Löwenfisch

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6.

Nach dem Kaffeehausbesuch beschloss Rumpler, noch einen kurzen Abstecher auf den Naschmarkt zu machen, um seine Vorräte an Käse, Oliven und sonstigen Antipasti aufzufüllen. Auf dem Weg dorthin kam er an einer jener Hundezonen vorbei, die mangels Alternativen von zahlreichen Hundebesitzern genutzt wurden, obwohl sie in ihrer Trostlosigkeit kaum zu überbieten waren. In ihrem Randbereich war ein überquellender Mistkübel, aus dem offensichtlich eine benützte Spritze herausgefallen war. Dieser Fund kam für Rumpler nicht unerwartet. Immer wieder hatte er in den letzten Jahren da und dort Zeichen von Drogenkonsum gesehen, wohl wegen seiner speziell geschulten Augen, die auch jetzt noch, Jahre nach seiner Pensionierung, imstande waren, Dinge, die andere meist gar nicht bemerkten, blitzartig zu erfassen.

Wie meistens bei seinen Naschmarkt-Besuchen weitete Rumpler seine ursprünglich recht karge Einkaufsliste kräftig aus, unter anderem um kleine schwarze, besonders aromatische Oliven, einige frische Feigen, eine Handvoll Kumquat, deren Zusammenspiel von Süße, Säure und einer leicht bitteren Note er sehr schätzte, und ein gutes Fladenbrot. Für Rosamunde kaufte er als besonderen Leckerbissen einige Shrimps. Rosamunde hatte nämlich Geburtstag, nicht wirklich, weil ihr tatsächlicher Geburtstag natürlich unbekannt war, aber Rumplers verstorbene Frau Elsa hatte schon bald nach Rosamundes Auffindung darauf bestanden, dass ein bestimmter Tag ersatzweise als ihr Geburtstag festgelegt und auch gehörig gefeiert wurde. Rumpler hatte das damals für völlig absurd erklärt, es aber nichtsdestotrotz nach Elsas Tod eisern beibehalten. Vor einigen Jahren hatte er, obwohl er selbst Meeresfrüchte eigentlich nicht so gerne aß, für einen Gast auf dessen speziellen Wunsch eine Portion gebratener Shrimps zubereitet und war damals von Rosamunde trotz ihres schon etwas fortgeschrittenen Alters mit unglaublichen Sprüngen verfolgt worden, als er das Essen von der Küche ins Wohnzimmer getragen hatte. Daran hatte er sich beim Kauf der Shrimps erinnert.

Als er mit seinen Einkäufen zu Hause eintraf, wurde er von Rosamunde sofort einer gründlichen Untersuchung unterzogen, die aus ihrer Sicht sehr vielversprechend verlief. Er briet die Shrimps leicht an und sie verströmten einen so verführerischen Duft, dass er doch selbst das eine oder andere Stück kosten musste. Es schmeckte ihm wider Erwarten so gut, dass nur Rosamundes strenger Blick ihn wieder zur Ordnung rief, und er nahm sich vor, in näherer Zukunft vielleicht auch für sich selbst ein diesbezügliches Koch-Experiment zu wagen. Mit einem Hauch Chili. Rosamunde fraß ihre Geburtstags-Shrimps mit einer Gier, als ob sie tagelang überhaupt kein Futter bekommen hätte.

„Happy Birthday, Luxuskatze“, knurrte er. Aber lächelnd.

