Das Asam Vermächtnis

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

4

Leo war sehr früh aufgestanden und hatte schon um sieben am Schreibtisch gesessen. Er hatte die Idee, nach dem Treffen mit Tim Anna und Michaela mit warmem Leberkäse und frischen Semmeln daheim zum Mittagessen zu überraschen und erst dann wieder ins Büro nach Regensburg zurückzufahren.

Natürlich war er wie immer spät dran und kam erst um zehn nach neun auf dem Busund Touristenparkplatz in Weltenburg an. Deshalb zog er die Polizeikarte aus dem Handschuhfach, warf sie vor sich auf das Armaturenbrett und steuerte auf das Kloster zu. Dann hielt er noch einmal kurz an und rief von der erhöhten Straße aus dem Parkwart auf seinem Campingstuhl hinunter »Polizei Regensburg. Tut mir leid. Ich bin ein bisschen spät dran …«

Der Parkwart machte eine lässige Handbewegung.

»Is‘ schon gut. Fahren’s nur zu. Ihre Kollegen sind eh schon da.«

Kollegen? Wie war das denn gemeint? Zielte der Mann womöglich auf irgendwelche Touristen ab, die sich mit allerlei Ausreden die drei Euro Parkgebühr sparen wollten, und steckte ihn jetzt mit denen unter einen Hut?

Als Leo vor dem Torbogen des Klosters ankam, den Defender links davon auf dem ausladenden Kiesbett des Donauufers abstellte und durch die hintere Pforte den Klosterhof betrat, sah er, was oder wen der Parkwart gemeint hatte.

Im Hof standen ein Rettungswagen, ein Streifenwagen und zwei dunkle BMW mit Blaulicht und Landshuter Kennzeichen. Zwei Polizeibeamte in Uniform waren dabei, ein Absperrband um den Kircheneingang zu ziehen, und zwei weitere Leute, ein Mann in Leos Alter und ein etwas jüngerer, trugen Westen mit der Aufschrift KIT Landshut.

Einer der Polizisten bezeigte Dietz von weitem mit einer abwehrenden Handbewegung, dass er sich fernhalten sollte. Als er das aber nicht beachtete, kam der Beamte auf ihn zu.

»Bleiben Sie bitte zurück. Hier ist vorläufig alles gesperrt.«

Leo zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn dem Polizisten hin.

»Hauptkommissar Leo Dietz, Kripo Regensburg. Was ist hier passiert?«

Der Polizist besah sich den Ausweis genau, etwas zu genau, fand Leo, bevor er antwortete »Eine Person wurde offensichtlich getötet – in der Kirche.«

»Was für eine Person? Und wie?«

»Ein Mann. Er wurde vermutlich mit einem Speer… aufgespießt.«

»Was? Mit einem Speer?«, entfuhr es dem Kommissar.

»Mit einer Lanze, nicht mit einem Speer«, hörte Dietz dicht hinter sich eine Frauenstimme und drehte sich ruckartig um. Er hatte nicht bemerkt, wie lange die Mittdreißigerin mit den brünetten, schulterlangen Haaren und der roten Softshellkapuzenjacke schon neben ihm stand. Obwohl die Frau perfektes Deutsch sprach, erkannte Leo an ihrer Art, wie sie jedes h im Wortanlaut zu ch machte, dass sie keine gebürtige Deutsche war. Sie war offensichtlich aus dem Konventeingang herausgekommen, wo ein hochgewachsener grauhaariger Benediktinermönch mit Brille und scharf geschnittenen Gesichtszügen unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt, verharrte und seinen Blick über den Hof schweifen ließ.

»Eine Lanze ist länger als ein Speer. Sie wird nicht geworfen, sondern dient zum Stoßen«, ergänzte die Frau, wobei ihre blauen Augen den Blick des Kommissars fixierten.

»Elena Choffmann-Bühl, Chauptkommissarin aus Landshut«, stellte sie sich vor und reichte Leo eine kleine Hand mit kalten Fingern.

»Wie kommt es, dass Sie chier sind, Cherr Kollege?«, fragte sie. »Wir chaben gar keine Chilfe aus Regensburg angefordert.«

Leo stellte sich noch einmal vor.

