Handbuch Anti-Aging und Prävention

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Alternsintervention in Deutschland

Bei jedem Mittel gegen das Altern, das in den vergangenen 20 Jahren in die Schlagzeilen gelangte, lief die Diskussion immer nach dem gleichen Schema ab: Mögliche Wirkungen gegen Alterungsprozesse und der gesundheitliche Nutzen wurden jeweils ausführlich beschrieben und nicht selten wurden große Hoffnungen geschürt. So weit die Theorie. Sobald es aber um die praktische Umsetzung und vor allem um die konkrete Verfügbarkeit für die Bürger ging, mündeten alle Empfehlungen in Aussagen wie: „Noch immer sind nicht alle Fragen geklärt.“ Und: „Von einer konkreten Anwendung ist abzuraten, bis ausreichende Forschungsergebnisse vorliegen.“ Kommt Ihnen das bekannt vor?

Nun ist es ja durchaus redlich, ausreichende Erkenntnisse abwarten zu wollen. Der Begriff „ausreichend“ ist jedoch subjektiv und lässt Spielraum nach beiden Seiten. Allgegenwärtig sind die berechtigten Warnungen vor unseriösen vorschnellen Empfehlungen. Doch es gibt auch das andere Extrem, nämlich grundsätzlich jeden Wissensstand beim Thema aktive Prävention als „nicht ausreichend“ zu bezeichnen.

Neue Herausforderungen verlangen nach neuen Antworten

Die besondere Situation beim Thema Alterung machte eines sehr bald deutlich: Anders als bei der Zulassung von Medikamenten gegen Krankheiten können Behörden auf dem Gebiet der persönlichen Prävention nicht die Rolle des Vormunds für jeden Einzelnen einnehmen. Aus diesem Grund wurde in den USA und anderen Ländern den Bürgern die Nutzung von Mitteln wie hoch dosierten Vitaminen, Melatonin, DHEA oder Antioxidantien in Eigenverantwortung ermöglicht; und das geschah nicht etwa, weil die Behörden dort weniger sicherheitsorientiert wären als bei uns.

Der wichtigste Punkt: Die Beweislast wurde umgekehrt. Um jetzt erwachsenen Personen die Nutzung eines Wirkstoffs oder einer bestimmten Therapie für die persönliche Prävention zu verbieten, müssen Medizinbehörden ihrerseits eindeutige Belege für eine relevante gesundheitliche Gefährdung vorlegen. Der über Jahrzehnte alles blockierende Verweis auf angeblich nicht ausreichende Wirksamkeits- und Sicherheitsbeweise ist damit nicht mehr möglich beziehungsweise nun auf das reduziert, was er sein soll: ein Warnhinweis. Das hat die gesamte Situation grundlegend verändert.

In Deutschland hingegen versucht man immer noch, das Thema Alterungsprophylaxe in die Paragrafen althergebrachter Verordnungen des Gesundheits- und Medikamentensystems zu pressen. Ein Zustand, der nicht nur die praktische Umsetzung präventiver Strategien erschwert, sondern bereits vom Ansatz her den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen dieses immer wichtiger werdenden Bereichs nicht gerecht wird.

Bleibt abzuwarten, wie lange man in Deutschland auf diesem Gebiet den Entwicklungen in anderen Ländern hinterherhinkt. Letztlich wird allein der Druck aus der Bevölkerung die Lage verändern können. Dieses Buch soll deshalb dazu beitragen, nicht nur das Wissen, sondern auch die praktischen Möglichkeiten für aktive Alternsintervention zu verbessern. Die Zeit ist reif!

„Ich brauche Informationen. Eine Meinung bilde ich mir selbst.”

CHARLES DICKENS [englischer Novellist, 1812–1870]

Ein Tummelplatz für Schwindler

Kaum ein Gebiet der Wissenschaft ist so von unterschiedlichen Interpretationen, gegensätzlichen Meinungen und persönlichen Auffassungen geprägt wie die experimentelle Gerontologie, die sich mit konkreten Maßnahmen zur Beeinflussung des Alterns beschäftigt. Das gilt ganz besonders für die praktische Alternsbeeinflussung beim Menschen.