Er ging zu seinem Schrank, und während er ihm eines der wenigen neuen Moleskine-Bücher entnahm, die er dort vorrätig hatte, wurde ihm bewusst, dass er mit diesem Akt Sonjas Sorge bezüglich Zargl zu einem seiner Fälle gemacht hatte. Ein erster Schritt war gesetzt, viele weitere würden folgen.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete das Buch, zeichnete auf die erste Seite ein großes Dreieck und legte das Blatt mit Zargls Zeichnung, das Sonja für ihn ausgedruckt hatte, vor sich hin. Sie wirkte insgesamt chaotisch, wie in großer Eile entstanden. Dominiert wurde sie durch ein großes Dreieck, dessen Eckpunkte an der Basis mit X und Z, an der Spitze mit Y markiert waren. Bei den Buchstaben standen jeweils einige hingekritzelte Wörter, manches war durchgestrichen. Bei Z stand Mann fürs Grobe, bei X technische Umsetzung und bei Y Leitung, Finanzen und zusätzlich noch in Großbuchstaben mit drei Rufzeichen INSIDER!!!. Im Zentrum des Dreiecks war eine seltsame Zeichnung von zwei nebeneinandergestellten, identen Figuren, die Rumpler Rätsel aufgaben. Die Basis stellte jeweils ein kleines Dreieck dar, an dessen Spitze ein Querbalken mit drei kurzen senkrechten, nach oben gerichteten Ästen war, was Rumpler an ein liegendes E erinnerte. Es konnten aber auch stilisierte Frauenfiguren sein, mit einem unten weiten bodenlangen Rock und oben einem kantigen Kopf samt links und rechts beschwörend emporgehobenen, ebenso kantigen Armen. Plötzlich begann eine Idee in ihm zu keimen. Sonja hatte erwähnt, dass Zargl ein Schachspieler war. Die seltsamen Figuren konnten daher auch gut und gerne stilisierte Türme eines Schachspiels darstellen, vielleicht genau jene Türme, von denen Zargl behauptet hatte, dass sie im Endspiel wichtig werden.

Rumpler machte sich bezüglich des Blattes, das vermutlich eine Ideenskizze Zargls für seinen geplanten Artikel gewesen war, einige Notizen in seinem Moleskine-Buch. Anschließend informierte er wie versprochen Sonja über das, was er von Moser bezüglich Zargl erfahren hatte, vor allem natürlich über dessen Tod. Sonja war sehr betroffen, aber nicht wirklich überrascht.

Gleich nach dem Gespräch schaltete er seine Kaffeemaschine ein. Während er darauf wartete, dass die Kontrollleuchte für die Vorwärmphase erlosch, wählte er aus seiner umfangreichen Sammlung von Mokkaschalen eine kleine, dickwandige weiße Espressoschale, die er aus einem Italienurlaub vor über zehn Jahren mitgebracht hatte. Seine Gedanken wanderten rückwärts, zu einem sonnendurchglühten Kirchenplatz in Sizilien. Die dortige Kirche war sehr groß gewesen, geradezu übermächtig für den kleinen Ort, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte. Er war vor einem winzigen Café unter einem Sonnenschirm gesessen und hatte einen Espresso getrunken, aus genauso einer Schale wie eben jetzt. Dann war da plötzlich eine fast unwirkliche, filmartige Szene. Einige Autos langten ein, offenbar eine Hochzeitsgesellschaft. Während die Braut aus dem Auto stieg, einer überlangen Limousine mit abgedunkelten Scheiben, kam ihr der Brautvater mit ausgestreckten Armen entgegen. Rumplers geschulter Blick hatte bereits vorher die an allen strategisch wichtigen Stellen des Platzes positionierten drahtigen jungen Männer bemerkt, die offenbar zum Schutz der Hochzeitsgesellschaft abkommandiert waren. Der Hochzeitszug formierte sich und verschwand in der Kirche, die Bewacher behielten ihre Standorte bei. Alle blieben todernst, nur ein Jüngerer grinste Rumpler kurz verschwörerisch zu, wurde aber sofort von einem offensichtlich höherrangigen Kollegen durch eine winzige abschneidende Geste mit der linken Hand so zur Ordnung gerufen, dass seine Miene schlagartig einfror. Hier war ganz offensichtlich eine Organisation mit sehr strikten Regeln am Werk.

Das leise Zischen seiner Kaffeemaschine holte Rumpler aus seinem Tagtraum zurück, der aber doch insofern leicht nachwirkte, als er seinen Espresso etwas kürzer als sonst zubereitete. Während er mit Genuss den ersten Schluck trank, beschloss er, am nächsten Tag, für den gutes Wetter angesagt war, einen Ausflug auf die Rax zu machen, um den letzten Weg des Anton Zargl nachzugehen und sich vor Ort ein Bild von den Geschehnissen zu machen.

Rumpler überprüfte sorgfältig seine Wanderschuhe, die er längere Zeit nicht verwendet hatte. Sohlen und Bänder waren in tadellosem Zustand. Das war wichtig. Die Rax war keineswegs zu unterschätzen, trotz der weitgehend abgesicherten Wanderwege – und er war schließlich auch nicht mehr der Jüngste.

*

7.