»Ich bin eigentlich privat hier, oder halbprivat, wenn man so will.«

Elena Hoffmann-Bühl hob fragend die Augenbrauen.

»Ich wollte mich vor zwanzig Minuten mit jemandem treffen, der mich um Hilfe gebeten hat, um Hilfe als Polizist, nehme ich an. Aber wahrscheinlich wurde er von Ihren Kollegen schon mit den anderen Touris fortgeschickt, nehme ich an.«

Die Kommissarin und der Polizeibeamte wechselten einen kurzen Blick.

»Wie cheißt dieser Jemand, Cherr Dietz?«

Leo fühlte plötzlich ein äußerst unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

»Gräber, Tim Gräber, vielleicht ist er auch noch gar nicht gekommen. Warum möchten Sie das wissen?«

Wieder ein Blickwechsel.

Dietz sah unwillkürlich zu dem geschlossenen Rettungswagen hinüber.

»Moment mal! Sagen Sie jetzt nicht, dass …«

»Kommen Sie!«, erwiderte die Landshuter Kommissarin anstatt einer direkten Antwort und ging mit Dietz hinüber zum RTW. Sie gab dem jungen Mann vom Kriseninterventionsteam, der sich gerade eine Zigarette anstecken wollte, ein Zeichen, der daraufhin wiederum eine Sanitäterin mit ungewöhnlich langem Pferdeschwanz anstupste, die schließlich die Heckklappen des Fahrzeugs öffnete. Leo stieg nach ihr ein und sah ihr zu, wie sie den Leichensack auf der Bahre öffnete, wobei ihr langer Pferdeschwanz beinahe das Gesicht der Leiche berührte.

Der Tote war nicht Gräber. Der Professor war immer sehr korpulent gewesen und hatte eine richtige Wolle an rotem, krausem Haar, das ihm meistens auf der verschwitzten Stirn klebte. Diese Leiche jedoch war hager und hatte weder Kopfhaar noch Augenbrauen.

»Er ist es nicht«, sagte Leo erleichtert, »Tim Gräber sieht anders aus«.

Die Kollegin aus Landshut sah ihn irritiert an.

»Es tut mir leid, Cherr Dietz: Doch, das ist Tim Gräber. Chier ist sein Personalausweis. Sie chaben Ihren Freund wohl schon länger nicht mehr gesehen.«

Elena Hoffmann-Bühl hielt Leo einen Plastikbeutel mit dem Ausweis, dem Führerschein, einer Geldbörse und einem Schlüsselbund hin.

Leo besah sich den dünnen Mann mit den wachen, fast listigen Augen, die ihn durch die Plastikhülle aus einem regungslosen Gesicht, wie es bei biometrischen Passbildern erforderlich ist, anstarrten. Lag da so etwas wie eine stille Anklage in Gräbers Blick? Vor zwei Tagen hatte Leo einen Anruf aus der Vergangenheit erhalten. Einer der Uncoolen und Loser hatte seine Hilfe gebraucht und er war zu spät gekommen. Nun lag dort drüben im RTW ein Toter, der mit Leos Erinnerung bis auf den Namen nichts, absolut gar nichts zu tun hatte. Wer zum Teufel mochte dieser zweite Tim Gräber sein?

Dietz wandte sich seiner Landshuter Kollegin zu.

»Könnte ich bitte die Tatwaffe sehen?«

Hoffmann-Bühl antwortete nicht sofort. Sie schien die möglichen Konsequenzen ihrer Antwort abzuwägen.

»Also gut, Cherr Kollege. Ich zeige sie Ihnen. Aber lassen Sie mich bitte von vorncherein etwas klarstellen: Die Ermittlungen führen wir Landschuter. Das chier«, sie machte eine ausladenden Handbewegung, »ist unser Einzugsgebiet, wie Sie wissen.«

Leo hatte mitnichten vor, sich einzumischen. Er nickte schulterzuckend und hob den linken Daumen hoch.