Bereits in seinem Bestseller von 1798 (Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern) stöhnte der berühmte Arzt Wilhelm C. Hufeland genau über diese spezielle Problematik. Dabei war die Unterscheidung zwischen seriösen und unseriösen Empfehlungen zum Thema Lebensverlängerung bis in die Neuzeit vergleichsweise einfach. Aufgrund des geringen Wissens um die Ursachen der Alterung waren die meisten feilgebotenen Jungbrunnen eher Strohhalme der Hoffnung als Ergebnis wissenschaftlicher Forschung.

„Dieses Problem war schon immer ein bevorzugtes für die klügsten Köpfe, ein Spielfeld für Tagträumer, und die größte Verlockung für Scharlatane und Schwindler.”

WILHELM CHRISTOPH HUFELAND [deutscher Arzt und Begründer der Makrobiotik, 1762–1836]

Für viele immer noch ein Tabuthema

Als sich im 20. Jahrhundert ernsthafte Wissenschaftler mit der Frage beschäftigten, wie eine Verjüngung beim Menschen praktisch möglich sein könnte, geschah etwas Merkwürdiges: Es änderte sich nämlich nichts an der Vorverurteilung der Praktiker. Nach wie vor genügte allein die Beschäftigung mit diesem Thema, um als unseriös zu gelten. Bis in die Gegenwart blieb der menschliche Alterungsprozess für Religiöse eine göttliche Bestimmung, für andere ein unumstößliches Naturgesetz und für wieder andere ein wissenschaftliches Mysterium, das sich kaum erschließen lässt. Und wenn, dann bestimmt nicht mit „einfachen“ Methoden.


„Schritt 1: Tragen Sie die Wunder-Cellulite-Creme auf die Problemzonen auf. Schritt 2: Laufen Sie 15 Kilometer.“

„Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.”

ALBERT EINSTEIN [deutscher Physiker und Nobelpreisträger, 1879–1955]

Hohn und Spott für einige der wichtigsten Entdeckungen

Dies musste auch ein junger Wissenschaftler mit Namen Clive McCay erfahren, als er 1934 vortrug, der Alterungsprozess lasse sich in erheblichem Maße verzögern; und zwar allein durch Verringerung des Energieumsatzes mithilfe von Nahrungseinschränkung. Von den „seriösen“ Wissenschaftlern gab es Gelächter und bestenfalls mitleidige Minen.

Die Vorverurteilung war so absolut, dass niemand sich dafür interessierte, ob die von McCay gewonnenen Daten korrekt erhoben worden waren oder nicht. Sie waren es. Dennoch hat es ein halbes Jahrhundert gedauert, bis McCays Ergebnisse allgemein anerkannt wurden. Heute gilt die sogenannte kalorische Restriktion als die sicherste und sogar effektivste Methode, um Alterungsprozesse drastisch zu verzögern und die Lebensspanne entscheidend zu verlängern (vgl. II.12).

Anderen erging es noch schlimmer. Der Physiologe Eugen Steinbach unternahm noch vor McCay Studien zur Verjüngung. Er versuchte, unter anderem durch Drüsenverpflanzungen bei Tieren verjüngend wirkende Hormonveränderungen hervorzurufen, und erzielte damit beachtliche Erfolge. Als er seine Ergebnisse aber an jenem 5. Dezember des Jahres 1912 an der Wiener Akademie der Wissenschaften vortrug und von der Möglichkeit sprach, auch beim Menschen Alternsprozesse zu beeinflussen, sah er sich nur Anfeindungen gegenüber. Die Verunglimpfungen seitens seiner Kollegen wurden trotz oder gerade wegen des steigenden Interesses der Bevölkerung so erdrückend, dass Steinbach ins Exil ging und völlig resignierte. Heute, lange nach seinem Tod, gilt Eugen Steinbach als einer der Pioniere der Hormonbehandlung.

