Zeichentheorie

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I Zwei Zeichenauffassungen
3 Platons instrumentalistische Zeichenauffassung

Symbole gibt es nicht von Natur aus. Sie werden gemacht; oder vielleicht unverfänglicher ausgedrückt: sie entstehen. „Symbols grow“, schrieb der amerikanische Philosoph und Zeichentheoretiker Charles SandersSanders PeircePeirce.1 Das Wort growth hatte in den Sozial- und Kulturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, ebenso wie das Wort Wachsthum in der Linguistik, eine besondere BedeutungBedeutung, nämlich die, die wir ihm auch heute noch beilegen, wenn wir etwa von einer Stadt sagen, sie sei „organisch gewachsen“, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass sie nicht „künstlichkünstlich am Reißbrett“ entstanden ist. Es handelt sich dabei um eine der im 19. Jahrhundert so beliebten organizistischen Metaphern, die, solange sie nicht aufgelöst ist, wenig besagt. Eines der Ziele dieser Arbeit ist es, diese Metapher aufzulösen. Die WachstumWachstumsmetapher weist jedoch korrekterweise darauf hin, dass Symbole normalerweise nicht willentlich und planvoll von Menschen erfunden werden und dass ihr Entstehen prozesshaft ist. Das gilt für sogenannte Statussymbole, wie die in Kapitel 2 betrachteten, ebenso wie für sprachliche Symbole. Natürlich gibt es auch künstlich und willentlich entworfene Symbole, wie etwa Firmenlogos oder durch definitorische Akte hervorgebrachte wissenschaftliche Termini. Aber die sind genau aus diesem Grunde zeichentheoretisch relativ uninteressant. Dass die Geschichte einer Sprache mit einer Phase der „Urschöpfung“ begonnen habe – dem dann typischerweise die des „Verfalls“ folgt – ist ist einer der hilflosen Mythen unserer Wissenschaft.2 Letzte Reste des linguistischen Schöpfungsmythos sind auch heute noch zu finden. So schreibt Johannes ErbenErben: „Für eine entwickelte Kultur- und Literatursprache wie das Deutsche oder Englische ist natürlich die Anfangsphase der Wortschöpfung, der erstmaligen Zuordnung völlig neuer Lautformen zu bestimmten Inhalten und der KonventionalisierungKonventionalisierung als Sprachzeichen, die verständlich und reproduzierbar sind, längst vorbei.“3 Ob man daraus schließen darf, dass in weniger entwickelten Sprachen diese Phase noch in vollem Gange ist? Wenn wir das Wesen unserer Zeichen und, was eng damit zusammenhängt, die Prinzipien ihrer VerwendungVerwendung verstehen wollen, müssen wir versuchen zu explizieren, wie Symbole entstehen, wie Zeichen „wachsen“. Die Frage, wie die Zeichen der Sprache entstehen oder entstanden sind, hat die Menschen offenbar schon immer beschäftigt. Es gibt kaum einen Schöpfungsmythos, der nicht auch Aussagen darüber enthält, wie der Mensch zu seiner Sprache gekommen ist.4Peters Die früheste uns erhaltene wissenschaftlich-philosophische Schrift zu der Frage nach dem Wesen der Zeichen ist Platons Dialog „Kratylos“, vermutlich aus dem Jahre 388 v. Chr. Ich möchte auf diese Schrift näher eingehen, und zwar nicht wegen ihres einzigartigen philosophiegeschichtlichen Ranges und ihres eminenten Einflusses auf die Sprachphilosophie bis in unsere Tage. Beides ist schon mehrfach in hinreichendem Maße und von kompetenter Seite dargestellt und gewürdigt worden.5SteinthalGadamerDerbolavItkonen Das Motiv, Platons „Kratylos“ eingehender zu untersuchen, liegt vielmehr in seiner Aktualität. Die meisten der zeichentheoretischen Fragen, die heute in Diskussion sind, werden in Platons Schrift bereits angesprochen. Meine Absicht ist also nicht, PlatonPlaton philosophiehistorisch gerecht zu werden, hingegen will ich versuchen, „Kratylos“ sozusagen mit heutigen Augen zu lesen, die zentralen Argumentationen des Dialogs darzustellen, und auf der Basis heutigen Wissens zu bewerten.6

