Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt

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Es kann in seinem Gedankenbau streng notwendige Gesetzmäßigkeit, nicht aber göttliche Weltordnung haben. So wird für Jacobi der Spinozismus die einzig mögliche wissenschaftliche Vorstellungsart; aber er sieht in diesem zugleich einen Beweis für die Tatsache, dass diese Vorstellungsart den Zusammenhang mit der geistigen Welt nicht finden kann. Herder verteidigt 1787 Spinoza gegen den Vorwurf des Atheismus. Er kann das. Denn er schreckt nicht davor zurück, das Erleben des Menschen in dem göttlichen Urwesen auf seine Art ähnlich zu empfinden wie Spinoza. Nur spricht Herder dieses Erleben auf andere Art aus als Spinoza. Dieser baut ein reines Gedankengebäude auf; Herder sucht seine Weltanschauung nicht bloß durch Denken, sondern durch die ganze Fülle des menschlichen Seelenlebens zu gewinnen. Für ihn ist ein schroffer Gegensatz von Glauben und Wissen dann nicht vorhanden wenn die Seele sich klar wird über die Art, wie sie sich selbst erlebt. Man spricht in seinem Sinne, wenn man das seelische Erleben so ausdrückt: Wenn der Glaube sich auf seine Gründe in der Seele besinnt, so kommt er zu Vorstellungen, welche nicht ungewisser sind als diejenigen, welche durch das bloße Denken gewonnen werden. Herder nimmt alles, was die Seele in sich finden kann, in geläuterter Gestalt als Kräfte hin, die ein Weltbild liefern können. So ist seine Vorstellung des göttlichen Weltengrundes reicher, gesättigter als diejenige Spinozas; aber sie setzt das menschliche Ich zu diesem Weltgrunde in ein Verhältnis, das bei Spinoza nur als Ergebnis des Denkens auftritt.