Doch die Problematik hat sich auch beim Thema Hormone bis ins 21. Jahrhundert nicht grundlegend geändert. Während Hormonsubstitutionen aus medizinischen Gründen (zum Beispiel Insulin) oder auch wegen des Lifestyles (Antibabypille) mittlerweile Routine sind, werden Ärzte, die Hormone gezielt gegen degenerative Alterung einsetzen, pauschal kritisiert. Staatliche Forschungsgelder gibt es kaum. Dabei lassen sich reparative und präventive Wirkungen oft nicht trennen. Ein Beispiel ist die Hormonoptimierung bei Frauen nach der Menopause (siehe Kapitel II.5).

„Wahrheiten werden, solange man sie nicht begreift, Dummheiten genannt.”

DANIEL SPITZER [österreichischer Satiriker, 1835–1893]

Vorsicht bei Übertragung von Tierstudien auf den Menschen

Nur ein Teil der Vorgänge beim menschlichen Alterungsprozess kann direkt am Menschen untersucht werden. Tierstudien sind deshalb in der experimentellen Gerontologie unverzichtbar und haben sich auch als äußerst reliabel erwiesen. Spätestens aber, wenn man die gewonnenen Erkenntnisse praktisch am Menschen anwenden will, wird die Frage nach der Übertragbarkeit neu aufgeworfen – zu Recht. Denn Tiermodelle können keineswegs immer eins zu eins auf den Menschen übertragen werden.

Lebensverlängerung durch Gelée royale?

Ein Beispiel dafür, wie Tierstudien fehlinterpretiert und damit in Misskredit gebracht werden, ist Gelée royale, der Futtersaft, mit dem Bienenköniginnen aufgezogen werden: Bienen leben nur etwa drei Monate. Werden sie aber im Larvenstadium nicht mit Honig, sondern mit dem ebenfalls von den Bienen produzierten Gelée royale gefüttert, entwickeln sie sich zu Königinnen mit einer Lebensspanne von mehreren Jahren. Entsprechend wurden in der Laienpresse Hoffnungen genährt, beim Menschen wirke dieser Saft ebenfalls lebensverlängernd. Das ist nicht der Fall. Ursache für diesen Effekt bei Bienen ist eine genetische Besonderheit, die bei anderen Insekten nicht vorliegt – und beim Menschen erst recht nicht.

Interessanterweise wird meist verschwiegen, dass die Königinnen durch die besondere Fütterung um ein Vielfaches schwerer werden als die anderen Bienen. Dieser Effekt soll natürlich möglichst nicht auf den Menschen übertragen werden. Unabhängig vom Aspekt Lebensverlängerung gibt es allerdings seriöse Hinweise auf gesundheitlich positive Effekte.

Mäuse haben nie Alzheimer

Es wäre schön, wenn kurzlebige Tiere immer einfach ein verkleinertes Modell der menschlichen Alterung wären. Leider ist dem nicht so. So laufen Nagetiere nicht Gefahr, typische menschliche Alterskrankheiten des Gehirns wie Parkinson oder Alzheimer zu erleiden. (Inzwischen gibt es allerdings genetisch gezielt veränderte Mäusestämme, bei denen sich Alzheimer imitieren und untersuchen lässt.) Krebserkrankungen hingegen lassen sich bei Mäusen und Ratten sehr gut untersuchen, weil die Tumorbildung dort recht vergleichbar mit der beim Menschen abläuft. Auch Nierenleiden sind bei Mäusen eine häufige Todesursache. Bei Fliegen wiederum, einem anderen wichtigen Forschungsobjekt in der Alternsbiologie, teilen sich die Zellen des erwachsenen Tieres nicht mehr. Entsprechend können sich bei ihnen keine Tumoren bilden.

 

Die Besonderheiten der verschiedenen Labortiere im Hinblick auf die Übertragbarkeit auf den Menschen sind heute ein eigener Forschungszweig. Jedes Tiermodell kann uns also nur ganz bestimmte Antworten für unsere eigene Alterung geben. Wird das allerdings berücksichtigt, lassen sich diese einzelnen Mosaiksteine dann zu einem sehr genauen Gesamtbild zusammensetzen.

