Handbuch Anti-Aging und Prävention

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Ist Altern eine Krankheit?

Was meinen Sie dazu? Spontan würden die meisten Menschen die Frage eher verneinen. Andererseits häufen sich Krankheiten im Alter ganz erheblich. Zumindest scheint also eine enge Verbindung zu bestehen.

Über die Frage, wie Alter und Krankheit zusammenhängen, sind ganze Bücher und unzählige Artikel in Fachzeitschriften geschrieben worden. Das Meiste davon muss uns hier nicht interessieren. Im wesentlichen Teil dieses Buches geht es ja nicht um graue Theorie, sondern um konkrete, praktische Möglichkeiten, wie wir unser Altern verlangsamen und länger leistungsfähig bleiben können. Doch gerade deshalb lohnt es sich, zumindest einen kleinen Moment bei diesem Thema zu bleiben. Sie werden sehen, so theoretisch, wie die Frage klingt, ist sie gar nicht.

Alterskrankheiten – eine Folge schlechter Gewohnheiten?

Jeder, den Sie auf der Straße nach Alterskrankheiten fragen, würde Ihnen sofort wenigstens einige nennen können, etwa Parkinson, Diabetes, Atherosklerose, Alzheimer oder Krebs. Früher wie heute werden bestimmte Krankheiten geradezu zwangsläufig mit dem Altern verbunden.

In der Medizin ist dagegen immer noch eine andere Einschätzung verbreitet. Nach Medizinersicht treten Alterskrankheiten nur beim krankhaften und damit „unnormalen“ Altern auf. „Normal“ altert, wer von Krankheiten frei bleibt und ein durchschnittliches Alter erreicht. „Optimal“ altern hieße, ganz frei von Abbauprozessen zu sein und bis zum Erreichen der maximalen Lebensspanne von etwa 120 Jahren gesund zu bleiben.

Hat Krankheit also gar nicht direkt etwas mit Altern zu tun? Von der Antwort auf diese Frage hängt viel ab. Denn diejenigen, die Krankheit und Alterung als unabhängig voneinander betrachten, ziehen daraus folgenden Schluss: Weil krankhaftes Altern kein normales Altern darstelle, müsse man nicht das Altern selbst bekämpfen, sondern nur die Krankheiten. Anti-Aging-Therapien seien für lebenslange Gesundheit und Vitalität unnötig. Schließlich könnten Krankheiten durch das Ausschalten von Risikofaktoren verhindert werden. Und sogar für das sogenannte optimale Altern sei es ausreichend, Risikoverhalten wie Bewegungsmangel und ungesundes Essen zu vermeiden.

Kann also jeder von uns wirklich davon ausgehen, 100 Jahre oder noch länger gesund und leistungsfähig zu bleiben, wenn er einfach den bekannten Gesundheitsregeln folgt? Wir empfehlen, sich nicht auf solche Aussagen zu verlassen. Es gibt gute Gründe, die für eine andere Sichtweise sprechen.

Krankheit ist keine zufällige Begleiterscheinung des Alterns

Es ist zwar richtig: Übermäßiges Essen oder starker Alkoholkonsum fördern Krankheiten, auch im Alter. Und es gibt tatsächlich Hochbetagte, die auch mit 100 Jahren nicht „krank“ sind. Zumindest nicht im klassischen Sinn. Rücken wir aber die Relationen zurecht: Trotz einer Lebensspanne von über 120 Jahren erreicht lediglich ein einziger von 1Million Menschen auch nur das Alter von 105 Jahren. Alle anderen sterben vorher, die meisten viel früher, und sie leiden häufig gleich an mehreren chronischen und degenerativen Alterskrankheiten. Einen „natürlichen Tod aus Altersschwäche“ gibt es auch (und gerade) in unserer modernen Gesellschaft nicht.

Heute haben 2 von 100 Personen über 65 Alzheimer. Bei den über 85-Jährigen ist die Häufigkeit dieser Alterskrankheit bereits mehr als zehn Mal so hoch. In den Neunzigern steigt sie auf erschütternde 50 Prozent. Demenz ist dann nicht mehr Ausnahme, sondern Regel. Auch fast alle Krebserkrankungen nehmen im Alter zu, viele davon extrem. Die Mehrheit (!) aller 70-jährigen Männer hat zum Beispiel eine maligne Entartung der Prostata, häufig unentdeckt, weil dieser Krebs nur langsam wächst und viele an anderen Leiden sterben, bevor die Krebsfolgen zum Tragen kommen. Trotz verbesserter Heilungsmethoden sterben heute mehr Menschen an Krebs als jemals zuvor.