Wie in einem Knotenpunkte der mannigfaltigsten Fäden der neueren Weltanschauungsentwicklung steht man, wenn man den Blick darauf richtet, wie in diese Entwicklung der Gedankengang Spinozas in den Achtzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts eingreift. 1785 veröffentlicht Fr. H. Jacobi sein »Spinoza-Büchlein«. Er teilt darin ein Gespräch mit, das er mit Lessing vor dessen Lebensende geführt hatte. Lessing hat sich nach diesem Gespräch selbst zum Spinozismus bekannt. Für Jacobi ist damit zugleich Lessings Atheismus festgestellt. Man muss, wenn man das »Gespräch mit Jacobi« als maßgebend für die intimen Gedanken Lessings anerkennt, diesen als eine Persönlichkeit ansehen, welche anerkennt, dass der Mensch eine seinem Wesen entsprechende Weltanschauung nur gewinnen könne, wenn er die feste Gewissheit, welche die Seele dem durch eigene Kraft lebenden Gedanken gibt, zum Stützpunkt seiner Anschauung nimmt. Mit einer solchen Idee erscheint Lessing als ein prophetischer Vor-Fühler der Weltanschauungsimpulse des neunzehnten Jahrhunderts. Dass er diese Idee erst in einem Gespräche kurz vor seinem Tode äußert, und dass sie in seinen eigenen Schriften noch wenig zu bemerken ist, bezeugt, wie schwer das Ringen, auch der freiesten Köpfe, geworden ist mit den Rätselfragen, welche das neuere Zeitalter der Weltanschauungsentwicklung aufgegeben hat. Die Weltanschauung muss sich doch in Gedanken aussprechen. Doch die überzeugende Kraft des Gedankens, die im Platonismus ihren Höhepunkt, im Aristotelismus ihre selbstverständliche Entfaltung gefunden hatte, war aus den Seelenimpulsen der Menschen gewichen. Aus der mathematischen Vorstellungsart sich die Kraft zu holen, den Gedanken zu einem Weltenbild auszubauen, das bis zum Weltengrund weisen sollte, vermochte nur die seelenkühne Natur Spinozas. Den Lebenstrieb des Gedankens im Selbstbewusstsein zu erfühlen, und ihn so zu erleben, dass sich durch ihn der Mensch in eine geistig-reale Welt sicher hineingestellt fühlt, vermochten die Denker des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht. Lessing steht unter ihnen wie ein Prophet, indem er die Kraft des selbstbewussten Ich so empfindet, dass er der Seele den Durchgang durch wiederholte Erdenleben zuschreibt. Was man, unbewusst, wie einen Alpdruck in Weltanschauungsfragen fühlte, war, dass der Gedanke für den Menschen nicht mehr so auftrat wie für Plato, für den er sich selbst in seiner stützenden Kraft und mit seinem gesättigten Inhalte als wirksame Weltwesenheit offenbarte. Man fühlte jetzt den Gedanken aus den Untergründen des Selbstbewusstseins heraufziehen; man fühlte die Notwendigkeit, ihm aus irgendwelchen Mächten heraus eine Tragkraft zu geben. Man suchte diese Tragkraft immer wieder bei den Glaubenswahrheiten oder in den Tiefen des Gemütes, welche man stärker glaubte als den abgeblassten, abstrakt empfundenen Gedanken. Das ist für viele Seelen immer wieder ihr Erlebnis mit dem Gedanken, dass sie diesen nur als bloßen Seeleninhalt empfinden und aus ihm nicht die Kraft zu saugen vermögen, die ihnen Gewähr leistet dafür, dass der Mensch mit seinem Wesen sich im geistigen Weltengrund eingewurzelt wissen dürfe. Solchen Seelen imponiert die logische Natur des Gedankens; sie erkennen ihn deshalb an als Kraft, welche eine wissenschaftliche Weltansicht erbauen müsse; aber sie wollen eine für sie stärker wirkende Kraft für den Ausblick auf eine die höchsten Erkenntnisse umschließende Weltanschauung. Es fehlt solchen Seelen die spinozistische Seelenkühnheit, den Gedanken im Quell des Weltschaffens zu empfinden und so sich mit dem Gedanken im Weltengrund zu wissen. Es rührt von solcher Seelenverfassung her, wenn oft der Mensch den Gedanken beim Aufbau einer Weltanschauung gering erachtet und sein Selbstbewusstsein sicherer gestützt fühlt im Dunkel der Gemütskräfte. Es gibt Persönlichkeiten, für welche eine Anschauung um so weniger Wert für ihr Verhältnis zu den Weltenrätseln hat, je mehr diese Anschauung aus dem Dunkel des Gemüts in das Licht des Gedankens treten will. Eine solche Seelenstimmung trifft man bei J. G. Hamann (gest. 1788). Er war, wie manche Persönlichkeiten dieser Art, ein großer Anreger. Ist nämlich ein solcher Geist genial wie er, so wirken die aus den dunkeln Gemütstiefen geholten Ideen energischer auf andere als die in Verstandesform gebrachten Gedanken. Wie in Orakelsprüchen drückte sich Hamann aus über die Fragen, welche das Weltanschauungsleben seiner Zeit erfüllten. Wie auf andere wirkte er auch auf Herder anregend. Ein mystisches Empfinden, oft mit pietistischer Färbung, lebt in seinen Orakelsprüchen. Chaotisch kommt in ihnen zum Vorschein das Drängen der Zeit nach dem Erleben einer Kraft der selbstbewussten Seele, welche Stützpunkt all dem sein kann, was der Mensch sich über Welt und Leben zur Vorstellung bringen will.