Länger leben heißt nicht automatisch: besser leben

Ein Punkt, der gelegentlich auch von Wissenschaftlern wenig beachtet wird, sind qualitative Aspekte. Ein Beispiel: Angenommen, es wird ein neues Mittel gegen das Altern getestet. Und tatsächlich verlängert es die durchschnittliche Lebensdauer von Versuchstieren um 30 Prozent. In der Regel geht jetzt jeder stillschweigend davon aus, dass die gewonnene Lebenszeit auch qualitativ eine gute ist. In den meisten Fällen ist das auch so. Um allerdings sicher gehen zu können, müssen in den Studienberichten Angaben zum Zustand der Tiere und zur endgültigen Todesursache enthalten sein. Viele Untersucher beschränken sich aber ausschließlich auf Zahlen und sparen mit qualitativen Beschreibungen. Der Grund ist nicht immer Nachlässigkeit. Als Forscher läuft man leider schnell Gefahr, unseriös zu wirken, wenn man etwa betont, dass die untersuchten Tiere trotz ihres Alters ein „glänzendes Fell“ hätten oder „auffallend munter“ seien.

Wir jedenfalls haben versucht, für den nachfolgenden Praxisteil diese und andere kritische Aspekte bei der Beurteilung der vielfältigen Zahlen und Daten zu berücksichtigen.

*

Mit den wesentlichen Grundlagen, die wir bis hierher kennengelernt haben, mit der Kenntnis der Fallstricke, vor allem aber mit dem Wissen um die Beeinflussbarkeit der menschlichen Alterung ausgerüstet, können wir uns nun dem wichtigsten Teil des Buches widmen, der gezielten Beeinflussung unserer Alterung.

II.

II. 1
Altersuhr Gene

„Die sicherste Methode, ein hohes Lebensalter zu erreichen, ist die geschickte Auswahl der Eltern.”

CHRISTOPH WILHELM HUFELAND [deutscher Arzt und Begründer der Makrobiotik, 1762–1836]

Variable Schrittmacher

An der Genetik scheiden sich die Geister. Die einen lehnen genetische Forschung als Eingriff in eine höhere Ordnung ab, andere sehen in diesem Gebiet einen Schlüssel, mit dem sich Krankheiten und auch das Altern besiegen lassen. Schon gibt es Stimmen, die angesichts der Fortschritte in der Grundlagenforschung zur Zellalterung bald eine Lebensspanne von 200 bis 300 Jahren beim Menschen für erreichbar halten. Starke Worte.

Weil dabei große Hoffnungen geweckt werden, möchten wir diesen Forschungsbereich nicht auslassen; auch wenn die Genetik kein Gebiet zu sein scheint, bei dem wir selbst aktiv werden können. Oder doch?

Menschliche Zellen erneuern sich nicht unbegrenzt

Bis vor 50 Jahren herrschte die Lehrmeinung, dass sich Zellen immer wieder teilen und damit erneuern und verjüngen können. Altern und Zelltod galten als eine Folge äußerer Einflüsse.

Entsprechend groß war der Schock, als in den 60er-Jahren ein damals unbekannter Forscher mit Namen Leonard Hayflick aufgrund von Tests behauptete, menschliche Zellen könnten sich nicht unendlich oft teilen, sondern nur in genau begrenzter Häufigkeit. Das Altern wäre somit nicht von äußeren Einflüssen oder einer übergeordneten Macht verursacht, sondern hätte seine festgelegten Ursachen im Erbmaterial der Zellen. Gibt es vielleicht sogar eine zentrale Altersuhr in unseren Genen, die das Leben irgendwann abschaltet? Wir wären jedenfalls nicht die einzigen Lebewesen, die so eine Steuerung besäßen.

Genetische Todesprogramme

Bei vielen Pflanzen und Tieren werden Altern und Tod sehr exakt von genetischen Programmen gesteuert – manchmal auf wirklich eindrucksvolle Art und Weise: Pazifische Lachse etwa sterben kurz nach ihrer ersten und einzigen Eiablage und nachdem riesige Mengen ausgeschütteter Stresshormone eine rasend schnelle Alterung bewirkt haben. Innerhalb weniger Tage entstehen bei den Fischen atherosklerotische Veränderungen und ein altersschwaches Immunsystem. Tintenfischweibchen sind gesund und leistungsfähig, bis sie ihre Brutpflege für die Eier geleistet haben. Unmittelbar nach dem Schlüpfen ihrer Jungen beginnen sie plötzlich im Zeitraffer zu altern und sterben.