In dem Dialog diskutieren Hermogenes, Kratylos und Sokrates das Problem, ob die Bedeutung eines Zeichens von der Natur dessen, was es bezeichnetbezeichnen, bestimmt wird oder ob die Bedeutung auf KonventionKonvention beruht. In moderner Terminologie könnte man sagen: Der Dialog hat die Frage zum Gegenstand, ob die Zeichen einer Sprache arbiträrarbiträr sind (nomo) oder ob sie den Dingen, die sie benennen, zu entsprechen haben (physei ).7 Kratylos vertritt die These, „jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung; […] es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche.“ (383 b) Hermogenes hat die Rolle des Opponenten. Ihm fällt die Aufgabe zu, die ArbitraritätArbitraritätsthese zu vertreten: „Ich meines Teils, Sokrates, habe schon oft mit diesem und vielen andern darüber gesprochen, und kann mich nicht überzeugen, daß es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und ÜbereinkunftÜbereinkunft gründet.“ (384 d) Sokrates schließlich ist der scharfsinnige Dialogpartner, der, vor allem im Gespräch mit Hermogenes, versucht, diesen aufs Glatteis zu führen und auf diese Weise dessen These auf ihre Haltbarkeit hin zu prüfen. Wohlgemerkt, die Diskussion hat nicht die Frage zum Gegenstand, ob der Mensch seine Sprache von Natur aus hat bzw. ob die Zeichen ihre BedeutungBedeutung von Natur aus haben oder ob sie ihnen von Menschen beigelegt wurde. Dass die Benennungen der Dinge von Menschen gemacht sind, genauer gesagt vom Wortbildner (nomothetes), ist unstrittig. Es geht vielmehr um die Frage, ob es sinnvoll ist, in bezug auf die Benennung eines Dings richtige Benennung von falscher Benennung zu unterscheiden. Kratylos vertritt die These „Ja, es ist sinnvoll“, Hermogenes vertritt die These „Nein, es ist nicht sinnvoll“. Das Gespräch verläuft in zwei Argumentationssequenzen, einem destruktiven und einem konstruktiven Teil. Im ersten Teil versucht Sokrates, die These der BeliebigkeitBeliebigkeit sprachlicher Zeichen zu destruieren; im zweiten Teil versucht er zu erläutern, worin die „Richtigkeit“ der Wörter zu suchen ist. Das Ganze hat einen versöhnlichen Ausgang. Den ersten Teil des Schlagabtauschs können wir wiederum in drei Runden einteilen. Betrachten wir nun die Argumente im Detail.

Erster Teil, erste Runde

Die Beispiele, die für die These des Kratylos angeführt werden, geben einen ersten Hinweis, wie die These der Richtigkeit der Benennung gemeint sein könnte: „Ich frage ihn also“, berichtet Hermogenes dem Sokrates, „ob denn Kratylos in Wahrheit sein NameName ist, und er gesteht zu, ihm gehöre dieser Name. – Und dem Sokrates? fragte ich weiter. – Sokrates, antwortete er. – Haben nun nicht auch alle andern Menschen jeder wirklich den Namen, mit dem wir jeden rufen? – Wenigstens der deinige, sagte er, ist nicht Hermogenes, und wenn dich auch alle Menschen so rufen.“ (383 b) Wie kann Kratylos auf die Idee kommen, dass Hermogenes in Wahrheit nicht der Name des Hermogenes ist, obwohl ihn alle so nennen? (Sokrates vermutet, „daß er spöttelt“. (348 c)) Das zugrundeliegende Argument ist die etymologische Analyse: Hermo-genes ist nicht der von Hermes Abstammende!

Hermogenes seinerseits fügt seiner Konventionalitäts- und Arbitraritätsthese eine Erläuterung hinzu, die sich für seine Argumentation als verhängnisvoll erweisen wird: „Denn mich dünkt, welchen Namen jemand einem Ding beilegt, der ist auch der rechte, und wenn man wieder einen andern an die Stelle setzt und jenen nicht mehr gebraucht, so ist der letzte nicht minder richtig als der zuerst beigelegte, wie wir unsern Knechten andere Namen geben.“ (384 d) Hermogenes schießt mit dieser radikalen Beliebigkeitsannahme bei weitem über sein Argumentationsziel hinaus. Seine eigentliche These, „kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und GewohnheitGewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen“ (348 e), impliziert natürlich nicht die Annahme, dass ein Individuum nach eigenem Gutdünken, Benennungen verändern kann, so wie man damals offenbar nach Belieben die Namen der Knechte ändern konnte. Sokrates lässt sich diese Chance nicht entgehen und hakt sofort nach. „Wie nun, wenn ich irgendein Ding benenne, wie, was wir jetzt Mensch nennen, wenn ich das Pferd rufe und was jetzt Pferd, Mensch: dann wird dasselbe Ding öffentlich und allgemein Mensch heißen, bei mir besonders aber Pferd, und das andere wiederum bei mir besonders Mensch, öffentlich aber Pferd? Meinst du es so?“ (385 a) Und Hermogenes fällt darauf rein: „So dünkt es mich.“ (385 b)