Es liegt in diesem Zeitalter, dass die Geister fühlen: Man muss hinunter in die Seelentiefen, um den Punkt zu finden, in dem die Seele mit dem ewigen Weltengrund zusammenhängt, und man muss aus der Erkenntnis dieses Zusammenhangs heraus aus dem Quell des Selbstbewusstseins ein Weltbild gewinnen. Doch ist ein weiter Abstand von dem, was der Mensch vermochte mit seinen Geisteskräften zu umfassen, und dieser inneren Wurzel des Selbstbewusstseins. Die Geister dringen mit ihrer Geistesarbeit nicht zu dem vor, was ihnen in dunkler Ahnung ihre Aufgabe stellt. Sie gehen gleichsam um das herum, was als Weltenrätsel wirkt, und nähern sich ihm nicht. So empfindet mancher, der den Weltanschauungsfragen gegenübersteht, als gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts Spinoza zu wirken beginnt. Lockesche, Leibnizsche Ideen, diese auch in Wolffscher Abschwächung, durchdringen die Köpfe; daneben wirkt neben dem Drang nach Gedankenklarheit die Scheu vor dieser, so dass in das Weltbild immer wieder die aus den Tiefen des Gemütes heraufgeholten Anschauungen zur Ganzheit dieses Bildes zu Hilfe gerufen werden. Ein solches spiegelt sich in Mendelssohn, dem Freunde Lessings, der durch die Veröffentlichung des Jacobischen Gespräches mit Lessing bitter berührt worden ist. Er wollte nicht zugeben, dass dieses Gespräch von Seiten Lessings wirklich den von Jacobi mitgeteilten Inhalt gehabt habe. Es hätte sich dann so meinte er sein Freund wirklich zu einer Weltanschauung bekannt, welche mit dem bloßen Gedanken zur Wurzel der geistigen Welt reichen will. Auf diese Art komme man aber nicht zu einer Anschauung von dem Leben dieser Wurzel. Man müsse sich dem Weltgeiste anders nahen, wenn man ihn in der Seele als lebensvolle Wesenheit erfühlen wolle. Und das müsse doch Lessing getan haben. Dieser könne sich also nur zu einem »geläuterten Spinozismus« bekannt haben, zu einem solchen, der über das bloße Denken hinausgeht, wenn er zu dem göttlichen Urgrund des Daseins kommen will. In der Art, den Zusammenhang mit diesem Urgrunde zu empfinden, wie das der Spinozismus ermöglicht, davor scheute Mendelssohn zurück.

Herder brauchte nicht davor zurückzuscheuen, weil er die Gedankenlinien im Weltenbild des Spinoza übermalte mit den gehaltvollen Vorstellungen, welche ihm die Betrachtung des Natur- und Geistesbildes ergab. Er hätte bei Spinozas Gedanken nicht stehenbleiben können. So wie sie von ihrem Urheber gegeben waren, wären sie ihm zu grau in grau gemalt erschienen. Er betrachtete, was in der Natur und Geschichte sich abspielt und stellte das Menschenwesen in diese Betrachtung hinein. Und was sich ihm so offenbarte, das ergab ihm einen Zusammenhang des Menschenwesens mit dem göttlichen Urgrund der Welt und mit der Welt selber, durch den er sich in der Gesinnung mit Spinoza einig fühlte.

Herder war unmittelbar davon überzeugt, dass die Beobachtung der Natur und der geschichtlichen Entwicklung ein Weltbild ergeben muss, durch das der Mensch seine Stellung im Weltganzen befriedigend empfindet. Spinoza meinte zu einem solchen Weltbild nur in der lichten Sphäre der Gedankenarbeit zu kommen, die nach dem Muster der Mathematik verrichtet wird. Vergleicht man Herder mit Spinoza und bedenkt man dabei die Zustimmung des ersteren zu der Gesinnung des letzteren, so muss man anerkennen, dass in der neueren Weltanschauungsentwicklung ein Impuls wirkt, der sich hinter dem verbirgt, was als Weltanschauungsbilder zum Vorschein kommt. Es ist das Streben nach einem Erheben dessen in der Seele, was das Selbstbewusstsein an die Gesamtheit der Weltvorgänge bindet. Man will ein Weltbild gewinnen, in dem die Welt so erscheint, dass der Mensch sich in ihr erkennen kann wie er sich erkennen muss, wenn er die innere Stimme seiner selbstbewussten Seele zu sich sprechen lässt.

 

Spinoza will den Drang eines solchen Erlebens dadurch befriedigen, dass er die Gedankenkraft ihre eigene Gewissheit entfalten lässt; Leibniz betrachtet die Seele und will die Welt so vorstellen, wie sie vorgestellt werden muss, wenn die richtig vorgestellte Seele in das Weltbild richtig hineingestellt sich zeigen soll.