Zu seiner Wanderung brach Rumpler ziemlich früh auf, um nicht in die Mittagshitze zu geraten. Er parkte sein Auto unter einigen großen Bäumen, die zumindest teilweise Schatten versprachen, und machte sich an den Aufstieg. Rumpler ging sehr langsam, setzte ganz bewusst Schritt vor Schritt und blieb zwischendurch immer wieder stehen, um die Umgebung in sich aufzunehmen. Mehrfach hatte er ziemlich hohe Leitern zu überwinden, die ihm sein Alter bewusst machten. Es war ihm klar, dass es eher unwahrscheinlich war, die Plätze zu finden, an denen Anton Zargl seine Fotos gemacht hatte. Trotzdem war er teilweise erfolgreich.

Nach etwa einer halben Stunde kam er nämlich zu einem großen Stein, hinter dem ein Blütenpolster üppig blühte, mit der Intensität und Leuchtkraft der Bergpflanzen. Ein Blick auf seine Fotosammlung brachte Gewissheit. Das graugrüne Moos auf dem Stein und auch die Form des Steins selbst ließen keinen Zweifel offen. An dieser Stelle war Anton Zargl gestern um genau zehn Uhr sechzehn gestanden, nur etwa eine Stunde von seinem Tod getrennt. Rumpler besah sich die anderen Fotos. Drei davon waren zu späteren Zeitpunkten gemacht worden, zwei hingegen schon vorher. Er zog aus seinem Rucksack, der neben einem Wetterschutz auch eine Jause enthielt, sein neu eröffnetes Moleskine-Buch und zeichnete eine Zeitlinie, auf der er als Beginn den Zeitpunkt jenes Fotos markierte, dessen Motiv er eben entdeckt hatte. Für die Zeitpunkte der drei später entstandenen Bilder setzte er im entsprechenden Maßstab Querstriche auf die Zeitlinie und schrieb die jeweiligen Zeiten darunter. Die Abstände von sieben, zwei und neununddreißig Minuten zwischen den Fotos drei bis sechs lieferten zumindest einen vagen Hinweis für den weiteren Verlauf von Anton Zargls Wanderung, an dem sich Rumpler orientieren konnte. Die Stellen, an denen die Fotos vier und fünf gemacht worden waren, fand er trotz intensiver Bemühungen nicht, so wenig charakteristisch waren ihre Motive. Erst beim sechsten und damit letzten Bild war Rumpler wieder erfolgreich. Die Leitern und die Teufels Badstuben genannte felsige und durch die Feuchtigkeit etwas glitschige Stelle lagen zu seiner Erleichterung bereits hinter ihm. Der Weg verlief auf einem Grat, der auf der einen Seite steil abfiel und einen spektakulären Ausblick bot. Ein Blick auf Foto Nummer sechs brachte Gewissheit. Hier hatte Anton Zargl, wie schon Moser gesagt hatte, sein letztes Foto geschossen und hier war er wohl auch abgestürzt. Ein aus Ästen hergestelltes kleines Holzkreuz, neben dem einige halb verwelkte Blumen lagen, bestätigte Rumplers Vermutung. Er besah sich die Umgebung gründlich. Unter der Annahme eines Fremdverschuldens für Zargls tödlichen Absturz war davon auszugehen, dass sich ein möglicher Angreifer, der über dessen geplante Wanderroute Bescheid wusste, weil er seine E-Mails ausspioniert hatte, hier auf die Lauer gelegt hatte. Eine einzige Stelle erschien Rumpler dafür geeignet, eine kleine Mulde, die durch einige Sträucher und Steine einen passablen Sichtschutz bot. Die Entfernung bis zur Absturzstelle betrug nur etwa vier Meter. Das war nahe genug, um jemanden, der vielleicht ein Foto von der atemberaubenden Aussicht machen wollte, nach ein paar schnellen Schritten in die Tiefe zu stürzen.

 

Routinemäßig kontrollierte Rumpler das mögliche Versteck auf etwaige Spuren. Anders als in zahlreichen Kriminalromanen fanden sich dort aber weder verräterische Zigarettenstummel noch leere Getränkedosen oder Ähnliches. Auch die Bodenbeschaffenheit wirkte völlig unverdächtig. Nach einigen Eintragungen in seinem Moleskine-Buch samt Skizze des Absturzortes machte sich Rumpler wieder auf den Weg, der zu seiner Erleichterung deutlich einfacher verlief als der doch recht anspruchsvolle Aufstieg. Er war bereits sehr hungrig, hatte aber nicht an der Absturzstelle essen wollen. Erst nachdem er gut einen Kilometer zurückgelegt hatte, schaute er sich um und fand einen als Sitzplatz geeigneten Stein. Während er mit Genuss sein mit Wurzelspeck belegtes Brot aß, dazu noch Paprikastreifen und kleine, besonders aromatische Paradeiser, ließ er seinen Blick schweifen und genoss die Ruhe.