Die erste Runde endet offenbar mit einem Punktverlust für Hermogenes. Seine These, der Name komme einem Ding durch die KonventionKonvention des Gebrauchs zu, sodass sich die Frage der Richtigkeit der Benennung nicht stelle, ist, mit einigem Wohlwollen interpretiert, korrekt. Das Wohlwollen ist notwendig, weil eine Sprache nicht einfach als ein System von Benennungen von sprachunabhängig gegebenen Dingen angesehen werden kann. Viele Kategorien werden durch die jeweilige Sprache erst geschaffen und nicht einfach benannt; außerdem ist das Benennen nicht die einzige HandlungHandlung, die wir mit Wörtern ausführen. Das wollen wir ihm hier aber nicht vorwerfen, da die Unterstellung einer realistischen Sprachkonzeption unter den drei Diskussionsteilnehmern wohl unstrittig ist. Irreführend ist Hermogenes’ Unterstellung, Wörter verhielten sich zu ihren Referenzobjekten wie EigennameEigennamen zu ihren Trägern; als sei der Personenname sozusagen der prototypische Fall referierender Ausdrücke.8BeziehungGadamer Diese überbewertende Generalisierung der Eigennamenrelation hängt wohl damit zusammen, dass der Eigenname einer der seltenen Fälle ist, wo der Mensch willentliche und bewusste Akte der ReferenzfixierungReferenzfixierung vornehmen kann, zum Beispiel durch die Taufe. In Wahrheit ist aber der Eigenname ein Sonderfall, der nicht als Analogieargument für den Normalfall herangezogen werden kann. Dies verkennt Hermogenes und lässt sich dazu verleiten, von der ArbitraritätArbitrarität der Konvention auf die Möglichkeit idiosynkratischer Beliebigkeit der Benennung durch einzelne Individuen zu schließen. Dieser Schluss ist ungültig. Dies wird noch in Kapitel 12 deutlich werden, wo der Begriff der Arbitrarität in seinem Bezug zu dem der Konventionalität und der Regelhaftigkeit erörtert wird. Ferdinand de SaussureSaussure sieht sich noch gute 2000 Jahre nach PlatonPlaton veranlasst, vor der Fehlannahme der radikalen idiosynkratischen Beliebigkeit zu warnen: „Das Wort ‚beliebig‘ erfordert hierbei eine Bemerkung. Es soll nicht die Vorstellung erwecken, als ob die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge.“9

 

Erster Teil, zweite Runde

Das zweite Argument, mit dem Sokrates Hermogenes aufs Glatteis zu führen versucht, hat folgende Struktur: Sokrates bietet Hermogenes vier Prämissen an, denen dieser auch zustimmt. Aus diesen Prämissen zieht Sokrates sodann den folgenden gültigen Schluss: Es gibt eine den Dingen gemäße Richtigkeit der Bezeichnungen. Die Prämissen sind (385 b–c):

1 Eine Rede kann wahr oder falsch sein.

2 Jede Rede besteht aus Teilen.

3 Wenn eine Rede als ganze wahr sein soll, müssen auch alle ihre Teile wahr sein.

4 Das Wort ist der kleinste Teil der Rede.

Daraus folgt:

1 Das Wort einer wahren Rede ist ein wahres Wort.

Daraus folgt außerdem: Es muss auch falsche Bezeichnungen geben können. Hermogenes gibt sich zunächst geschlagen: „Wie anders!“ (385 d), aber überzeugt ist er nicht. Er versucht mit einem Evidenzargument zu parieren: „Und so sehe ich auch, daß für dieselbe Sache bisweilen einzelne Städte ihr eigenes eingeführtes Wort haben und Hellenen ein anderes als andere Hellenen, und Hellenen auch wiederum andere als Barbaren.“ (385 e) Auch dieses Argument wird noch von de SaussureSaussure zur Stützung seiner These der BeliebigkeitBeliebigkeit des Zeichens bemüht: „Das beweisen die Verschiedenheiten unter den Sprachen und schon das Vorhandensein verschiedener Sprachen: das Bezeichnete ‚Ochs‘ hat auf dieser Seite der Grenze als Bezeichnung o-k-s, auf jener Seite b-ö-f (breuf).“10 Nun folgt natürlich, wenn man es genau nimmt, aus der Arbitrarität weder die Verschiedenheit (denn alle Hellenen und Barbaren könnten ein und derselben Konvention folgen), noch folgt aus der Verschiedenheit der Bezeichnungen deren Arbitrarität (denn Verschiedenheit könnte anders verursacht sein). Aber in der Tat legt Verschiedenheit die Annahme der Konventionalität und somit der Arbitrarität nahe.

Das Argument des Sokrates enthält zwei entscheidende Fehler: Erstens ist es eine Äquivokation, von der Frage der Richtigkeit oder Falschheit der Benennung stillschweigend überzugehen zu der Frage der Wahrheit oder Falschheit einer Aussage. Richtigkeit ist nicht dasselbe wie Wahrheit. Die Prädikate richtig und falsch dienen nicht dazu, Propositionen Wahrheitswerte zuzuschreiben, sondern dazu, Handlungen bezüglich ihrer Korrektheit zu beurteilen. Die Frage, ob Zeichen arbiträrarbiträr sind, ist unabhängig von der Frage, ob Aussagen wahrheitswertdefinit sind. Zweitens enthält die Prämisse 3 einen Irrtum: Es ist ein Fehlschluss, von der (korrekten) These, dass Aussagen wahrheitswertdefinit sind, überzugehen zu der (inkorrekten) These, dass auch alle ihre Teile wahrheitswertdefinit sein müssen. Sokrates nimmt offenbar einen HomomorphismusHomomorphismus in der Sprache an, der bis hinunter zur Ebene der Wörter reicht. Das Prinzip des Homomorphismus der AbbildAbbildung, es wurde erstmals von dem Physiker Heinrich HertzHertz formuliert,11Beeh besagt, dass ein Teil einer Abbildung stets die Abbildung eines Teils ist. Dieses Prinzip gilt für jede Abbildung und für einige Fälle sprachlicher Abbildungen. So ist ein Teil einer Fotografie eines Hauses stets eine Fotografie eines Teils eines Hauses, und ein Teil einer Beschreibung eines Abendessens ist stets die Beschreibung eines Teils eines Abendessens. Dieses Prinzip hat jedoch nach unten hin eine Grenze der Gültigkeit. Wo genau sie sich in der Sprache befindet, darüber streiten sich bis heute die Sprachphilosophen.12 Ein Teil einer wahren Beschreibung ist die wahre Beschreibung eines Teils; das gilt nur bis zu der Ebene wahrheitswertdefiniter Einheiten, und das sind Aussagen oder Propositionen. „Das Prinzip von Hertz wird nicht nur in der Sprache nach unten ungültig, sondern auch z.B. bei Photographien. Wörter entsprechen Rasterpunkten (oder dem Korn). Rasterpunkte sind keine Bilder, sondern leiten ihre BeziehungBeziehung zum Original aus dem Zusammenhang im Bild ab. Sie sind ebenfalls arbiträr.“13 Sokrates versucht, das Prinzip des Homomorphismus bis hinunter auf die Ebene der Wörter (und, wie wir gleich sehen werden, auf die Ebene der Laute) zu führen. Diesen Fehler hat bereits Platons Schüler AristotelesAristoteles in seiner Schrift „Peri Hermeneias“14, allerdings ohne PlatonPlaton beim Namen zu nennen, in angemessener Weise aufgedeckt:

Wie aber die Gedanken in der Seele bald auftreten, ohne wahr oder falsch zu sein, bald so, daß sie notwendig eins von beiden sind, so geschieht es auch in der Rede. Denn Falschheit und Wahrheit ist an Verbindung und Trennung der Vorstellungen geknüpft. Die Nomina und Verba für sich allein gleichen nun dem Gedanken ohne Verbindung und Trennung, wie z.B. das Wort Mensch oder weiß, wenn man sonst nichts hinzusetzt: Hier gibt es noch nicht Irrtum und Wahrheit. Dafür haben wir einen Anhaltspunkt z.B. an dem Wort Tragelaphos (Bockhirsch): es bedeutet zwar etwas, aber doch nichts Wahres oder Falsches, so lange man nicht hinzusetzt, daß das Ding ist oder nicht ist, schlechthin oder zu einer bestimmten Zeit.15 (16 a)

Auch in der zweiten Runde ist Hermogenes argumentativ unterlegen. Er vertritt zwar eindeutig die plausiblere These, nämlich die Arbitraritätsthese, ist aber den fintenreichen Argumenten des Sokrates nicht gewachsen. Insbesondere erweist sich seine Zustimmung zu Prämisse 3, dem unterstellten Homomorphismus von Rede und Redeteil, als verhängnisvoll. Sokrates spielt nun eine Serie von Argumenten aus, die auf dem Gedanken des Werkzeugcharakters der Wörter aufbauen.