Herder beobachtet die Weltvorgänge und ist von vornherein überzeugt, dass im menschlichen Gemüte das rechte Weltbild auftaucht, wenn dieses Gemüt sich mit aller seiner Kraft gesund diesen Vorgängen gegenüberstellt. Was Goethe später sagte, dass alles Faktische schon Theorie sei, das steht für Herder unbedingt fest. Er ist auch von Leibnizschen Gedankenkreisen angeregt; doch hätte er es nimmermehr vermocht, erst nach einer Idee des Selbstbewusstseins in der Monade theoretisch zu suchen und dann mit dieser Idee ein Weltbild zu erbauen. Die Seelenentwicklung der Menschheit stellt sich in Herder so dar, dass durch ihn besonders deutlich auf den ihr zugrundeliegenden Impuls in der neueren Zeit hingewiesen wird. Was in Griechenland als Gedanke (Idee) gleich einer Wahrnehmung behandelt worden ist, wird als Selbsterlebnis der Seele gefühlt. Und der Denker steht der Frage gegenüber: Wie muss ich in die Tiefen der Seele dringen so, dass ich erreiche den Zusammenhang der Seele mit dem Weltgrunde und mein Gedanke zugleich der Ausdruck der weltschöpferischen Kräfte ist? Das Aufklärungszeitalter, das man im achtzehnten Jahrhundert sieht, glaubte noch in dem Gedanken selbst seine Rechtfertigung zu finden.

Herder wächst über diesen Gesichtspunkt hinaus. Er sucht nicht den Punkt in der Seele, wo diese denkt, sondern den lebendigen Quell, wo der Gedanke aus dem der Seele einwohnenden Schöpferprinzipe hervorquillt. Damit steht Herder dem nahe, was man das geheimnisvolle Erlebnis der Seele mit dem Gedanken nennen kann. Eine Weltanschauung muss sich in Gedanken aussprechen. Doch gibt der Gedanke der Seele die Kraft, welche sie durch eine Weltanschauung im neueren Zeitalter sucht, nur dann, wenn sie den Gedanken in seiner seelischen Entstehung erlebt. Ist der Gedanke geboren, ist er zum philosophischen System geworden, dann hat er bereits seine Zauberkraft über die Seele verloren. Damit hängt zusammen, warum der Gedanke, warum das philosophische Weltbild so oft unterschätzt wird. Das geschieht durch alle diejenigen, welche nur den Gedanken kennen, der ihnen von außen zugemutet wird, an den sie glauben, zu dem sie sich bekennen sollen. Die wirkliche Kraft des Gedankens kennt nur derjenige, der ihn bei seiner Entstehung erlebt.

Wie in der neueren Zeit dieser Impuls in den Seelen lebt, das tritt hervor an einer bedeutungsvollen Gestalt der Weltanschauungsgeschichte, an Shaftesbury (1671 bis 1713). Für ihn lebt ein »innerer Sinn« in der Seele; durch diesen dringen die Ideen, welche der Inhalt der Weltanschauung werden, in den Menschen, wie durch die äußeren Sinne die äußeren Wahrnehmungen dringen. Nicht im Gedanken selbst also sucht Shaftesbury dessen Rechtfertigung, sondern durch den Hinweis auf eine Seelentatsache, welche dem Gedanken aus dem Weltengrund heraus den Eintritt in die Seele ermöglicht. So steht für ihn eine zweifache Außenwelt dem Menschen gegenüber: die »äußere« materielle Außenwelt, die durch die »äußeren« Sinne in die Seele eintritt, und die geistige Außenwelt, welche durch den »inneren Sinn« dem Menschen sich offenbart. Es lebt in diesem Zeitalter der Drang, die Seele kennenzulernen. Denn man will wissen, wie in ihrer Natur das Wesen einer Weltansicht verankert ist. Man sieht ein solches Streben in Nikolaus Tetens (gest. 1807). Er kam bei seinen Forschungen über die Seele zu einer Unterscheidung der Seelenfähigkeiten, welche gegenwärtig in das allgemeine Bewusstsein übergegangen ist: Denken, Fühlen und Wollen. Vorher unterschied man nur das Denk- und das Begehrungsvermögen.

