevor er fortfuhr. „… achtzehn Jahren gesagt, dass du zu mir kommen kannst, wennst was brauchst. Übrigens warst du in den letzten Jahren seit deiner Pensionierung bald noch erfolgreicher als vorher.“

„Manchmal stolper ich in einen Fall hinein und dann lässt er mich nimmer los.“

Der Yeti lachte. „Ich kenn das gut. Geht mir auch manchmal so. Aber bevor wir besprechen, was dich herführt, werden wir was trinken.“

Der junge Mann, der sich während der Begrüßung diskret im Hintergrund gehalten hatte, trat näher, um ihre Wünsche aufzunehmen. Er war dabei freundlich, aber zugleich auch auf wohltuende Weise selbstbewusst, ohne jeden Anflug von Devotheit. Rumpler ersuchte um einen doppelten Espresso, der Yeti nahm Grünen Tee. In einer Nische des Pavillons war die komplette Technik zur Getränkezubereitung untergebracht, so gut wie unsichtbar.

Der Kaffee begeisterte Rumpler mit seinen intensiven Aromen, er war mild und stark zugleich. Auf der Innenseite der Schale setzten sich deutliche Schlieren ab, die von dunklem Braun bis zu hellem Ocker reichten. Es tat ihm gut, hier mit diesem klugen alten Mann schweigend zu sitzen, einfach nur da zu sein und den Kaffee zu genießen. Nach ein paar Minuten kam der junge Araber wieder, mit einem kleinen Tablett handlich geschnittener, sehr sorgfältig gerichteter Gurkensandwiches.

Rumpler kannte diese klassische Begleitung der Tea Time nur aus alten Filmen und freute sich sehr über die nostalgische Jause. Noch immer aßen und tranken sie schweigend, in stillem Einvernehmen. Während der junge Mann das Geschirr abservierte, hatte Rumpler Gelegenheit, die in ihren Farben und Formen perfekt ausgewogenen Blumenbeete in der näheren Umgebung des Pavillons zu bewundern.

Schließlich ergriff der Yeti das Wort. „So. Jetzt können wir reden. Ich hab einen Vorschlag, Hans. Ich geb dir zu einigen Themen, die mich derzeit beschäftigen, ein paar Stichworte und du sagst mir, ob dich davon was interessiert.“

Rumpler öffnete für einen Sekundenbruchteil den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Er war etwas ratlos und hatte Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte sich Hilfe vom Yeti erhofft, zumindest einen guten Rat, aber da war wohl nichts zu machen.

Während der Yeti unmerklich lächelte, begann er zu erzählen.„Da ist diese Sache mit den Kunstwerken, Bildern vor allem, auch ein paar Skulpturen, ziemlich viel Geld im Spiel, Preismanipulationen, vielleicht sind auch ein oder zwei öffentliche Stellen beteiligt. Das ist das erste Thema.“

Rumpler begann sich einzugestehen, dass der Besuch beim Yeti ein Fehler gewesen war. Trotzdem behielt er aus Höflichkeit weiter seine Rolle als aufmerksamer Zuhörer bei.

„Dann ist da diese Geschichte mit einem internationalen Baukonzern, der auch bei uns in Österreich erstaunlich schnell Erfolg mit seinen Projekten gehabt hat, obwohl seine österreichischen Mitbewerber auf ihre Baubewilligungen eher lange warten müssen, und bei dem Konzern läuft es wie geschmiert. Auch das Aufkaufen von interessanten Objekten, vor allem von Grundstücken, klappt viel besser als bei den Mitbewerbern. Aber ich glaub, das ist auch nichts für dich. Du bist sehr lange nicht zu mir gekommen, obwohl du gerade in den letzten Jahren ein paar wirklich schwierige Fälle behandelt hast. Ich hab das ziemlich genau verfolgt. Wenn du jetzt doch zu mir kommst, dann ist in diesem Fall etwas anders als sonst und das macht dir großes Kopfzerbrechen.“

 

Rumpler horchte auf und der Yeti fuhr fort.