Elena Hoffman-Bühl öffnete den Kofferraum eines der Zivilfahrzeuge und zog die mangels einer größeren Folie in lauter kleine aufgeschnittene Plastikhüllen eingewickelte Lanze heraus. Sie war von der flachen, geschmiedeten Spitze bis zum hölzernen Schaft gänzlich schwarz und hatte einen Durchmesser von etwa vier Zentimetern. Im oberen Drittel des Schafts wies eine Fissur daraufhin, dass das Holz schon einmal gebrochen und wieder geleimt worden war. Auf der einen Seite der Spitze war eine Art Stift oder Nagel derart eingearbeitet, dass sich die dünnen, schnurartigen Eisenbänder wie Lederriemen ausnahmen. Leo drehte und wog die Lanze mit einer Hand. Die Waffe war überraschend leicht. Er tippte auf Eschenholz.

»Können Sie damit etwas anfangen oder irgendwie mit Ihrem Freund in Verbindung bringen?«, fragte die Landshuter Kommissarin.

»Er ist … er war nicht mein Freund. Wir haben uns seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ich habe wirklich keine Ahnung, wo da ein Zusammenhang bestehen könnte«, antwortete Dietz.

»Sie sieht irgendwie römisch oder frühmittelalterlich aus, finde ich«, sagte Hoffmann-Bühl.

Leo nickte.

»Mmh, wahrscheinlich stammt sie von irgendeinem Römeroder Ritterfest. Da kann man solche nachgemachten Waffen und alles Mögliche kaufen. Ich wollte mir auch schon einmal ein Langschwert, so eines wie in Braveheart, zur Deko kaufen, aber meine Freundin hätte mich wahrscheinlich rausgeworfen oder gleich mit dem Ding erschlagen.«

Die Kommissarin lächelte kurz und mechanisch.

»Dann sind Sie ja ein Spezialist mittelalterlicher Waffen. Denken Sie, es könnte auch ein Artefakt sein?«

»Sie meinen, dass die Lanze wirklich alt ist? Bestimmt nicht. Ich kann Ihnen eine ganze Reihe Kunstschmiede nennen, die Ihnen so etwas für einen Fünfziger basteln. Die Frage ist nur, wer mit so einem Ding durch die Gegend läuft und Menschen umbringt.«

»Stimmt, genau das ist die Frage, die ich mir stelle.«

Sie betonte ich mit einem Nachdruck, der Leo ganz und gar nicht gefiel.

»Vielen Dank für den Wink mit dem Zaunpfahl, Frau Kollegin. Ich werde Ihnen schon nicht reinpfuschen.«

Damit reichte er der Kommissarin die Hand.

»Also dann, ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Aufklärung; und natürlich können Sie mich jederzeit anrufen, wenn ich Sie doch noch irgendwie unterstützen könnte. Ich wohne übrigens nur ein paar Kilometer von hier entfernt.«

Er hatte sich schon zum Gehen umgedreht, als sie ihn am Arm festhielt – am Arm festgehalten zu werden war etwas, das Leo auf den Tod nicht verknusen konnte, umso mehr verwunderte ihn diese barsche Geste von der bisher so reservierten jungen Polizistin.

»Cherr Kollege, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Sie waren wahrscheinlich einer der Letzten, der mit dem Opfer Kontakt hatte.«

»Ich? Ich habe den Tim mindestens zwanzig Jahre nicht mehr getroffen. Sie haben ja gesehen, dass ich ihn nicht einmal mehr erkannt habe. Vor zwei Tagen haben wir das erste Mal nach all der Zeit wieder miteinander geredet, und das eine Minute lang.«

 

Die Kommissarin machte ein gleichgültiges Gesicht.

»Und jetzt ist er tot. Komisch, nicht wahr? Wie auch immer, chalten Sie sich bitte zu unserer Verfügung bereit. Wir werden sicher noch die eine oder andere Frage an Sie chaben.«

Langsam wurde es Leo zu bunt.

»Zur Verfügung bereithalten? Was soll denn das heißen? Bei aller Liebe, Frau Hoffmann-Bühl, ich habe Ihnen gerade meine Hilfe angeboten und Sie wollen, dass ich mich für Ihre Fragen zur Verfügung stelle, wie ein … wie ein Verdächtiger? Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein!«

Ein Hauch von Röte zog über Hoffmann-Bühls Gesicht.

»Ich verstehe ja, dass Sie durch den Verlust Ihres Freundes –«

»Er – war – nicht – mein Freund!«, unterbrach Leo sie um einiges lauter, als er beabsichtigt hatte.