Wie die Geister des achtzehnten Jahrhunderts die Seele zu belauschen suchten da, wo sie an ihrem Weltenbild schaffend wirkt, das zeigt sich zum Beispiel an Hemsterhuis (1721-1790). An ihm, den Herder für einen der größten Denker nach Plato angesehen hat, zeigt sich anschaulich das Ringen des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Seelenimpuls der neueren Zeit. Man wird etwa Hemsterhuis‹ Gedanken treffen, wenn man folgendes ausspricht: Könnte die Menschenseele durch ihre eigene Kraft, ohne äußere Sinne, die Welt betrachten, so läge vor ihr ausgebreitet das Bild der Welt in einem einzigen Augenblicke. Die Seele wäre also dann unendlich im Unendlichen. Hätte die Seele keine Möglichkeit, in sich zu leben, sondern wäre sie nur auf die äußeren Sinne angewiesen, so wäre vor ihr in endloser zeitlicher Ausbreitung die Welt. Die Seele lebte dann, ihrer selbst nicht bewusst, im Meer der sinnlichen Grenzenlosigkeit. Zwischen diesen beiden Polen, die nirgends wirklich sind, sondern wie zwei Möglichkeiten das Seelenleben begrenzen, lebt die Seele wirklich: sie durchdringt ihre Unendlichkeit mit der Grenzenlosigkeit.

An einigen Denkerpersönlichkeiten wurde hier versucht, darzustellen, wie der Seelenimpuls der neueren Zeit im achtzehnten Jahrhundert durch die Weltanschauungsentwicklung strömt. In dieser Strömung leben die Keime, aus denen für diese Entwicklung das »Zeitalter Kants und Goethes« hervorgegangen ist.

Das Zeitalter Kants und Goethes

Zu zwei geistigen Instanzen blickt am Ende des achtzehnten Jahrhunderts derjenige auf, der nach Klarheit über die großen Fragen der Welt- und Lebensanschauung rang, zu Kant und Goethe. Einer, der am gewaltigsten nach solcher Klarheit rang, ist Johann Gottlieb Fichte. Als er Kants »Kritik der praktischen Vernunft« kennengelernt hatte, schrieb er: »Ich, lebe in einer neuen Welt ... Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, zum Beispiel der Begriff der absoluten Freiheit, der Pflicht usw., sind mir bewiesen, und ich fühle mich darum nur um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses System gibt! ... Welch ein Segen für ein Zeitalter, in welchem die Moral von ihren Grundfesten aus zerstört und der Begriff Pflicht in allen Wörterbüchern durchstrichen war.« Und als er auf Grundlage der Kantschen die eigene Anschauung in seiner »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« aufgebaut hatte, da sandte er das Buch an Goethe mit den Worten: »Ich betrachte Sie, und habe Sie immer betrachtet, als den Repräsentanten der reinsten Geistigkeit des Gefühls auf der gegenwärtig errungenen Stufe der Humanität. An Sie wendet mit Recht sich die Philosophie. Ihr Gefühl ist derselben Probierstein.«

In einem ähnlichen Verhältnis zu beiden Geistern stand Schiller. Über Kant schreibt er am 28. Oktober 1794: »Es erschreckt mich gar nicht, zu denken, dass das Gesetz der Veränderung, vor welchem kein menschliches und kein göttliches Werk Gnade findet, auch die Form dieser (der Kantschen) Philosophie so wie jede andere zerstören wird; aber die Fundamente derselben werden dies Schicksal nicht zu fürchten haben, denn so alt das Menschengeschlecht ist, und so lange es eine Vernunft gibt, hat man sie stillschweigend anerkannt, und im ganzen danach gehandelt.« Goethes Anschauung schildert Schiller am 23. August 1794 in einem Briefe an diesen: »Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige in der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf.

Wären Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich verkürzt, vielleicht ganz überflüssig gemacht worden. Schon in die erste Anschauung der Dinge hätten Sie dann die Form des Notwendigen aufgenommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hätte sich der große Stil in Ihnen entwickelt. Nun, da Sie als ein Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denkkraft zu ersetzen, und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären.« Kant und Goethe können, von der Gegenwart aus gesehen, als Geister betrachtet werden, in denen die Weltanschauungsentwicklung der neueren Zeit sich wie in einem wichtigen Momente ihres Werdeprozesses dadurch enthüllt, dass von diesen Geistern die Rätselfragen des Daseins intensiv empfunden werden, die sich vorher mehr in den Untergründen des Seelenlebens vorbereiten.