Plötzlich war er hellwach. Ohne dass er hätte sagen können, worum es sich handelte, hatte etwas für einen Sekundenbruchteil seine Aufmerksamkeit eingefangen. Er bewegte sich nicht und ließ nur seinen Blick in völliger Konzentration über die Umgebung gleiten. Dann sah er es. Es handelte sich um ein in Tarnfarbe gehaltenes Kästchen von etwa zehn mal zehn Zentimeter, das sich beim Näherkommen als ausgezeichnet versteckte, kaum sichtbare Wildkamera entpuppte. Interessant. Rumpler wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass noch andere Wildkameras so nahe am Weg angebracht waren, dass sie vielleicht auch Wanderer mit ihrem Bildausschnitt erfassten, aber einen Versuch war die Sache allemal wert.

Etwa drei Stunden später gab Rumpler daher im zuständigen Gemeindeamt an, er hätte auf seiner Wanderung möglicherweise ein verendetes Tier gesichtet. Sicher wäre er sich freilich nicht, aber er würde doch gern mit dem zuständigen Jäger sprechen. Man gab ihm ohne Weiteres Namen und Telefonnummer. Der Jäger, ein gewisser Ferdinand Haller, bat Rumpler, ihn, wenn möglich, zwecks näherer Angaben kurz zu besuchen, was diesem sehr gelegen kam.

Haller wohnte in einem uralten Blockhaus mit kleinen Fenstern. Der Eingang war so niedrig, dass Rumpler sich bücken musste, um ins Haus zu gelangen, das innen einen interessanten Gegensatz von altertümlichen Gerätschaften, wie etwa gusseisernen Pfannen verschiedener Größe, und modernem Inventar bot. Das Internet-Zeitalter hatte ganz offensichtlich auch vor diesem Haus nicht Halt gemacht. Haller war ein groß gewachsener Mann von etwa dreißig oder fünfunddreißig Jahren mit dunkelblondem Haar und graugrünen Augen, die zu gleichen Teilen Ruhe und Aufmerksamkeit ausdrückten. Er setzte seine Worte sehr bedacht.

Rumpler erklärte ihm seine Notlüge hinsichtlich des verendeten Tiers und gab sich als pensionierter Kriminalbeamter zu erkennen. Auf seine Frage bezüglich der Wildkameras ging der Jäger zunächst überhaupt nicht ein,

„Sie kommen sicher wegen des Verunglückten. Ihre Kollegen waren ja gestern auch schon bei mir.“

„Wie haben Sie denn von dem Unglück erfahren?“

„Ich bin bei der Bergrettung. Gestern hab ich Bereitschaft gehabt und hab gemeinsam mit meinem Kollegen den Toten raufgeholt.“

„Ich versteh. Mich interessieren eigentlich Ihre Wildkameras.“

Haller blickte kurz auf. „Aha. Die Kameras.“ Dann sagte er wieder länger nichts.

„Am Weg.“

Wieder eine Pause. Dann plötzlich. „Da gibt’s schon was.“ Der Jäger zog eine Wanderkarte hervor und legte sie vor Rumpler hin.

„Das ist der Weg zu Teufels Badstuben. Die Kreuzeln da zeigen, wo ich meine Kameras hab. Eine davon, die dicht am Weg oben montiert ist, ist seit gestern Vormittag ausgfalln. Vielleicht hats wer gstohln oder ein vermeintlicher Tierschützer hats zerstört. Kommt immer wieder vor.“

Rumpler war enttäuscht. „Dann gibt’s also von der ausgefallenen Kamera keine Bilder mehr.“

„Hrmpfh.“ Während seines kleinen Grunzers machte sich der Jäger mit erstaunlicher Geschicklichkeit daran, seinen Laptop zu bearbeiten. „Schau ma mal. Ich hab das so eingrichtet, dass ich die Bilder immer gleich auf den Laptop krieg. Ich bin nur noch nicht dazukommen, dass ich sie mir anschau, weil gestern is es sehr spät worden.“ Nach einer kleinen Pause kam Hallers Erklärung. „Das Feuerwehrfest.“