Erster Teil, dritte Runde

So wie die Dinge „ihr eigenes WesenWesen haben“ (386 e) und nicht jeweils so sind, wie sie dem einen oder anderen erscheinen mögen, argumentiert Sokrates, so haben auch HandlungHandlungen ihre ihnen eigene Natur (387 a). Das heißt, Handlungen kann man richtig oder falsch ausführen. Nun ist auch das Reden eine Handlung; und das Benennen ist ein Teil des Redens. „Also ist auch das Benennen eine Handlung.“ (387 c) Daraus folgt: Man kann nicht einfach nach eigenem Gutdünken benennen, „wie wir etwa jedesmal möchten“ (387 d), sondern es gibt eine Richtigkeit des Benennens, „wie es in der Natur des Benennens und Benanntwerdens der Dinge liegt“. (387 d) Hermogenes pflichtet bei: „Offenbar.“

Auf der korrekten These, dass das Benennen eine Handlung ist, für deren Ausführung es ein Richtig und Falsch gibt, baut Sokrates nun seine Gegenargumente auf. Um eine handwerkliche Tätigkeit korrekt ausüben zu können, bedarf es des geeigneten Werkzeugs: Zum Weben dient uns die Weberlade, zum Bohren der Bohrer; und was dient uns zum Benennen? Hermogenes: „Das Wort.“ „Richtig“, sagt Sokrates, „ein WerkzeugWerkzeug ist also auch das Wort.“ (388 a) Er erläutert auch sogleich, zu welcher Tätigkeit das Wort als Werkzeug dient: Wir lehren „einander etwas und sondern die Gegenstände voneinander, je nachdem sie beschaffen sind“. (388 b) Das Wort dient also zum Belehren, zum Sondern und natürlich zum Benennen. Damit hat Sokrates die drei wesentlichen Funktionen der Sprache auf den Punkt gebracht: KommunikationKommunikation, KlassifikationKlassifikation und RepräsentationRepräsentation. Dies sind in der Tat genau die drei Aspekte, die wir im Auge behalten müssen, wenn wir das Funktionieren unserer Sprache und der Zeichen verstehen wollen. Sokrates überzieht allerdings den Werkzeuggedanken, wie wir gleich sehen werden. Er nimmt die Metapher wörtlich, und zwar in drei eng aufeinander bezogenen Argumentationsschritten, und kommt so zu falschen Folgerungen. Die drei Schritte sind:

1. Nicht jeder beliebige, sagt Sokrates, ist in der Lage, eine Weberlade oder einen Bohrer herzustellen. Es bedarf eines Spezialisten, der sich auf die Kunst der Herstellung dieser Werkzeuge versteht. Da dies für alle Werkzeuge gilt, muss es auch für das Wort gelten. „Also, o Hermogenes, kommt es nicht jedem zu, Worte einzuführen, sondern nur einem besonderen Wortbildner. Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber, von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste.“ (389 a)

2. Jedes Werkzeug hat einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Es muss folglich so beschaffen sein, dass es seinen Zweck zu erfüllen im Stande ist. So fordert jede Art von Gewebe ihre eigene Weberlade. Also muss auch der Wortbildner jedem Ding den ihm adäquaten Namen „in Tönen und Silben niederzulegen“ (389 d) wissen. Natürlich ist auch Platons Sokrates nicht entgangen, dass es verschiedene Sprachen gibt. Auch dafür hat er eine passende Theorie, die zugleich eine Antwort auf Hermogenes’ oben erwähntes Evidenzargument darstellt: So wie auch nicht jeder Schmied für ein Werkzeug dasselbe Eisen nimmt, so nimmt auch nicht jeder Wortbildner überall dieselben Silben. „Solange er nur die Idee des Wortes, wie sie jedem insbesondere zukommt, wiedergibt, in was für Silben es auch sei“ (390 a), so muss ein Wortbildner der Barbaren kein schlechterer sein als einer der Hellenen.