Um die Wirkung des ersteren auf sein Zeitalter zu veranschaulichen, seien noch die Aussprüche zweier Männer über ihn angeführt, die auf der vollen Bildungshöhe ihrer Zeit standen. Jean Paul schrieb im Jahre 1788 an einen Freund: »Kaufen Sie sich um Himmels willen zwei Bücher, Kants Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten und Kants Kritik der praktischen Vernunft. Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal.« Und Wilhelm von Humboldt sagt: »Kant unternahm und vollbrachte das größte Werk, das vielleicht je die philosophierende Vernunft einem einzelnen Manne zu danken hat ... Dreierlei bleibt, wenn man den Ruhm, den Kant seiner Nation, den Nutzen, den er dem spekulativen Denken verliehen hat, bestimmen will, unverkennbar gewiss: Einiges, was er zertrümmert hat, wird sich nie wieder erheben, einiges, was er begründet hat, wird nie wieder untergehen, und was das Wichtigste ist so hat er eine Reform gestiftet, wie die gesamte Geschichte des menschlichen Denkens keine ähnliche aufweist.« Man sieht, in Kants Tat sahen seine Zeitgenossen eine erschütternde Wirkung innerhalb der Weltanschauungsentwicklung. Er selbst aber hielt sie für diese Entwicklung so wichtig, dass er ihre Bedeutung derjenigen gleichsetzte, die Kopernikus‹ Entdeckung der Planetenbewegung für die Naturerkenntnis hatte.

Manche Erscheinungen der Weltanschauungsentwicklung in den vorangegangenen Zeiten wirken in Kants Denken weiter und bilden sich in diesem zu Rätselfragen um, welchen Charakter seiner Weltanschauung bestimmen. Wer in den für diese Anschauung bedeutsamsten Schriften Kants die charakteristischen Eigentümlichkeiten empfindet, dem zeigt sich als eine derselben sogleich eine besondere Schätzung, welche Kant der mathematischen Denkungsart angedeihen lässt. Was so erkannt wird wie das mathematische Denken erkennt, das trägt in sich die Gewissheit seiner Wahrheit, das empfindet Kant. Dass der Mensch Mathematik haben kann, beweist, dass er Wahrheit haben kann. Was man auch alles bezweifeln mag, die Wahrheit der Mathematik kann man nicht bezweifeln.

Mit dieser Schätzung der Mathematik tritt in Kants Seele diejenige Gesinnung der neueren Weltanschauungsentwicklung auf, die den Vorstellungskreisen Spinozas die Prägung gegeben hat. Spinoza will seine Gedankenreihen so aufbauen, dass sie sich wie die Glieder der mathematischen Wissenschaft streng auseinander entwickeln. Nichts anderes als das nach mathematischer Art Gedachte gibt die feste Grundlage, auf der sich im Sinne Spinozas das im Geiste der neueren Zeit sich fühlende Menschen-Ich sicher weiß. So dachte auch schon Descartes, von dem Spinoza viele Anregungen empfangen hat. Er musste sich aus dem Zweifel heraus eine Weltanschauungsstütze holen. In dem bloßen Empfangen eines Gedankens in der Seele konnte Descartes eine solche Stütze nicht sehen. Diese griechische Art, sich zu der Gedankenwelt zu stellen, ist dem Menschen der neueren Zeit nicht mehr möglich. Es muss sich in der selbstbewussten Seele etwas finden, das den Gedanken stützt. Für Descartes und wieder für Spinoza ist es die Erfüllung der Forderung, dass sich die Seele zum Gedanken verhalten müsse, wie sie sich in der mathematischen Vorstellungsart verhält. Indem sich Descartes aus dem Zweifel heraus sein »Ich denke, also bin ich« und was damit zusammenhängt, ergab, fühlte er sich in alledem sicher, weil es ihm dieselbe Klarheit zu haben schien, welche der Mathematik innewohnt. Dieselbe Gesinnung hat Spinoza dazu geführt, ein Weltbild sich auszugestalten, in dem alles, wie die mathematischen Gesetze, mit strenger Notwendigkeit wirkt. Die eine göttliche Substanz, welche sich mit mathematischer Gesetzmäßigkeit in alle Weltenwesen ausgießt, lässt das menschliche Ich nur gelten, wenn dieses sich in ihr völlig verliert, wenn es sein Selbstbewusstsein in ihrem Weltbewusstsein aufgehen lässt. Diese mathematische Gesinnung, die aus der Sehnsucht des »Ich« entspringt nach einer Sicherheit, die es für sich braucht, führt dieses »Ich« zu einem Weltbild, in dem es durch das Streben nach seiner Sicherheit sich selbst, sein selbständiges Bestehen in einem geistigen Weltengrund, seine Freiheit und seine Hoffnung auf ein selbständiges ewiges Dasein verloren hat.