Auch Programme lassen sich überlisten

Wie man sieht, können Altern und Tod tatsächlich exakt genetisch gesteuert sein. Die Beispiele aus dem Tier- und Pflanzenreich zeigen gleichzeitig aber auch etwas anderes: Selbst scheinbar streng festgelegte genetische Alterungsprogramme sind variabel, ändern sich und können gezielt unterlaufen werden.

Agaven sterben normalerweise sofort nach dem Blühen ab. Wird der Blühvorgang aber verhindert, lassen sich die Pflanzen praktisch unbegrenzt am Leben halten. Bei unserem gerade erwähnten Tintenfisch genügt es, den erwachsenen Tieren ihre speziellen optischen Drüsen zu entfernen. Dadurch wird das Brutverhalten unterbrochen und die Tintenfische leben etwa dreimal länger als genetisch ursprünglich „vorgesehen“.

In den Genen kodierte Alternsprogramme sind also durchaus keine starren Abläufe, sie werden vielmehr von äußeren Faktoren mitbestimmt. Es ist deshalb möglich, in genetische Abläufe auf indirekte Weise einzugreifen – auch bei uns Menschen. Wie wir später noch sehen werden, ist das gar nicht so kompliziert, wie es das Thema Genetik vermuten lässt.

Suche nach den Todesgenen

Anstatt Alternsprogramme über Umwege zu unterlaufen, kann man den genetischen Code natürlich auch direkt verändern. Vorausgesetzt, man weiß wo. Bei einem Fadenwurm ist das inzwischen gelungen. Wissenschaftlich heißt das Tier Caenorhabditis elegans.

Dieser sehr kleine Wurm ist mittlerweile so gut untersucht, dass alle Gene identifiziert wurden, die für seine Alterung verantwortlich sind. Wissenschaftler konnten das Erbmaterial des Tieres bereits gezielt verändern. Resultate des Eingriffs waren eine verlangsamte Alterung und eine dreimal längere Lebensspanne. Unter anderem produzieren entsprechend genetisch veränderte Tiere größere Mengen von Antioxidantien. Sie sind also besser gegen schädliche Radikale geschützt. (Anmerkung: Radikale sind auch beim Menschen für das Altern mitverantwortlich. Im nächsten Kapitel werden wir uns ausführlich mit ihnen beschäftigen.)

Auf den Menschen übertragen würde das Beispiel des Fadenwurms eine mittlere Lebensdauer von 250 Jahren ergeben. Steckt auch bei uns ein Jungbrunnen in den Genen, wenn wir nur genau nachsehen? Wäre die Antwort ja, könnte sich die Suche allerdings hinziehen. Beim kleinen C. elegans hat die Entschlüsselung sämtlicher Codes viele Jahre gedauert. Dabei besteht sein gesamter Organismus aus gerade einmal 959 Zellen. Etwa ein Drittel davon sind Zellen des Nervensystems. Der Mensch dagegen besitzt schon allein im Nervensystem 1012 Zellen (das ist eine Zahl mit zwölf Nullen). An eine nicht nur theoretische Entschlüsselung der Gensequenzen, die gerade erst gelungen ist, sondern vor allem an eine praktische Nutzung ist dort in den nächsten Jahrzehnten nicht zu denken. Im Übrigen gibt es bisher überhaupt keine Vorstellung davon, wie eine konkrete Anwendung für den Einzelnen überhaupt umsetzbar wäre.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob es für uns überhaupt aussichtsreich ist, auf das Auffinden eines Todesgens zu hoffen. Bei fast allen höheren Lebewesen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch beim Menschen existieren nämlich keinerlei Anzeichen für die Existenz wirklicher Alterungsgene, die sich quasi bei einem bestimmten Alter oder Lebensereignis einschalten oder deren Aufgabe es gar ist, Altern und Tod zu verursachen. Im ersten Teil des Buches haben wir gesehen, dass sich die Alterung beim Menschen aus vielen verschiedenen Gründen eingeschlichen hat und sehr unterschiedliche Gene daran beteiligt sind; auch pleiotrope Gene, die gleichzeitig wichtige positive Aufgaben haben. (Vgl. Abschnitt "Warum die Natur sich Altern leisten kann")