Die Liste von Zerfallsprozessen, Fehlfunktionen und krankhaften Abläufen, die parallel zur Alterung extrem zunehmen, ließe sich fortsetzen. Und das ist keineswegs nur die Folge ungesunder Lebensweise. Fast alle Säugetiere, unsere nächsten Verwandten im Tierreich, leiden im Alter an krankhaften Veränderungen der Blutgefäße – auch ohne ungesundes Verhalten. Und wie beim Menschen ist Krebs auch im Tierreich eine typische Begleiterscheinung des Alters und häufig sogar die führende Todesursache.

Den beeindruckendsten Beweis dafür, dass hinter Alterskrankheiten mehr steckt als ein ungesunder Lebenswandel, liefert jedoch ein Phänomen, das beim Menschen selbst auftritt. Es ist die „Progerie“.

Wenn die Alterung „rast“

Einmal im Jahr treffen sich Kinder, die alle ein trauriges Schicksal teilen. Sie haben Progerie, eine Form von vorzeitiger Vergreisung. Progerie gehört zu einer Krankheitsart, bei der die Alterung nicht so abläuft, wie es scheinbar für uns vorbestimmt ist.

Progerie: alte Kinder

Progerie bedeutet „vorzeitige Vergreisung”. Das Hutchinson-Gilford-Syndrom, wie die Progerie in der Fachsprache heißt, ist eine Erscheinung, von der etwa ein Kind unter vier bis acht Millionen Geburten betroffen ist. Wahrscheinlich wird das Auftreten durch eine spontane Genvariation verursacht.

Nach der Geburt ist noch nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Im Alter von einem Jahr können sich aber dunkle Schatten und eingefallene Stellen im Gesicht der Kinder zeigen. Der Aufbau- und Entwicklungsprozess dieser Kinder verläuft in etwa normal schnell. Parallel dazu sind aber alle körperlichen Alterungsprozesse sieben bis zehn Mal beschleunigt.

Der Haarwuchs wird schnell spärlich und bei Schulbeginn sind die Haare meist fast vollständig ausgefallen. Schon im Kindesalter wird die Haut welk und runzelig. Teenager haben Altersflecken, wie sie sonst erst im Alter von 90 Jahren typisch sind. Mit zehn bis zwölf Jahren plagen Arthritis, Arteriosklerose, Bluthochdruck, Diabetes und Herzbeschwerden die Kinder. Viele leiden unter Knochenschwund und Versteifungen. Manche sterben schon mit zwölf an Herzinfarkt. Andere erleben völlig vergreist und oft schon im Rollstuhl noch ihren 16. oder 18. Geburtstag. Eine echte Heilung gibt es bis jetzt noch nicht.

Altern fragt nicht nach der Zahl der Jahre

Das Phänomen der Progerie führt uns gleich mehrere Dinge vor Augen. Es zeigt sich einmal mehr, dass Altern kein Prozess ist, der erst nach Aufbau, Entwicklung und Wachstum beginnt. Altern ist ein eigenständiges Phänomen und interessiert sich nicht für die Zahl unserer Jahre. (Diesem wichtigen Punkt sind wir ja schon mehrfach begegnet.) Bei Vergreisungskrankheiten ist nicht der Zeitpunkt, sondern lediglich die Geschwindigkeit der Alterung eine andere.

Sonstige Lebensprozesse der von Progerie Betroffenen, ihre Entwicklung und ihr Wachstum, laufen dagegen normal schnell. Noch bevor die Kinder ausgewachsen sind, wird ihr Wachstum von starken Degenerationsprozessen überlagert. Das Ergebnis ist diese unfassbare Mischung aus Greis und Kindergestalt. Manche sterben noch mit ihren Milchzähnen.