 

In der entgegengesetzten Richtung bewegte sich das Denken Leibniz‹. Für ihn ist die Menschenseele die selbständige, streng in sich abgeschlossene Monade. Aber diese Monade erlebt nur, was in ihr ist; die Weltenordnung, die sich »wie von außen« darbietet, ist nur ein Scheinbild. Hinter demselben liegt die wahre Welt, die nur aus Monaden besteht, und deren Ordnung die nicht in der Beobachtung sich darbietende vorherbestimmte (prästabilierte) Harmonie ist. Diese Weltanschauung lässt der menschlichen Seele die Selbständigkeit, das selbständige Bestehen im Weltall, die Freiheit und die Hoffnung auf eine ewige Bedeutung in der Weltentwicklung; aber sie kann, wenn sie sich selbst treu bleibt, im Grunde nicht anders, als behaupten, dass alles von ihr Erkannte nur sie selbst ist, dass sie aus dem selbstbewussten Ich nicht herauskommen kann, und dass ihr das Weltall in seiner Wahrheit von außen nicht offenbar werden kann.

Für Descartes und für Leibniz waren die auf religiösem Wege erlangten Überzeugungen noch so stark wirksam, dass beide sie aus anderen Motiven in ihr Weltbild herübernahmen, als ihnen die Stützen dieses Weltbildes selbst gaben. Bei Descartes schlich sich in das Weltbild die Anschauung von der geistigen Welt ein, die er auf religiösem Wege erlangt hatte, sie durchdrang für ihn unbewusst die starre mathematische Notwendigkeit seiner Weltordnung, und so empfand er nicht, dass ihm sein Weltbild im Grunde das »Ich« auslöschte. Ebenso wirkten bei Leibniz die religiösen Impulse, und deshalb entging ihm, dass er in seinem Weltbilde keine Möglichkeit hatte, etwas anderes als allein den eigenen Seeleninhalt zu finden. Er glaubte doch, die außer dem »Ich« befindliche geistige Welt annehmen zu können. Spinoza zog durch einen großen Zug in seiner Persönlichkeit die Konsequenz aus seinem Weltbilde. Um die Sicherheit für dieses Weltbild zu haben, welche das Selbstbewusstsein verlangte, resignierte er auf die Selbständigkeit dieses Selbstbewusstseins und fand die Seligkeit darin, sich als Glied der einen göttlichen Substanz zu fühlen. Auf Kant blickend, muss man die Frage aufwerfen: Wie musste er empfinden gegenüber den Weltanschauungsrichtungen, die sich in Descartes, Spinoza und Leibniz ihre hervorragenden Vertreter geschaffen hatten? Denn alle die Seelenimpulse, welche in diesen dreien gewirkt hatten, wirkten in ihm. Und sie wirkten in seiner Seele aufeinander und bewirkten die ihm sich aufdrängenden Welten- und Menschheitsrätsel. Ein Blick auf das Geistesleben des Kantschen Zeitalters gibt die Richtung nach der Art, wie Kant über diese Rätsel empfunden hat. In einem bedeutsamen Symptom erscheint dieses Geistesleben in Lessings (1729-1781) Stellung zu den Weltanschauungsfragen.

Lessing fasst sein Glaubensbekenntnis in die Worte zusammen: »Die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlecht damit geholfen werden soll.« Man hat das achtzehnte Jahrhundert das der Aufklärung genannt. Die Geister Deutschlands verstanden die Aufklärung im Sinne des Lessingschen Ausspruches. Kant hat die Aufklärung erklärt als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« und als ihren Wahlspruch bezeichnet: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Nun waren selbst so hervorragende Denker wie Lessing zunächst durch die Aufklärung nicht weiter gekommen als bis zu einer verstandesmäßigen Umformung der aus dem Zustande »selbstverschuldeter Unmündigkeit« überlieferten Glaubenslehren. Sie sind nicht zu einer reinen Vernunftansicht vorgedrungen wie Spinoza.