3. Und wer ist am besten in der Lage zu beurteilen, ob ein Werkzeug gut gefertigt ist, fragt Sokrates. Natürlich derjenige, der damit umgehen muss. Der Weber kann am besten die Qualität einer Weberlade ermessen. Das Werk des Wortbildners und Gesetzgebers kann am besten der Dialektiker beurteilen. Das ist derjenige, „der zu fragen und zu antworten versteht“. (390 c)

Das Fazit aus all den Argumenten des Sokrates lautet: „Kratylos hat recht, wenn er sagt, die Benennungen kämen den Dingen von Natur zu, und nicht jeder sei ein Meister im Wortbilden, sondern nur der, welcher, auf die einem Jeden von Natur eigene Benennung achtend, ihre Art und Eigenschaft in die Buchstaben und Silben hineinzulegen versucht.“ (390 e)

Worin besteht der Irrtum? Sokrates begeht zwei Fehlschlüsse. Den einen möchte ich den instrumentalistischen Fehlschluss nennen, den anderen den rationalistischen Fehlschluss. Der instrumentalistische Fehlschlussinstrumentalistische Fehlschluss ist im Zusammenhang unserer Argumentation der wichtigere; geistesgeschichtlich betrachtet sollte sich jedoch der rationalistische Fehlschlussrationalistischer Fehlschluss als verhängnisvoller erweisen.16Hayek Betrachten wir sie kurz der Reihe nach.

Der instrumentalistische Fehlschluss lautet: Alle Werkzeuge sind aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit für ihren Zweck geeignet. Ihre spezifische Beschaffenheit wird diktiert von dem Zweck, den sie zu erfüllen haben. (Nur die jeweiligen Spezialisten können gute Werkzeuge herstellen bzw. deren Güte beurteilen.) Wörter sind Werkzeuge. Somit gilt all dies auch für Wörter.

Da dieser Schluss formal gültig ist, muss am Inhalt der Prämissen etwas nicht in Ordnung sein. Wir haben zwei Optionen, den Fehlschluss zu vermeiden. Wir können entweder sagen: „Wörter sind keine Werkzeuge.“ Oder wir sagen: „Nicht alle Werkzeuge haben eine von ihrem spezifischen Zweck diktierte Beschaffenheit.“ Die Bedeutung des Wortes Werkzeug scheint mir nicht so eindeutig festgelegt zu sein, dass wir zu der einen oder anderen Option gezwungen wären. Wir haben die Wahl zwischen zwei Auswegen, die beide vertretbar zu sein scheinen. Der erste Ausweg besteht in der Annahme, „Wörter sind nur im metaphorischen Sinne Werkzeuge, und der Aspekt der Zweckadäquanz ihrer Beschaffenheit ist von der Metapher nicht abgedeckt“. (Es gehört ja, wie wir noch sehen werden, nachgerade zum Wesen einer Metapher, dass sie nicht in allen Aspekten zutrifft.) Der zweite Ausweg ist: „Es gibt Werkzeuge, die ihren Zweck allein dank ihres konventionellen Gebrauchs zu erfüllen im Stande sind, und dazu gehören die Wörter – ebenso wie beispielsweise Spielkarten oder Geld.“ Einem Tausendmarkschein muss nichts Bovines anhaften, um zum Kauf einer Kuh geeignet zu sein. Wörter sind zwar keine prototypischen Werkzeuge, aber sie sind Werkzeuge, die dazu da sind, bestimmte Wirkungen beim Adressaten hervorzurufen. Ich werde in Kapitel 12 noch ausführlich auf den Zusammenhang von Werkzeughaftigkeit, ArbitraritätArbitrarität und Konventionalität zu sprechen kommen.