„Ich versteh.“ Rumpler beugte sich in gespannter Erwartung vor. „Welche Kamera ist denn gestern ausgfalln?“

Der Jäger wies auf einen der markierten Punkte auf der Karte, der nach Rumplers Einschätzung nur ein paar Hundert Meter hinter der Absturzstelle lag. Auf dem Bildschirm erschienen einige Fotos, unter denen jeweils Datum und Uhrzeit angeführt waren. Zwei davon zeigten einen Dachs. Das letzte Foto war um zehn Uhr fünfzig übermittelt worden. Es zeigte die Beine eines Menschen, vermutlich eines Mannes. Die vom Knie abwärts sichtbare Hose war unauffällig, die Schuhe machten einen kräftigen, soliden Eindruck.

„Könnt ich das Bild haben?“

„Klar. Ich schicks Ihnen.“

„Vielen Dank.“ Rumpler gab ihm seine E-Mail-Adresse.

„Wenn ihr das Gfrast erwischts, dann schauts, dass es zahlt!“

„Machen wir. Könnten Sie mir bitte Bescheid geben, ob die Kamera entfernt oder ob sie zerstört worden ist?“

„Kein Problem.“

Nach Hinterlassen seiner Telefonnummer sowie der Warnung, mit niemandem über die Angelegenheit zu sprechen, verließ Rumpler das Jagdhaus.

Für den Beweis eines Fremdverschuldens am Tod Zargls war das Foto der Wildkamera eine viel zu dünne Suppe. Trotzdem war der zeitliche Zusammenhang auffällig. Unmittelbar vor Anton Zargls tödlichem Absturz hatte jemand die nahe beim Weg montierte Wildkamera erkannt und funktionsunfähig gemacht. Noch etwas beschäftigte Rumpler. Wildkameras waren in aller Regel nicht einfach zu entdecken und es bedurfte einer sehr genauen Beobachtungsgabe, um sie zu orten. Wenn also bei Zargls Sturz doch Fremdverschulden im Spiel war, dann handelte es sich wohl um jemanden, der sehr gründlich vorging. In Rumpler begann Sorge um Sonja zu keimen.

Auf der Heimfahrt erreichte ihn ein Anruf von Moser. Er hatte einen Beamten in die Wohnung geschickt, aber trotz gründlicher Suche war der Zettel mit dem Dreieck unauffindbar. Der Beamte hatte zur Sicherheit auch den Papierkorb kontrolliert, ebenfalls ohne Erfolg. Sogar Zargls Putzfrau hatte man befragt, die aber auf Stein und Bein schwor, die Zeichnung nicht gesehen zu haben. Der Zettel, den Sonja auf Pritzlers Schreibtisch gesehen hatte, war verschwunden.

Als er wieder zu Hause angekommen war, kontrollierte er den Posteingang seines Laptops. Der Jäger hatte ihm, wie versprochen, das Bild geschickt, samt einer Nachricht, dass die Kamera zerstört, aber nicht entfernt worden war. Rumpler wählte den Bildausschnitt so, dass die Schuhe des Unbekannten gut zu sehen waren, und zoomte sie so nah wie möglich heran. Aus dieser Perspektive waren sogar die qualitativ hochwertigen Nähte im oberen Randbereich der Sohlen gut zu erkennen, ebenso wie ein kleines, rautenförmiges Emblem, das einen Buchstaben, ein in das Leder der Raute eingeprägtes K oder R, umgeben von einer kreisförmigen roten Ziernaht, einschloss. Immerhin. Die Schuhe waren nach Rumplers Einschätzung alles andere als Massenware, vielleicht sogar eine Einzelanfertigung. Eventuell ergab sich hier ein Anknüpfungspunkt.

Er beschloss, Moser über seine Entdeckung zu informieren, und vereinbarte mit ihm für den nächsten Tag um neun Uhr ein Frühstück im Café Rathaus.

*

8.

Anders als vom Wetterbericht angekündigt, zeigte sich der Morgen von seiner freundlichen Seite. Es war zwar etwas windig, aber keineswegs kalt. Nach seinem üblichen Morgenritual, das neben der Versorgung Rosamundes aus einem ziemlich umfassenden Gymnastik-Training samt einigen Übungen aus dem Bereich des Kampfsports sowie einer luxuriös langen Dusche bestand, freute sich Rumpler über seinen Spaziergang zum Café Rathaus.