»Wie auch immer, Sie chören von uns. Schönen Tag noch, Cherr Kollege.«

Damit drehte sie ihm den Rücken zu und wandte sich an die Leute vom Kriseninterventionsteam.

Bevor Leo wegfuhr, lehnte er sich an den Defender und blickte lange auf den unaufhaltsam vorüberziehenden Fluss. Wie oft war er, schon als Kind, hier vorbei geschwommen, gepaddelt oder am jenseitigen Ufer geradelt? Wahrscheinlich über hundert Mal. Und jedes einzige Mal hatte er dieselbe Ehrfurcht vor diesem Ort empfunden. Wenn ihn die Strömung an den Mauern des anderthalb Jahrtausende alten, wenn nicht noch älteren Klosters vorübertrieb, dann sah er einen Ort zeitloser Beständigkeit. Er fühlte sich wie in einem tickenden Kettenkarussell, das immerzu um einen steten Mittelpunkt kreist, und dieser Mittelpunkt war das Kloster Weltenburg – eine Feste inmitten der rastlosen Welt, die sich außerhalb der Klostermauern unentwegt weiterdrehte, sich veränderte, verging und wieder erstand, eine Welt, die so beständig war wie das Sonnenglitzern auf den Donauwellen an heißen Sommertagen.

Und nun stand er an seinem Fluss und fragte sich, was da an ihm vorbeigezogen sein mochte, was er nicht mitbekommen hatte. Was war mit Tim Gräber passiert und wie kam diese überambitionierte Kollegin dazu, ihn wie einen Schuljungen zu behandeln und sogar – hatte sie das wirklich? – in den Kreis der Verdächtigen mit aufzunehmen? Moment mal: Was für ein Kreis? Galt er sogar als einziger Verdächtiger? Leo schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf und bückte sich nach einem flachen Kieselstein. Er schleuderte ihn aus der Hüfte heraus auf das Wasser, um ihn darüber tanzen zu lassen, aber anstatt vier-, fünfoder sechsmal über die Wasseroberfläche zu hüpfen, versank er nach dem zweiten Sprung mit einem hohlen Plattscher für immer und ewig in den unergründlichen Tiefen des Donaudurchbruchs.

5

Adi rührte in seinem Teeglas und sah dabei angewidert auf Leos Kaffeehaferl, auf dem die Kelheimer Befreiungshalle auf der einen und die Regensburger Walhalla auf der anderen Seite, beides Bauwerke Leo von Klentze, abgebildet waren.

»Ich werde nie verstehen, wie du dieses Automatengesöff runterkriegst«, sagte er zu Dietz.

»Und mir geht nicht ein, was man nur an Tee finden kann. Ich gebe zu, dass er immer richtig lecker riecht, aber letztendlich schmeckt er dann doch nur nach heißem Wasser.«

»Das ist auch kein normaler Tee, du Kulturbanause«, rief Adnan.

»Das ist echt türkischer Kaçkar. Was Besseres gibt es nicht auf der Welt!«

Aber Leo hörte schon nicht mehr zu. Er hatte an seinem PC die Fenster mit den aktuell zu bearbeitenden Fällen, sprich unzähligen Formularen, Anträgen und Anfragen, kleingemacht und Bilder von historischen Lanzen aufgerufen. Nach einer Weile stieß er auf eine Waffe, die ziemlich so aussah, wie die am vergangenen Freitag in Weltenburg, mit der Gräber ermordet worden war. Leo machte das Bild größer und klickte auf Drucken. Da der Drucker in der Mitte ihrer beider Tische stand, sah Adnan den Ausdruck und blickte fragend zu seinem Kollegen hinüber.

»Ist das so eine Lanze wie die in Weltenburg, von der du mir erzählt hast?«

Dietz nickte.

»Eigentlich hätte ich sie fotografieren sollen, aber dann hätte mir die Landshuter Schnepfe wahrscheinlich noch Handschellen angelegt.«

Adi zog das Bild aus der Druckerausgabe.

»Weißt du was, die sieht aus wie die Lanze des Longinus. Da gibt’s doch hunderte Filme drüber.«

Leo verstand nicht sofort, was sein Kollege meinte.