Der rationalistische Fehlschlussrationalistischer Fehlschluss besteht in der Annahme, dass alle zweckmäßigen Einrichtungen der Menschen, die nicht von Natur aus da sind, Ergebnisse kluger Planung und weiser Durchführung sind. Kluge Einrichtungen müssen von klugen Menschen erfunden worden sein; wo sonst sollten sie herkommen? Es wird nicht das spontane Entstehen „weiser“ und nützlicher soziokultureller Einrichtungen in Rechnung gestellt. „Der Mensch bildet sich ein, viel gescheiter zu sein, als er ist.“17Riedl Dies war eines der Leitmotive des sozialphilosophischen Denkens von Friedrich August von HayekHayek. Sokrates’ kluger Wortbildner, „von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste“ (389 a) – denn er wurde offenbar noch von niemandem gesichtet –, ist ein geistiges Produkt dieser Überschätzung der Vernunft.18 In Wahrheit sind die Wörter (mit wenigen Ausnahmen) nicht Schöpfungen begnadeter Künstler, sondern unbeabsichtigte Nebeneffekte des alltäglichen Kommunizierens ganz normaler Menschen. Sie sind Ergebnisse von Prozessen kultureller EvolutionEvolution, denen wir in den folgenden Kapiteln versuchen wollen, auf die Spur zu kommen. So viel zunächst zu den beiden Fehlschlüssen. Kehren wir nun zurück zu dem Dialog. Hermogenes ist von Sokrates’ Argumenten verunsichert, aber überzeugt ist er immer noch nicht. „Ich weiß freilich nicht, Sokrates, wie ich dem, was du sagst, widersprechen soll. Es mag aber wohl nicht leicht sein, auf diese Art so schnell überzeugt zu werden“ (391 a), sagt Hermogenes und fordert Sokrates auf, nicht nur dafür zu argumentieren, dass es eine Richtigkeit der Benennung gibt, sondern ihm zu zeigen, worin diese Richtigkeit besteht. Damit beginnt die zweite, diekonstruktive Argumentationssequenz des Dialogs.

 

Zweiter Teil

Sokrates gibt sich Mühe, dem Wunsch nach positiven Argumenten für die These der natürlichen Richtigkeit der Benennung zu liefern. Aber er ist sich der Dürftigkeit seiner Argumente durchaus bewusst. Da dieser Teil des Dialogs aus heutiger Sicht zeichentheoretisch weniger ergiebig ist, will ich mich kurz fassen.

Sokrates unterscheidet abgeleitete Wörter von Stammwörtern. Er zeigt zunächst am Beispiel zahlloser abgeleiteter Wörter, darunter auch viele Eigennamen der griechischen Mythologie, dass sie „richtig“ gebildet sind. Die Methode ist, wie wir bereits am Beispiel des Namens Hermo-genes gesehen haben, die der etymologischetymologischen Ableitung. (Hermogenes ist nicht der „richtige“ NameName für Hermogenes, weil Hermogenes in Wahrheit nicht von Hermes abstammt.) Übertragen auf das Deutsche könnte Sokrates etwa wie folgt argumentieren: „Der Winter trägt seinen Namen zurecht. Denn das Wort Winter ist verwandt mit altgallisch vindo ‚weiß‘ und bezeichnet die Zeit, in der das Land mit Schnee bedeckt ist.“19Kluge Oder: „Der Name Weisheitszahn ist richtig gebildet, da der Mensch diese Zähne erst in einem Alter bekommt, in dem er bereits über Weisheit verfügt.“ Wem diese Form der Argumentation aus heutiger Sicht naiv vorkommt, der möge sich daran erinnern, dass sie auch heutzutage durchaus gang und gäbe ist, vor allen Dingen im Rahmen sprachkritischer Belehrungen: „Es gibt keine Unkosten; es gibt nur Kosten. Denn un- ist eine Negationspartikel.“ Oder: „Es heißt nicht Gentechnologie, sondern Gentechnik. Denn techno-logie heißt ‚die Lehre von der Technik‘.“20 Wer so argumentiert, bedient sich der Methode des Sokrates und geht offenbar davon aus, dass es eine „natürliche Richtigkeit der Wörter“ gebe. Diese Form der „Richtigkeit“, die in der systemgerechten oder logisch korrekten Ableitung oder Zusammensetzung besteht, wird heute bisweilen „sekundäre MotiviertheitMotiviertheit der Zeichen“ genannt. Etymologisieren heißt sprachliche Zeichen auf ihren ehemaligen motivierten Zustand zurückverfolgen.21Levin