Die wirkliche Ursache hinter Alterskrankheiten

Auch ein anderer Aspekt bringt unser ehernes und seit Generationen verinnerlichtes Bild vom Altern ins Wanken. Vielleicht hat Ihnen die geradezu unerhörte Tatsache bereits zu denken gegeben, dass bei Progerie fast alle klassischen „Wohlstandskrankheiten“ (wie Bluthochdruck, Diabetes und Herzleiden) auftreten. Und das, obwohl bei den betreffenden Kindern kein Risikoverhalten wie jahrzehntelanges zu fettes Essen, Bewegungsmangel oder Rauchen vorliegt. Ihre Gefäße sind „verkalkt“, ihre Gelenke „abgenutzt“. Spätestens im Alter von 10 bis 15 Jahren stellt sich bei Progerie eine Alterskrankheit nach der anderen ein.

Niemand würde auf die Idee kommen, diesen Kindern die Schuld an ihren „Wohlstandskrankheiten“ zuzuschreiben. Das wäre auch völlig unsinnig. Für die Abnutzungserscheinungen und auch für alle Krankheiten ist allein die beschleunigte Alterung verantwortlich.

Und noch etwas anderes wäre undenkbar: Kein Mediziner oder Wissenschaftler, der Menschen mit Progerie behandelt, glaubt daran, durch das Bekämpfen der einzelnen Krankheiten die Gesundheit der Kinder erhalten zu können. Denn eine schnell fortschreitende Alterung bringt immer neue Krankheiten hervor. Und es ist wie bei dem Drachen aus der Mythologie, bei dem sich für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue bilden: Ist die eine Alterskrankheit besiegt, kommen die nächsten schon zum Ausbruch. Was normalerweise erst mit 80 oder 90 Jahren typisch ist, geschieht hier bereits im Alter von 15.

Die Progerieforscher versuchen daher längst, statt der Einzelkrankheiten den wirklichen Feind zu bekämpfen. Es ist derselbe, den moderne Gerontologen ganz generell als Hauptursache für die klassischen Alterskrankheiten beim Menschen einstufen: die Alterung selbst. Nur wenn wir beginnen, Alterungsprozesse frühzeitig zu bekämpfen, werden wir auch als Gesellschaft die Herausforderungen der auf uns zukommenden Alterspyramide bewältigen. Was heute noch medizinischer Luxus zu sein scheint, wird in naher Zukunft zu unserer einzigen Chance für ein funktionierendes Gesundheitssystem werden.

„Wer das liest, der merke auf!”

Evangelium nach MATTHÄUS 24,16

Wir bestimmen bereits jetzt die Geschwindigkeit unserer Alterung

Wenn Alternsprozesse für die Häufung von Alterskrankheiten verantwortlich sind, ist unser Verhalten dann ohne Einfluss? Ist es vielleicht sogar nutzlos, Gesundheitsempfehlungen zu befolgen?

 

Unser Verhalten spielt definitiv eine Rolle. Denn das Altern ist, wie wir gesehen haben, kein festgelegter Ablauf. Durch Ernährungsfehler, Schlaf- und Bewegungsmangel tun wir nichts anderes, als Alternsprozesse zu beschleunigen. Und weil Altern eben tatsächlich beeinflussbar ist, funktioniert das sehr erfolgreich. Die Folge ist dann, ähnlich wie bei den vererbten Vergreisungskrankheiten, eine schnellere Alterung mit entsprechend früh einsetzenden chronischen und degenerativen Krankheiten. (Die beschleunigte Alterung kann den gesamten Organismus betreffen oder nur einzelne Bereiche.) Umgekehrt lassen sich durch Vermeidung von Risikoverhalten beschleunigte Alternsprozesse und Krankheiten vermeiden. Wir altern dann zumindest nur „normal schnell“.

Es geht um mehr als nur um die Erfüllung eines Jugendtraums

Wollen wir Gesundheit und Leistungsfähigkeit bis ins höhere Lebensalter erhalten, reicht aber das Vermeiden von Risikoverhalten allein nicht aus. Was der Erhaltung unserer Gesundheit substanziell im Weg steht, sind schädliche Alternsprozesse. Und genau die gilt es zu ins Visier zu nehmen.