»Geht’s jetzt um Das Leben des Brian, oder was meinst du?«

»Ich sag’s ja, du bist einfach ein Kulturbanause!«, lachte Adi.

»Nein, Mann. Dies hier ist eine Abbildung der Lanze, mit der der römische Soldat Longinus Jesus am Kreuz in die Seite stach, um zu sehen, ob er noch lebte«, erklärte er.

»Ach so, ja, klar, die Geschichte kenne ich schon. Die deutsch-römischen Kaiser hatten ja immer behauptet, sie in ihrem Besitz zu haben …«

Leo googelte die Lanze des Longinus und bekam sofort über eine Million Treffer.

»Hör mal, hier steht, dass sogar Hitler und Himmler persönlich danach gesucht haben und dass Reste davon in der alten Reichskrone eingefasst wurden. Die Krone befindet sich jetzt in der Wiener Schatzkammer.«

»Klar«, meinte Adi, »das ist wie bei Indiana Jones: Sobald es irgendwo auf der Welt einen sakralen Fetisch gibt, manchmal ist es die Bundeslade, manchmal der Gral, dann sind sofort die Nazis hinterher und wollen damit die Welt erobern, gutes, altes Hollywood eben. Aber letzten Endes sind das alles nur Legenden ohne jeglichen wissenschaftlichen Beleg.«

Leo sah auf die Uhr. Er musste es heute unbedingt pünktlich nach Hause schaffen. Seine Tochter spielte um neunzehn Uhr bei einem kleinen Schultheaterstück mit, worauf er sich schon seit Wochen freute. Michaela hatte Anna und ihm kein Sterbenswörtchen über ihre Rolle verraten, nur so viel, dass es sich um ein lustiges Stück handeln sollte. Aber von Aufregung konnte bei Michaela gar keine Rede sein. Anna hingegen war schon die ganze Woche nervös und auch Leo würde seinen Blutdruck auf die Zerreißprobe stellen, wenn sein kleiner, lispelnder Engel in zwei Stunden die Bühne in der Schulturnhalle betreten sollte. Also fuhr er den PC herunter, schüttete den mittlerweile kalten Milchkaffee runter und steckte den Ausdruck mit der schwarzen Lanze in seine Jackentasche. Gerade wollte er sich von Adi verabschieden, als sein privates Handy läutete. Die Nummer kannte er nicht.

»Ja, hallo, hier Leo Dietz?«, meldete er sich.

»Challo Cherr Dietz, Choffmann-Bühl am Apparat«, meldete sich das andere Ende der Leitung, »wir chatten gestern das Vergnügen.«

»Äh, ja, hallo Frau Hoffmann-Bühl«, erwiderte Leo und schielte genervt zu Adi hinüber, »wieso rufen Sie auf dieser Nummer …«

»Wir chaben mit Tim Gräbers Frau gesprochen«, unterbrach sie ihn schon wieder. Aus einem gewissen Trotz heraus antwortete er nicht, sondern wartete ab, was da noch kommen würde.

»Sie cheißt Katja. Erinnern Sie sich?« Nein, das tat er nicht.

»Tut mir leid, ich habe zwar einmal gehört, dass Tim geheiratet hätte, aber ich wusste nicht, wen.«

»Sie erinnern sich also nicht an Katja?«, hakte Hoffmann-Bühl nach.

»Nein, weshalb sollte ich das denn?«

»Das ist aber komisch, Cherr Kollege. Denn Frau Gräber erinnert sich sehr wohl an Sie. Sie sagt, sie chätten sich früher sogar sehr gut gekannt, ihr Geburtsname ist übrigens Kuhning.«