Diese Argumentationsweise hat natürlich da ihre Grenze, wo Wörter nicht mehr etymologischetymologisch von zugrundeliegenden Wörtern abgeleitet werden können, bei „Urbestandteilen“ oder „Stammwörtern“, wie Sokrates sie nennt. (422 b) Die Richtigkeit der „späteren oder abgeleiteten Wörter“ (422 d) besteht darin, dass sie kundtun, „wie und was jedes Ding ist“. (422 d) Sie können dies „mittels der früheren bewirken“. (422 d) Für die früheren, die Stammwörter, entwickelt Sokrates eine Art onomatopoetischer Bildtheorie. „Der NameName ist […] ebenso eine Nachahmung wie das Bild.“ (431 a) Das r ist „gleichsam das Organ jeder Bewegung“ (426 c); d, t, b und p enthalten „eine nützliche Eigenschaft zu Nachahmung des Bindenden, Dauernden, so wie bei Pech und Teer“, und da beim l „die Zunge am behendesten schlüpft“, eignet es sich besonders „um das Lose, Lockere und Schlüpfrige selbst und das Leckere und Leimige und viel anderes dergleichen zu benennen“. (427 b) Dies ist natürlich Unsinn, und Sokrates weiß das auch: „Was ich nun von den ursprünglichen Wörtern gemerkt habe, dünkt mich gar wild und lächerlich“, (426 b) gesteht er ein. Er sieht jedoch keine andere Lösung: „Aber es muß doch so sein; denn wir haben nichts besseres als dieses, worauf wir uns wegen der Richtigkeit der ursprünglichen Wörter beziehen könnten.“ (425 d) Sokrates hat nicht nur bemerkt, dass seine Bildtheorie gar wild und lächerlich ist; er hat schließlich auch erkennen müssen, dass es massenhaft Gegenbeispiele gibt: etwa Wörter mit r, die keine Bewegung ausdrücken, sondern vielmehr Ruhe, und dergleichen mehr. (432 d–e) Dies zwingt ihn schließlich zum Rückzug, bei dem er sich nun doch der Konventionalitätsthese des Hermogenes annähert.

Sokrates vergewissert sich nochmals bei Hermogenes, was dieser denn unter ‚GewohnheitGewohnheit‘ verstehe: „Und wenn du Gewohnheit sagst, glaubst du etwas anderes zu sagen als VerabredungVerabredung? Oder meinst du unter ‚Gewohnheit‘ etwas anderes, als daß ich, wenn ich dieses Wort ausspreche, jenes denke, und daß du erkennst, daß ich jenes denke?“ (434 e) Da wir offensichtlich in der Lage sind, dem andern erkennen zu geben, was wir denken, mittels Wörtern, die keinerlei ÄhnlichkeitÄhnlichkeit mit dem Benannten aufweisen, muss es wohl so sein, dass die Gewohnheit darzustellen in der Lage ist, und zwar „durch Ähnliches wie durch Unähnliches“. (435 b) Dies scheint mir eine wichtige Einsicht zu sein. Denn diese Feststellung besagt doch wohl, dass die Alternative gar nicht darin besteht, entweder durch Gewohnheit oder durch Ähnlichkeit darzustellen. Auch wenn bei einem Wort Ähnlichkeit mit dem Referenten gegeben ist, bedarf es dennoch der Gewohnheit, den Referenten durch Ähnlichkeit zu bezeichnenbezeichnen. Der Aspekt der Ähnlichkeit allein ist „gar zu dürftig" (435 c); „Verabredung und Gewohnheit“ müssen „notwendig […] etwas beitragen zur Kundwerdung der Gedanken, indem wir sprechen“. (435 b) Die Gewohnheit sei das „Gemeinere“. (435 c) Mit anderen Worten: OnomatopoesieOnomatopoesie allein macht einen Laut noch nicht zu einem sprachlichen Zeichen; es bedarf zusätzlich der KonventionKonvention, den onomatopoetischen Ausdruck zur „Kundwerdung der Gedanken“ zu verwenden. So ist es beispielsweise eine unserer Konventionen, dass wir zu Bezeichnung des Kuckucks das onomatopoetische Wort Kuckuck verwenden.

Fassen wir zum Abschluss den Verlauf der Diskussion und deren Ergebnisse nochmals kurz zusammen. Sokrates führt gegen die Arbitraritätsthese zunächst im Wesentlichen drei Argumente ins Feld:

1 Radikale BeliebigkeitBeliebigkeit gibt es nicht.

2 Wenn es wahre und falsche Sätze gibt, muss es auch wahre und falsche Wörter geben.

3 Wenn Wörter Werkzeuge sind, müssen sie ihren spezifischen Zwecken gemäß gefertigt sein.

Das erste Argument ist gültig, aber es bekämpft eine These, die aus der Arbitraritätsthese nicht folgt. Die beiden anderen Argumente sind, wie ich zu zeigen versucht habe, ungültig.