Interessanterweise kam bereits der griechische Philosoph und Naturforscher Aristoteles zu diesem Ergebnis. Er war davon überzeugt, die klassischen Krankheiten im Erwachsenenalter seien direkt mit dem Altern verbunden. Im Fall frühen Auftretens typischer Alterskrankheiten sah er dementsprechend Anzeichen vorgezogener Alterung. Für ihn waren nicht Einzelkrankheiten, sondern die Alterung der Hauptfeind der Gesundheit. Inzwischen können wir mit Sicherheit sagen: Aristoteles hatte in der Tat recht!

„Krankheit ist vorzeitiges Altern, Alter aber natürliche Krankheit.”

ARISTOTELES [griechischer Philosoph und Naturforscher, 384–322 v. Chr.]

Leonid Gavrilov und Natalia Gavrilova von der Universität Chicago, zwei der renommiertesten Biogenetiker und Gerontologen, haben die weltweit umfassendsten und genauesten Modelle zur menschlichen Mortalität entwickelt. Ihre Forschungen bestätigen die Aussagen von Aristoteles in vollem Umfang. Mehr noch: Altern ist nur ein anderes Wort oder ein Sammelbegriff für Fehlfunktionen, Störungsprozesse und andere Erscheinungen, die dann je nach Ausprägung gemeinhin als Alterskrankheit bezeichnet werden. Ein biologischer Organismus kann erkranken, ohne gealtert zu sein (zum Beispiel bei Infektionen), aber er kann niemals altern und dabei gesund bleiben. Alterskrankheiten sind der sichtbare Ausdruck der eingetretenen Alterung.

„Gesundes Altern ist ein Oxymoron wie gesundes Sterben oder gesundes Kranksein.“

L. GAVRILOV und N. GAVRILOVA [Center of Aging an der Universität von Chicago]

Bitte merken: „Well-Aging”, „Good-Aging“ oder ähnliche Begriffe sollen meist implizieren, dass nicht dem Altern selbst, sondern nur Krankheiten vorgebeugt werden soll, und sind deshalb ein Widerspruch in sich!

Was Aristoteles fehlte, waren wirksame Interventionen gegen das Altern. Wir sind die erste Generation, die über Mittel und Möglichkeiten verfügt, Alterungsprozesse zu modulieren. Manche der dazu notwendigen Maßnahmen sind teuer, andere nicht überall verfügbar. Vieles aber kann inzwischen jeder von uns direkt für sein persönliches Präventionsprogramm nutzen. Welches die wirksamsten Strategien sind, welche Chancen und Risiken es dabei gibt und vor allem, wie man sie konkret anwendet – das werden wir noch ausführlich besprechen.

Natürlich geht es in diesem Buch auch um die klassischen Ideale von Jugendlichkeit wie Aussehen der Haut oder Bewahren einer schönen Figur – also das, was viele immer noch in erster Linie unter Anti-Aging verstehen. Doch damit sind die heutigen Möglichkeiten einer Beeinflussung der Alterung längst nicht erschöpft. Gezielte Alternsprävention ist der eigentliche Schlüssel für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter. Der Weg dahin ist eine lebenslange Aufgabe und die Chancen sind um so größer, je früher man beginnt.

Es ist an der Zeit zu handeln – Alternsstopp in der Praxis

Seit einigen Jahrzehnten ist man den Faktoren, die hinter der menschlichen Alterung stecken, auf der Spur. Und die Suche war bisher alles andere als erfolglos, im Gegenteil: Sie war eher zu erfolgreich für alle, die auf eine einfache Lösung gehofft hatten. Denn: Bis heute wurden mehr als dreihundert Einzelmechanismen beschrieben, die etwas mit unserem Altern zu tun haben. Allzu oft wurde die Aufdeckung eines neuen Mechanismus vorschnell als „die Ursache“ des Alterns bezeichnet – ein Fehler! Denn es ließ sich bisher in jedem Fall zeigen, dass eine einzelne Theorie zur Erklärung aller im menschlichen Körper ablaufenden Alterungsprozesse nicht ausreicht.

Der Streit unter den Anhängern verschiedener Theorien wurde nicht immer seriös ausgetragen und dies hat das Vertrauen in die Alternsforschung nicht gerade gefördert. Je komplexer die Alterung sich darstellte, desto lauter wurde der Ruf nach einer alles erklärenden Theorie, nach der Ursache des Alterns.