„Ich glaub, es geht um einen Verdacht, der sich direkt oder indirekt gegen jemand bei der Polizei oder im Innenministerium richtet. Sehr, sehr unangenehm. Du kannst dich nicht an deine ehemaligen Kollegen wenden, weil sie vielleicht selbst involviert sind.“

Mittlerweile starrte Rumpler den Yeti wie gebannt an, der seine Überlegungen fortspann.

„Kleine Schwachstellen gibt es immer bei der Polizei, hat es immer gegeben und wird es immer geben. Das ist nicht schön, aber es ist normal. Das Gesetz der großen Zahlen. Aber wegen so etwas würdest du nicht zu mir kommen. Das ist ein großer Fall.“ Der Yeti lehnte sich zurück und schloss die Augen, bevor er weitersprach. „Ich glaub, du kommst zu mir wegen der einzigen wirklich großen Geschichte, die ich derzeit verfolge, und bei der geht es um Drogen, genauer gesagt um Drogenrecycling.“

Nach einer längeren Pause, die Rumpler die Möglichkeit gab, seine Fassung wieder einigermaßen zu gewinnen, öffnete der Yeti seine Augen und blickte ihn an.

„Hab ich recht? Treffer?“

In seinem Gesichtsausdruck las Rumpler keine Frage, sondern Gewissheit. „Volltreffer.“

„Gut. Dann erzähl einmal, worum es genau geht und was das Ganze mit dir zu tun hat.“

Rumpler holte tief Luft. „Sonja, die Tochter meiner Lebensgefährtin Alma, betreibt mit ihrem Mann Max eine Firma für IT-Sicherheitsfragen.“

Der Yeti unterbrach ihn kurz. „Almas verstorbener Mann war Bildhauer?“

Rumpler nickte und der Yeti fuhr fort. „Ich hab die Alma vor ungefähr acht Jahren kennengelernt. Eine zauberhafte Person. Meine Frau und sie haben sich auf Anhieb sehr gut verstanden und sehen sich auch immer wieder.“

Gleichzeitig wies er, quasi zur näheren Erklärung, auf eine etwa einen Meter große Steinskulptur, die in einer gemauerten, mit wildem Wein überwucherten Nische stand – offensichtlich ein Werk von Almas verstorbenem Mann. Rumpler kam aus dem Staunen nicht heraus.

„Aber entschuldige, Hans, ich hab dich unterbrochen.“

Rumpler fuhr mit seinem Bericht fort. Als er zum tödlichen Absturz auf der Rax kam, blickte der Yeti kurz auf.

„Davon hab ich gar nichts gehört.“

„Es war auch nur eine ganz kleine Meldung in den Zeitungen über einen Bergunfall. Kein Verdacht auf Fremdverschulden. Ich hab aber noch ein bissl vor Ort recherchiert und dann auch mit einem Ex-Kollegen darüber gesprochen.“

„Wer war das?“ Die Frage des Yeti klang wesentlich schärfer, als sie beabsichtigt war.

„Ein gewisser Moser, Alois Moser, mit dem ich fast zwanzig Jahre zusammengearbeitet hab.“

„Moser, Moser.“ Der Yeti runzelte die Stirn. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. „Der Stinker!“

Rumpler lachte. „Genau.“

„Guter Mann. Großartiger Pistolenschütze. Ein bissl schnell manchmal, aber ganz in Ordnung. Und sonst weiß niemand bei der Polizei davon?“

„Nein, niemand.“

„Das ist gut. Schau drauf, dass das so bleibt. Das Ganze ist eine heikle Geschichte. Die Drogen, die von der Polizei aufgegriffen und beschlagnahmt werden, müssen ja nach einer gewissen Zeit unter Aufsicht vernichtet werden. Dafür haben wir früher immer nur Polizeibeamte eingesetzt. Dann hat irgendein Berater des vorherigen Innenministers die grandiose Idee gehabt, die diesbezüglichen Kosten zu senken, indem die Verwahrung und die gesicherte Vernichtung der Drogen an eine externe Firma ausgelagert wurden. Diese Firma ist natürlich nach allen Regeln der Kunst kontrolliert worden. Das neue Modell hat sich offiziell sehr bewährt. Es funktioniert wirklich gut, aus meiner Sicht fast zu gut. Inoffiziell hat es noch vor ein paar Jahren immer wieder Gerüchte gegeben, dass da was nicht ganz in Ordnung ist. In letzter Zeit hat man aber nichts mehr davon gehört. Es traut sich keiner mehr, etwas dagegen zu sagen. Insgesamt sind die Aufgriffe von Drogen seit der Einführung des neuen Modells angestiegen. Nicht schlagartig, aber doch, und auf längere Sicht wirklich signifikant. Damit hat die beauftragte Firma mehr Arbeit bekommen, als ursprünglich angenommen, und verdient natürlich auch wesentlich mehr. Also sind alle zufrieden und es gibt keinen Grund, an diesem Erfolgsmodell irgendwas zu ändern. Da will keiner als Nestbeschmutzer dastehen.“