Bleibt die Frage, inwieweit der Teilungsstopp unserer Zellen als eine Art Todes- oder Alterungsbefehl wirkt. Sehen wir uns die Sache etwas genauer an.

Telomere

Damit aus einer Zelle zwei neue voll funktionstüchtige Tochterzellen entstehen können, muss der im Zellkern gespeicherte Bauplan exakt kopiert werden. Schon in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts fand man heraus, dass dabei an den Informationssträngen angelagerte Endkappen eine entscheidende Rolle spielen. Der spätere Nobelpreisträger James D. Watson konnte 1972 zeigen, warum diese Endkappen, die Telomere getauft wurden, so wichtig sind. Der Kopiervorgang kann die äußersten Enden der DNA-Stränge aus technischen Gründen nicht optimal erfassen. Ein unvollständiges Ablesen aber hätte fatale Folgen für weitere Zellgenerationen.


Die quasi überstehenden Endkappen (Telomere) sorgen dafür, dass die komplette DNA gelesen werden kann, allerdings dann auf Kosten der äußeren Enden dieser Telomere. Das heißt, mit jeder Zellteilung werden die Telomere kürzer. Erreicht die Telomerlänge einen kritischen Wert, muss die Zelle weitere Teilungen einstellen, wenn sie Ablesefehler vermeiden will. Das Ende ihrer Teilungsfähigkeit ist erreicht.

Telomerase – Enzym der Unsterblichkeit

Die Endstücke der Chromosomen (Informationsstränge) geben also bei jeder Zellteilung ein Stück von sich ab und ermöglichen so ein komplettes Ablesen der genetischen Information, bis sie sozusagen aufgebraucht sind. Eine gefahrlose weitere Teilung ist dann für die Zelle nicht mehr möglich.

„Stopp!“, werden Sie nun vielleicht sagen, „es gibt aber doch Einzeller wie beispielsweise Bakterien, die sich unentwegt durch Teilung fortpflanzen. Wie können diese Zellen sich wieder und wieder teilen, ohne dass die Endstücke ihrer Chromosomen irgendwann zu kurz werden?“ – Ein wirklich guter Einwand. Über Jahrzehnte vermochte ihn niemand zu beantworten.

Exakt diese Frage trieb auch Elizabeth Blackburn um, eine Biologieprofessorin der Universität von Kalifornien. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, baute sie (kurz vor Weihnachten 1984) zusammen mit der erst 23 Jahre alten Studentin Carol Greider eine Art künstliche Telomere und tauchte sie in einen Extrakt aus zermahlenen Einzellern. Die junge Studentin konnte das Ergebnis kaum erwarten und so schlich sie sich noch am Weihnachtsabend ins Labor. Als sie die Zellbausteine herausnahm, hörte die Welt für einen Augenblick auf, sich zu drehen. Die Telomere waren wie von Geisterhand verlängert.

Des Rätsels Lösung lag in einem besonderen Enzym, das Einzeller in großer Menge besitzen. Es hat die Fähigkeit, die sich bei jeder Zellteilung verkürzenden Telomere wieder zu verlängern. Nur so wird das quasi ewige Leben der Einzeller ermöglicht. Die beiden Forscherinnen tauften das erstaunliche Enzym entsprechend seinen Fähigkeiten auf den Namen Telomerase.

Ein Enzym, das Zellen unendlich am Leben halten kann. Ein Baustein der Unsterblichkeit. Was für ein Fund! Wie immer dauerte es, bis die Tragweite erkannt wurde. Doch 2009 wurde Blackburn und Greider sowie dem Biologen Jack Szostak für diesen Durchbruch der Nobelpreis für Physiologie und Medizin verliehen.