Wenig sinnvoll: Warten auf die eine Pille

Wäre unsere Alterung auf eine einzige übergeordnete Ursache zu reduzieren, könnte man auch darauf hoffen, mit nur einer Pille das Altern zu verhindern. Ein verlockender Gedanke nicht nur für die, die vom Zurückgewinnen ihrer Jugend träumen. Auch die Gegner jeglicher Art von Alternsintervention verweisen auf das theoretische Ziel, vielleicht einmal eine einzige Ursache zu finden. Nach ihrer Ansicht sollte das Altern beim Menschen überhaupt erst dann beeinflusst werden, wenn alle Fragen zur Alterung beantwortet sind.


„Die meisten Dinosaurier waren Vegetarier, sie haben niemals geraucht oder Alkohol getrunken – und wo sind sie jetzt?“

Warten, bis alle Fragen geklärt und alle möglichen Risiken ausgeschlossen sind? In jedem Fall wäre man auf der sicheren Seite. Doch die Vertreter dieser Abwartestrategie werden weniger. Aus gutem Grund. (Siehe „Nicht aufschieben, sondern handeln!“)

„Wenn das Schicksal ruft: Feuer!, so achten das die wenigsten; erst wenn sie hören: Rien ne va plus!, bekommen sie Lust, aber zu spät.”

LUDWIG BÖRNE [deutscher Publizist und Journalist, 1786–1837]

Der Alternsphysiologe Byung Pal Yu von der Universität Texas in San Antonio unterstützt die Praktiker. Er macht keinen Hehl daraus, was er davon hält, auf irgendwelche speziellen Entdeckungen zu warten: „In einer radikalen Abkehr von der bisherigen Vorstellung vom sogenannten eigentlichen Alterungsprozess stimmen heute die meisten Gerontologen darin überein, dass Altern nicht von einem einzelnen Faktor verursacht wird, der den gesamten Ablauf steuert, sondern dass Altern durch das Zusammenspiel verschiedener intrinsischer und extrinsischer Kräfte bestimmt wird.“

Die Ursachen für die Alterung beim Menschen sind extrem vielschichtig. Mit einer einzigen Pille gegen das Altern wird es also nichts werden.

Wer die Schrittmacher stoppt, der bremst das Altern

Zum Glück müssen wir nicht allen rund dreihundert Einzelmechanismen der Alterung Rechnung tragen. Alterung ist, wie gesagt, sehr komplex. Genau diese Tatsache, die Grundlagenforscher schon einmal die Haare raufen lässt, ist für uns eher von Vorteil. Denn die Komplexität ergibt sich daraus, dass viele Einzelfaktoren in Wechselwirkung zueinander stehen, einander verstärken oder von gemeinsamen übergeordneten Prozessen mitgesteuert werden. Eine Beeinflussung, die an wenigen zentralen Punkten ansetzt, kann deshalb weitreichende positive Effekte haben.

Roy Walford, einer der bekanntesten Alternsforscher des 20. Jahrhunderts, hielt schon früh nichts von der bisherigen Strategie der Gegenüberstellung und Aufrechnung der verschiedenen Alternstheorien. Dieser reduktionistische Blickwinkel ziele am Wesen der Alterung vorbei. Seine Kritik brachte ihm zunächst einiges Missfallen von Kollegen ein; wie man sich denken kann, vor allem von denen, die hofften, dass sich ihre eigene Theorie durchsetzen würde.

Nun, durchgesetzt hat sich heute eher die Ansicht von Walford, der nicht von „der Ursache“ des Alterns, sondern von verschiedenen „Schrittmachern“ sprach. Auch mit seinem persönlichen Eintreten für eine stärkere Anwendung der bereits zur Verfügung stehenden Mitteln stieß er lange auf den Widerstand konservativer Mediziner. Die Zahl der Gerontologen, die wie Walford wesentlich mehr konkrete Umsetzung forderten, nahm in den 90er-Jahren weltweit dennoch schnell zu.

Nicht aufschieben, sondern handeln!