Katja Kuhning? Das war absolut unmöglich! Auch sie hatte mit Tim und Leo dasselbe Gymnasium besucht, aber die Uncoolen und Loser seinerzeit niemals auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt. Vermutlich wusste sie gar nicht, dass es außer ihrem kleinen, privaten Fanclub, der ihr auf Schritt und Tritt folgte, noch andere sterbliche Lebewesen in der Klasse gab. Wie sollte sich so ein Mädchen, beziehungsweise so eine Frau, mit jemandem wie Tim Gräber einlassen? Katja Kuhning war der Inbegriff des schönen Biests, des blonden Gifts, aus einem amerikanischen Highschool-Film. Die Welt war für sie getrennt in Verehrer, Diener und Kriechtiere. Ganz ohne Frage war sie das meist verehrte und begehrte Mädchen der Schule. Als sie sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, wurde sie zur Weißbierkönigin gewählt – ja, auch Leo hatte für sie gestimmt – und bei der kleinen Siegesfeier im Tennisheim waren sie sich sogar ziemlich nahegekommen, woraus eine fast zweiwöchige, leider ziemlich einseitige Beziehung entstand, deren Feuer seitens der frisch gekürten Weißbierkönigin schneller erloschen war, als man bis drei zählen konnte. Katja Kuhning und Tim Gräber! Wie konnte denn das zusammenpassen? Die Göttin und der Loser …

»Chören Sie, Cherr Kollege, abgesehen von Ihrer kleinen Gedächtnislücke wundert es mich ja nicht, dass bei Ihnen da unten jeder jeden zu kennen scheint.«

Was sollte denn das nun wieder? Leo hasste es, wie sie bei Ihnen da unten sagte, und fragte sich ganz nebenbei, wieso denn aus Landshuter Sicht Kelheim unten sei.

»Aber da gibt es noch etwas anderes«, fuhr sie fort. Wieder wartete Leo ab, ohne Hoffmann-Bühl zu antworten.

»Frau Gräber möchte mit Ihnen sprechen.«

»Mit mir? Aber wieso das denn?«, entfuhr es Leo.

»Das weiß ich nicht, Cherr Kollege. «

Beim nächsten Cherr Kollege würde er durchs Telefon springen, schwor sich Leo.

»Aber sie bestand darauf, mit Ihnen sprechen zu dürfen. Ich vermute mal, sie möchte auch wissen, was Sie und ihr Mann in aller Cherrgottsfrüh im Kloster Weltenburg zu schaffen chatten.«

»Das verstehe ich natürlich. Ich möchte mich aber in keinster Weise in Ihre Ermittlungen einmischen, Frau Kollegin«, sagte Dietz genüsslich.

»Deswegen chabe ich Sie angerufen. Chierbei – und nur chierbei – chaben Sie grünes Licht. Ihren Bericht können Sie mir gerne per E-Mail zusenden. Guten Abend.«

Und weg war sie.

»Meinen was? Meinen Bericht?«, rief Leo laut und hätte am liebsten sein Handy an die mintgrüne Wand geworfen.

»Bin ich jetzt vom Mordverdächtigen zu ihrem Assistenten aufgestiegen, oder was?«

Er wandte sich an Adnan.

»Adi, bitte sag mir, dass hier irgendwo eine versteckte Kamera ist und sich jemand mit ganz, ganz komischem Humor eine Schmierenkomödie ausgedacht hat und mir diesen Dolores Umbridge-Verschnitt auf den Hals geschickt hat!«

Aber Adi zuckte nur verständnisvoll lächelnd mit den Schultern und sagte »Lass dich doch von der Landshuterin gehörig am … apropos Komödie – wollte da nicht jemand sich noch in Schale schmeißen und dem Theaterspektakel des Jahrhunderts beiwohnen?«

»Oh scheiße, nicht schon wieder zu spät!«, rief Leo, sprang auf, boxte seinem Partner zum Abschied gegen die Schulter und rannte ins Treppenhaus.

Anna trug ein kurzes, hellblaues Kleid mit einem weißen Tuffschal und hohen, weißen Schuhen. Sie sah darin zum Anbeißen aus. Leo hatte sich extra passend zu Annas Kleid einen dunkelblauen Anzug und eine hellblaue Krawatte gekauft. Als er zu Hause in den Spiegel sah, fand er sich recht passabel, um ganz ehrlich zu sein, sogar ziemlich attraktiv. Wenn er sich so mit anderen Männern auf der Zielgeraden in die Fünfzig verglich, konnte er sich eigentlich nicht beklagen. Auch seine Fitness war mehr als passabel, er fühlte sich sogar besser in Form als in seinen Dreißigern.