Auf solche Geister musste die Lehre des Spinoza, als sie in Deutschland bekannt wurde, einen tiefen Eindruck machen. Spinoza hatte es wirklich unternommen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, war aber dabei zu ganz anderen Erkenntnissen gekommen als die deutschen Aufklärer. Sein Einfluss musste um so bedeutsamer sein, als seine nach mathematischer Art festgebauten Schlussfolgerungen eine viel größere überzeugende Kraft hatten als die Weltanschauungsrichtung Leibniz‹, welche auf die Geister jenes Zeitalters in der Art wirkte, wie sie durch Wolff »fortgebildet« worden war. Wie diese durch Wolffs Vorstellungen hindurch wirkende Gedankenrichtung auf tiefere Gemüter wirkte, davon erhalten wir eine Vorstellung aus Goethes »Dichtung und Wahrheit«. Er erzählt von dem Eindruck, den Professor Winklers im Geiste Wolffs gehaltene Vorlesungen in Leipzig auf ihn gemacht haben: »Meine Kollegia besuchte ich anfangs emsig und treulich; die Philosophie wollte mich jedoch keineswegs aufklären. In der Logik kam es mir wunderlich vor, dass ich diejenigen Geistesoperationen, die ich von Jugend auf mit der größten Bequemlichkeit verrichtete, so auseinanderzerren, vereinzeln und gleichsam zerstören sollte, um den rechten Gebrauch derselben einzusehen. Von dem Dinge, von der Welt, von Gott glaubte ich ungefähr so viel zu wissen als der Lehrer selbst, und es schien mir an mehr als einer Stelle gewaltig zu hapern.« Von seiner Beschäftigung mit Spinozas Schriften erzählt uns dagegen der Dichter: »Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem ich mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.«

Aber nur wenige vermochten sich der Denkungsart Spinozas so unbefangen hinzugeben wie Goethe. Bei den meisten musste sie einen tiefen Zwiespalt in die Weltauffassung bringen. Für sie ist Goethes Freund Fr. H. Jacobi ein Repräsentant. Er glaubte, zugeben zu müssen, dass die sich selbst überlassene Vernunft nicht zu den Glaubenslehren, sondern zu der Ansicht führe, zu der Spinoza gekommen ist, dass die Welt von ewigen, notwendigen Gesetzen beherrscht wird. So stand Jacobi vor einer bedeutsamen Entscheidung: entweder musste er seiner Vernunft vertrauen und die Glaubenslehren fallen lassen, oder er musste, um die letzteren zu behalten, der Vernunft selbst die Möglichkeit absprechen, zu den höchsten Einsichten zu kommen. Er wählte das letztere. Er behauptete, dass der Mensch in seinem innersten Gemüte eine unmittelbare Gewissheit habe, einen sicheren Glauben, vermöge dessen er die Wahrheit der Vorstellung eines persönlichen Gottes, der Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit fühle, so dass diese Überzeugung ganz unabhängig sei von den auf logische Folgerungen gestützten Erkenntnissen der Vernunft, die sich gar nicht auf diese Dinge beziehen, sondern nur auf die äußeren Naturvorgänge. Auf diese Weise hat Jacobi das vernünftige Wissen abgesetzt, um für einen die Bedürfnisse des Herzens befriedigenden Glauben Platz zu bekommen.

Goethe, der von dieser Entthronung des Wissens wenig erbaut war, schreibt an den Freund: »Gott hat Dich mit der Metaphysik gestraft und Dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich mit der Physik gesegnet. Ich halte mich an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza) und überlasse euch alles, was ihr Religion heißt und heißen mögt. Du hältst aufs Glauben an Gott; ich aufs Schauen.« Die Aufklärung hat zuletzt die Geister vor die Wahl gestellt, entweder die geoffenbarten Wahrheiten durch die Vernunftwahrheiten im spinozistischen Sinne zu ersetzen, oder dem vernunftgemäßen Wissen selbst den Krieg zu erklären.

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