Moser war bereits im Café. In Anbetracht seines morgens meist ziemlich niedrigen Blutdrucks bestellte Rumpler zunächst einen doppelten Espresso.

„Stinker, der Tote auf der Rax lässt mir keine Ruh’. Ich hab mich gestern vor Ort umgeschaut und hab noch einen Platz, von dem aus der Anton Zargl fotografiert hat, gefunden. Das letzte Foto, das er knapp nach elf Uhr geschossen hat, hat er ja, wie du gesagt hast, direkt von der Absturzstelle aus gemacht.“

„Aber das bringt dich auch nicht weiter.“

„Nicht wirklich. Ich hab aber auch mit dem reviermäßig zuständigen Jäger gesprochen und ihn wegen Wildkameras gefragt. Er hat ein paar ganz in der Nähe vom Weg, der über Teufels Badstuben führt, montiert. Eine davon, die sehr nahe an der Absturzstelle liegt, ist ungefähr eine Viertelstunde, bevor Zargl sein letztes Foto gemacht hat, von jemandem zerstört worden.“

„Das könnt aber auch der Zargl selbst gewesen sein. Vielleicht war er ja so ein militanter Tierschützer.“

„Nein, mit der Wildkamera hat er nichts zu tun gehabt. Das letzte Bild, das die Wildkamera gemacht hat, bevor sie zerstört worden ist, ist automatisch auf den Laptop des Jägers übertragen worden. Es zeigt ein Paar Wanderschuhe – ziemlich spezielle Wanderschuhe. Ganz anders als die, die der Zargl auf den Fotos, die ihr von ihm gemacht habts, getragen hat.“ Rumpler zog aus seiner Tasche einen Ausdruck des entsprechenden Fotos. Moser blickte das Bild konzentriert an, die Stirn gerunzelt. Endlich gab er es Rumpler zurück.

„Für einen Zufall ist das eigentlich fast ein bissl viel.“

„Das glaub ich auch. Dazu kommt, dass die Kamera durch den Jäger ziemlich gut getarnt war. Dass sie entdeckt und zerstört worden ist, wirkt auf mich fast wie Profiarbeit.“

Mosers Antwort war konzilianter als sein skeptischer Blick. „Könnt natürlich sein. Ich werd einmal einen Kollegen auf die Sache ansetzen.“

„Wart ein bissl. Ich hab dir eh gsagt, wenn es wirklich stimmen sollte, dass der Anton Zargl an einer ganz großen Sache dran war, in der auch bei den Behörden was schiefläuft, dann wär das sehr heikel. Ich glaub, wir sollten das bis zu einer Abklärung nur ganz informell verfolgen.“

„Aber die Sonja kannst dann auch nicht für deine IT-Recherchen einsetzen, weil wenn der Zargl tatsächlich unter Beobachtung war und womöglich umbracht worden ist, dann ist sie auch gefährdet.“

„Da hast natürlich recht. Ich glaub, wenn ich Hilfe brauch, hol ich sie mir diesmal beim Max.“ Max Felsinger war, wie Rumpler aus praktischer Erfahrung wusste, ein ebenso fachkundiger wie nervenstarker Mann und damit genau wie seine Frau Sonja für sensible Recherchen bestens geeignet.

„Ich glaub, das ist eine gute Idee. Also verbleiben wir bis auf Weiteres so: Offiziell gibt es beim Tod vom Zargl keinen Verdacht auf Fremdverschulden und daher auch keine weitere Involvierung der Polizei, außer natürlich die normalen Routinen bei Unfällen. Hast du Zugang zu den Computerdaten vom Zargl?“

„Ja. Sonja hat sich alles heruntergeladen, wie er sie um Hilfe gebeten hat. Sie hat das Material gründlich gesichtet und analysiert, aber nichts Relevantes gefunden. Sie hat aber auf seinem Schreibtisch diesen Zettel mit dem Dreieck gesehen, den ihr gestern gesucht habt. Ganz oben ist Info Pritzler gestanden. Sonja hat davon ein Foto gemacht.“

Moser war spürbar ungehalten. „Das hättest mir aber gleich sagen können. Für was hab ich dann den Kollegen hinfahren lassen, wennst eh eine Kopie hast?“

„Weil es mir lieber gewesen wär, wenn der Zettel nicht in der Wohnung herumliegt. Sicherheitshalber.“

Mosers kleiner Grunzer drückte zu gleichen Teilen Unmut und Verständnis aus. Rumpler zog die entsprechende Kopie aus der Tasche und reichte sie ihm.