Michaela war schon lange von der Mutter einer ebenfalls mitwirkenden Klassenkameradin abgeholt worden, sodass das Paar Dietz/Stadler alleine mit Annas schwarzem Sportflitzer an der Turnhalle mit der kleinen Theaterbühne vorfuhr und nach dem einen oder anderen Plausch mit bekannten Eltern und Lehrern in der dritten Reihe Platz nahm, um Hand in Hand freudig darauf zu warten, dass sich der Vorhang hob.

Das Stück war als krönender Abschluss eines klassenübergreifenden Projekts ein mit viel Liebe und Mühe arrangiertes Plädoyer für das soziale Miteinander und mehr Empathie in der modernen Multikultigesellschaft. Als Schauspieler traten aber nur die Viertklässler auf. Somit kam der Aufführung ein gewisser vorweggenommener Abschiedscharakter zu, denn mit Michaela sollten noch viele andere Schüler diesen Herbst auf weiterführende Schulen wechseln.

Den zentralen Schauplatz des Stücks stellte ein kleiner Kramerladen vor, dessen Inhaberin von Michaela gespielt wurde. Die Pointe bestand darin, dass die Kunden, je nachdem, mit wem sie gerade zusammentrafen, im Gespräch über Gott und die Welt ihre Meinung wie die Hemden wechselten und so ständig ihr Fähnchen nach dem Wind hängten. Ein Klassenkamerad, dessen Name Leo nicht kannte, gab einen Asylbewerber, der als Aushilfe in dem kleinen Kramerladen arbeitete und mit seinen ehrlichen, naiven Fragen an die Chefin über das Verhalten ihrer Kundschaft die Doppelmoral der Menschen aufdeckte und auch dem Publikum einen Spiegel vorhielt. Der Junge war wirklich gut und bekam viel Szenenapplaus, wobei Leo immer wieder um sich sah und sich fragte, wie viele der laut klatschenden Moralapostel im Publikum bei der letzten Wahl ihr Kreuzchen heimlich bei den Rechtsextremen gemacht hatten.

 

Aber auch Michaela verkörperte ihre Rolle als Tante Emma mit Schürze und grau gepudertem Dutt mit Bravour. Nur einmal verhaspelte sie sich im Text, aber das schien außer Anna niemandem sonst aufzufallen. Leo indessen war vor Stolz kurz vorm Platzen. Seine Augen ruhten auf der kleinen Michaela, oder Lela, wie sie sich als Kleinkind immer selbst genannt hatte, da sie ihren kompletten Namen noch nicht aussprechen konnte, und plötzlich bekam er, wie aus heiterem Himmel, Angst – nein, es war mehr als Angst, er hatte eine regelrechte Panikattacke. Erst fühlte er einen kleinen Schauer im Nacken, dann spürte er, wie sein Atem schneller und schneller ging und sein Herz zu rasen anfing. Anna sah ihn erschrocken an und flüsterte ihm zu »Geht es dir nicht gut, Leo? Du bist kreidebleich.«

Leo spürte den kalten Schweiß auf der Stirn und fühlte sich elendig.

»Alles gut, Schatz«, flüsterte er zurück, »hier ist es nur ein bisschen stickig und ich habe außer literweise Kaffee seit dem Frühstück noch nichts im Bauch.«

Er machte den obersten Hemdknopf auf und lockerte seine Krawatte.

Es war Anna deutlich anzusehen, dass sie sich mit dem leeren Bauch nicht zufrieden gab, aber sie drückte Leos Hand ein wenig fester, schob ihr Bein etwas enger an seines und versuchte, sich wieder auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren.

Nach endlosen Augenblicken der Hilfslosigkeit und einem kalten Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins beruhigte sich Leo langsam wieder und versuchte, sich alles mit dem Stress der letzten Tage und seinem übertriebenen Kaffeekonsum zurechtzulegen.

Als die kleine Familie schließlich zu Hause war, drehte sich natürlich alles um die kleine Schauspielerin, die sich nach ihrem großen Erfolg zu Mama und Papa ins Bett kuscheln durfte; und auch in den darauffolgenden Tagen gab es keine Gelegenheit, den kleinen Vorfall zu besprechen. Also schlich sich wieder der gewohnte Alltag ein. Eine Zeitlang nahm alles seinen gewohnten Gang wie eh und je – eine Zeitlang.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?