„Ich versteh. Es ist alles in bester Ordnung und trotzdem stinkt das Ganze ein bissl.“

„Ja, das tut es. Ich mach dir einen Vorschlag, Hans. Heute ist Dienstag. Gib mir bis Anfang nächster Woche Zeit. Bis dahin werd ich nachdenken und auch das eine oder andere Gespräch führen. Am Montagnachmittag, sagen wir um drei, kommst wieder zu mir, dann geb ich dir Bescheid, ob ich dir in der Angelegenheit helfen kann.“

„Bestens, vielen Dank.“

„Hast noch Zeit für eine Runde im Garten, bevor du gehst?“

„Sehr gerne.“

Die Herren erhoben sich und der Yeti ging voran. Er hielt sich für sein Alter und sein Gewicht erstaunlich gerade. Die Rasenflächen hatten eine Qualität, wie sie sonst nur auf bestens gepflegten Golfplätzen anzutreffen war. Etwa zwanzig Meter vom Pavillon entfernt erreichten sie eine aus Natursteinen errichtete etwa zwei Meter hohe Mauer, die keinen Durchblick gewährte.

Als sie eine Zeit lang entlanggegangen waren und sich einem schmiedeeisernen Tor näherten, hielt der Yeti kurz an und drehte sich zu Rumpler um. Seine Augen leuchteten. „Jetzt zeig ich dir meinen geheimen Garten, Hans. Vor ein paar Jahren hab ich das Glück gehabt, dass das Nachbargrundstück verkauft worden ist und ich habs gleich gekauft. Jetzt wirst schauen!“

Und tatsächlich! Rumpler staunte wie ein Kind. Es war, als wären sie durch das Tor in eine andere Welt eingetreten, die im krassen Gegensatz zu dem unglaublich gepflegten Garten stand. Hier herrschte eine farbenfrohe Wildheit, das hohe Gras war nicht geschnitten, Unmengen von Blumen aller Farben und Formen blühten, vor allem Bienen, aber auch Hummeln, Schmetterlinge und Weinschwärmer waren höchst aktiv und erfüllten die Luft mit ihrem Gebrumm und Gesumm. Immer wieder wurden die Herren von dem einen oder anderen Blütenduft angeweht, es war paradiesisch.

„Den wilden Garten verdank ich dem Faris und seinen zwei Brüdern. Faris ist der, der dich abgeholt hat. Sehr vielseitig begabte junge Menschen, alle drei. Ich hab die ganze Familie im Gärtnerhaus einquartiert. Der Vater war in Syrien Universitätsprofessor für Archäologie und ich hab ihn und seine Familie vor ein paar Jahren bei einer längeren Reise im arabischen Raum näher kennengelernt. Sie sind als Mitglieder der christlichen Minderheit in den letzten Jahren stark verfolgt worden und als auf ihre Kirche ein schweres Attentat verübt worden ist, sind sie geflüchtet. Sie haben in Österreich Asyl bekommen und ich hab die Familie bei mir im Gärtnerhaus, das ja ziemlich groß und ohnehin leer gestanden ist, einquartiert. Arbeit für die jungen Leute gibt’s bei mir auch mehr als genug. Als ich dann den Nachbargrund gekauft hab, wollt ich ja ursprünglich alles genauso machen wie bisher, aber der Faris und seine Brüder haben bei sich zu Hause Bienenstöcke gehabt und gefragt, ob sie hier auch welche haben können. Dann haben sie natürlich auch Futterpflanzen für die Bienen gebraucht, also hab ich auf die Rasenflächen verzichtet und die wilde Wiese ist gewachsen. Ich war am Anfang sehr skeptisch, aber jetzt helf ich dem Faris manchmal sogar beim Imkern. Der wilde Garten macht mir jetzt schon mehr Freud als die ganze gepflegte Anlage beim Haus.“ Der Yeti strahlte. Die Freude an seinem geheimen Garten war ihm deutlich anzusehen. Die Durchquerung der großen Wiese nahm gut fünf Minuten in Anspruch, bis sie zu einem Biotop von etwa acht bis zehn Metern Länge kamen, an dessen Ufer zahlreiche Wasserpflanzen wuchsen, die vorwiegend leuchtend gelbe Blüten trugen. Im Uferbereich gab es einen mächtigen, stark bemoosten Felsen, der etwa zur Hälfte von einem feuerrot leuchtenden mittelgroßen Ahornbaum beschattet wurde.