Mindestens drei Gründe sprechen dafür, mit der Anwendung praktischer Alternsintervention nicht noch länger zu warten:

1. Die Forderung, erst dann konkret etwas zu unternehmen, wenn auch die letzten Geheimnisse aufgedeckt sind, gibt es merkwürdigerweise nur im Bereich der Alterung. Niemand würde auf die Idee kommen, Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Allergien nicht zu behandeln – für keine dieser Krankheiten sind alle Fakten, geschweige denn die wirklichen Ursachen bekannt. Wichtig ist schließlich vor allem, dass Erfolg versprechende Maßnahmen existieren, die zum Nutzen der Menschen eingesetzt werden können.

2. Altern ist multifaktoriell, das heißt, an diesem Prozess sind mehrere Mechanismen beteiligt. Es ist deshalb sehr unwahrscheinlich, dass letztlich nur eine Theorie des Alterns übrig bleibt, die sämtliche verschiedenen Teilvorgänge abdeckt. Noch unwahrscheinlicher ist, dass eines Tages eine einzige Pille alle Alternsprozesse verhindern kann.

3. Der letzte und wichtigste Punkt: Es existieren schon heute effektive und gut untersuchte Möglichkeiten, Alterungsprozesse zu beeinflussen und den Alterserscheinungen vorzubeugen.

Warum es bei der Alternsprävention weder absolutes Wissen noch absolute Sicherheit geben kann

Sind die heute vorliegenden wissenschaftlichen Fakten für konkrete Alternsbekämpfung „ausreichend”? Nehmen wir das Beispiel Melatonin (vgl. II.9). Schon Mitte der 90er-Jahre hielten führende Wissenschaftler angesichts des damaligen Erkenntnisstandes die Substitution beim Menschen für gesundheitlich sinnvoll. Andere lehnten den praktischen Einsatz ab. „Unzureichende Daten“, so das Argument.

Im vergangenen Jahrzehnt „explodierte“ das Wissen über diesen Naturstoff. Heute liegen mehr als 20 000 (!) wissenschaftliche Arbeiten vor, gerade auch über die praktische Anwendung. Das sind mehr Daten, als zu den meisten der herkömmlichen Arzneimittel jemals existieren werden. Unzählige Tierversuche bestätigen ein hohes Sicherheitspotenzial. Mehrere Millionen Menschen weltweit nehmen Melatonin seit mehr als 15 Jahren täglich ein.

Sind das nun „ausreichende” Daten? Die Mehrheit der Melatoninexperten sagt „ja“. Die zuständigen Behörden sind dennoch gegen die praktische Nutzung: Die lebenslange Einnahme sei noch „nicht ausreichend” untersucht. Das ist streng genommen korrekt. Zwar sprechen lebenslange Tests mit Tieren und Langzeitstudien bei Menschen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch gegen jegliches Gefährdungspotenzial, selbst bei Einnahme über 50 oder mehr Jahre. Unanfechtbare Beweise wären aber erst in einem halben Jahrhundert oder später möglich.

60 Jahre zu warten, das wäre vielleicht eine denkbare Strategie für einen heute Zehnjährigen. Was aber, wenn ein Erwachsener ein solches Mittel nutzen möchte, um bestimmte Alternsprozesse, sein Krebsrisiko oder auch nur seinen Schlaf zu verbessern? Bis sich alle Langzeitaspekte zu Melatonin lückenlos klären ließen, wäre diese Person lange tot. Wie man sieht, ist die Nutzen-Risiko-Relation bei Mitteln gegen das Altern nicht nur schwer einzustufen, sie kann auch je nach Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen. Und es kommt noch etwas Entscheidendes hinzu:

Um absolut exakt zu bestimmen, wie effektiv ein einzelnes Mittel gegen das Altern beim Menschen ist, wären Langzeitstudien in extremen zeitlichen und finanziellen Dimensionen notwendig. Und selbst wenn man 50 Jahre Zeit hätte: Kein wissenschaftliches Institut und keine Firma der Welt könnte ein solches Projekt finanzieren – schon gar nicht bei natürlichen, nicht patentierbaren Substanzen wie Melatonin oder den vielen Antioxidantien. Zumindest darüber sind sich alle einig.

„Die Nation ist fortgeschritten in der Erkenntnis. Die Bürokratie ist nicht einmal in der Theorie nachgekommen, geschweige in der Praxis.”

 

FRIEDRICH LIST [deutscher Nationalökonom, 1789–1846]