 

„Schau, das ist die Zeichnung. Auf den ersten Blick wirkt sie ein bissl komisch, nicht sehr professionell. Ich vermute, das war eine Art Ideenskizze für den Artikel, den der Zargl veröffentlichen wollte. Er hat laut Sonja von diesem Reinhard Pritzler einen Tipp bekommen, dass es im Nahbereich der Polizei ein Problem mit Drogen gibt. Federführend soll dabei anscheinend der sein, den er auf dem Blatt mit Y bezeichnet hat. Der Y arbeitet angeblich bei der Polizei oder im Ministerium in einer höheren Funktion, soll aber gleichzeitig im Drogenmarkt eine große Nummer sein. Ein anderer, den Zargl mit X bezeichnet hat, soll das Recycling der Drogen organisieren und der dritte, alias Z ist laut Zargls Zeichnung der Mann fürs Grobe.“

„Pritzler, Pritzler – der Name sagt mir was. Ja, klar, Pritzler hat der Drogentote geheißen, der vor Kurzem an einer Überdosis gestorben ist.“ Er schnaufte heftig. „Hans, das Ganze ist eine verfluchte Geschichte. Wahrscheinlich ist das eh nur heiße Luft und der Zargl hat sich was zusammengereimt. Falls aber doch was dran sein sollte, dann ist es brandgefährlich. Dann sind nämlich Profis am Werk, die viel zu verlieren haben. Schad, dass wir dafür niemanden beiziehen können, der sich in solchen Fragen gut auskennt.“

„Also mir fällt schon einer ein, der was wissen sollt, aber ich weiß nicht, ob das geht.“

„Wer sollt das sein?“

„Der Yeti.“

Moser fuhr kerzengerade in die Höhe und starrte Rumpler fassungslos an. „Der Yeti? Den kannst doch nicht fragen!“

Der Yeti war in Polizeikreisen, aber nur unter den älteren Kollegen, eine Legende. Er war bereits seit etwa zehn Jahren in Pension. Zu seiner Zeit hatte er über ein unglaublich dichtes Netzwerk an wichtigen Kontakten verfügt und war neben gut zwanzig Jahren im Polizeidienst für mehrere Jahre als Sicherheitsberater diverser Staaten, vor allem im arabischen Raum, tätig gewesen. Der Yeti war schwerreich, auch durch seine Heirat. Seine Frau stammte aus einer der großen Weinproduzentenfamilien Frankreichs, die im Burgund ein prachtvolles Château besaß. Seine natürliche Autorität hatte meist automatisch eine Hemmschwelle errichtet, die verhindert hatte, mit ihm direkt in Kontakt zu treten. Seinen Spitznamen verdankte der Yeti übrigens nicht so sehr seiner riesenhaften Gestalt, sondern der Tatsache, dass er in Angelegenheiten seines Gartens keinen Spaß verstand und ihn mit einer beispiellosen Akribie pflegte und jätete. Die überaus gepflegten öffentlichen Gärten waren schlampig im Vergleich zum Garten des Yeti, der wegen dieser seiner Leidenschaft von den Kollegen eigentlich Jäti genannt worden war. Obwohl er auch ein wenig wie ein Yeti aussah. Und diesen legendären, geheimnisumwitterten alten Mann wollte Rumpler kontaktieren.

„Unmöglich“, beharrte Moser. „Mit dem Yeti kann keiner einfach so reden.“

„Ich glaub, ich könnts. Er hat mich vor fast zwanzig Jahren nach einem wichtigen Fall zu sich eingeladen, hat mir gratuliert und gesagt, wenn ich einmal wo nicht weiter kann und Hilfe von ihm brauch, dann soll ich zu ihm kommen.“

„Wer weiß, gibt’s ihn überhaupt noch? Er hat ja auch nicht das ewige Leben.“

Rumpler war sich da nicht so sicher. „Schau ma mal.“

„Und wenn er noch lebt, wer weiß, ob er sich noch erinnert, was er dir versprochen hat.“

„Der Yeti vergisst nichts. Niemals.“

Moser grunzte etwas Unverständliches. „Probieren kannst es ja. Erzähl mir, was rauskommt.“

„Mach ich.“