„Da sitz ich öfters, die Frösche, Lurche und Ringelnattern beobachten, aber man muss sich gut einschmieren, sonst fressen einen die Gelsen.“

Rumpler war fasziniert. „Das ist ja ein wunderschöner Platz.“

„Schon. Aber lass dich nicht täuschen. Unter der Wasseroberfläche gibt es ein Problem. Schau einmal genau hin.“

Rumpler beugte sich vor und blickte konzentriert ins bräunlich-grüne Wasser. Plötzlich sah er es, lange grüne schleierartige Fäden, die in der leichten Strömung hin- und herschwangen.

„Sind das Algen?“

„Ja, und zwar Fadenalgen. Ich zeig dir jetzt was.“ Der Yeti hob einen etwa zwei Meter langen Stab auf, an dessen Ende eine längliche Bürste befestigt war, und tauchte ihn ins Wasser. Als er ihn wieder herauszog, kamen einige der Algen, lange, dünne Fäden, zum Vorschein. Der Yeti entfernte sie von der Bürste. „Sie können leicht abreißen. Aber das war noch nicht alles. Pass auf!“

Wieder tauchte er den Stab ein, diesmal etwas tiefer als zuvor, und als er ihn herausholte, haftete daran ein unglaublich großes Geflecht von Algen, wie ein giftgrünes triefendes Tuch. Offensichtlich hatte sich darin ein Lurch verfangen, der sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte und verzweifelt um sein Leben kämpfte. Der Yeti befreite ihn behutsam von den mörderischen Fäden und entließ ihn wieder ins Wasser.

„Da siehst du, wie tückisch das Zeug ist. Das bringt alles um, wenn man nichts unternimmt. Und von oben schaut alles eigentlich gut aus.“

Der Yeti schwieg kurz, bevor er fortfuhr. „Starkes Bild.“

Rumpler glaubte, zu wissen, was er meinte. Der algenverseuchte Teich konnte ein Abbild ihres Falls sein. Es kam darauf an, sich nicht von der makellosen Oberfläche täuschen zu lassen, behutsam an den richtigen Fäden zu ziehen, ohne sie abzureißen, und falls ihr Verdacht stichhaltig war, das ganze mörderische Geflecht freizulegen. Sie gingen in einem großen Bogen entlang der Mauer, die das Grundstück vollständig umschloss, bis sie wieder durch das schmiedeeiserne Tor traten. Gleich dahinter lagen die beiden Schäferhunde flach am Boden, ganz entspannt und trotzdem hellwach. Sie hoben ihre Köpfe und suchten den Blick des Yeti, der sie ansprach.

Nach der Verabschiedung blieb er im Pavillon, während die Hunde Rumpler zum Ausgang begleiteten. Erst nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, folgten sie wieder Faris, der ihn hinausgebracht hatte. Als er auf der Straße stand, hatte er plötzlich das Gefühl eines Verlustes, so ruhig und paradiesisch war diese völlig unerwartete Insel inmitten von Döbling für ihn gewesen. Rumpler atmete durch und ging zu seinem Auto.

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