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Die Mittagsglocken verhallten. Der Zug der Benagelten verlor sich in einer leichten Wolke aus Staub und Lärm. Die Straße blieb verlassen, die Menschen saßen zu Hause und in den Restaurants. Im Frühlingswind wehten die Gerüche der Speisen.

Nikolai Brandeis setzte sich auf die Terrasse eines Kaffeehauses. Zwei Männer gingen vorbei, der Klang russischer Laute schlug an sein Ohr. Brandeis mochte keine Schicksalsgenossen. Er vermied Gelegenheiten, bei denen er gezwungen war, die übertreibenden Erzählungen der Emigranten von ihrer verflossenen Pracht mit höflicher Gläubigkeit anzuhören und, was sie von ihrem gegenwärtigen Elend wider Willen verraten mochten, in höflicher Blindheit zu übersehen. Wer unter ihnen war denn nach der Flucht etwa wiedergeboren wie er? Alle schienen ihr Leben in Rußland zurückgelassen zu haben. Der Balalaika-Klang ihrer Sehnsucht langweilte ihn wie der Militärmarsch der Windjacken, die eben vorbeigezogen waren. Obwohl er selbst desertiert war, begriff er einen Patriotismus nicht, der ein existierendes Vaterland beweint, als wäre es vom Ozean verschlungen worden. Die Leute weinten um ihren silbernen Samowar.

Dennoch gerieten die russischen Worte, die er eben gehört hatte, gleichsam in eine unbekannte Abteilung Brandeis', eine Abteilung, die der Frühling geöffnet zu haben schien. Sie fielen in seine Erinnerungen an den ukrainischen Februar wie langerwarteter Regen auf durstige Felder. Die Erinnerungen blühten auf. Nun unterschied er deutlich die zarten Nuancen und Grade des heimatlichen Frühlings. Er erinnerte sich an Tage im Februar, an denen die Sonne gegen zwölf Uhr mittags auf einmal und für die Dauer von knappen fünf Minuten eine tröstliche Hitze entwickelte, so daß die Eiszapfen an den Dächern plötzlich zu tropfen begannen und daß es war, als hätte die Sonne eine kurze Sommerprobe gemacht. Das Blau des Himmels war noch winterlich und kobalten. Nur an seinen Rändern wurde er hell, fast weiß, als wäre er dort vereist wie Wasser. Dennoch atmete er mit einem warmen, traulichen Atem, schon mit einem vorweggenommenen Duft lauer Sommerregen. Schon enthielt er dem menschlichen Auge noch unsichtbares Material für sommerliche Wolken. Dann erhob sich ein Wind aus Nordost. Mitten im Tropfen vereisten die Zapfen aufs neue. Schneller als an den vorhergehenden Tagen, obwohl sie doch bestimmt kürzer gewesen waren, fiel der Abend ins Dorf. Im fahlen Silber schimmerten nur noch die Birken vom Wäldchen herüber, die verstreut zwischen den anderen Bäumen standen wie junge Tage zwischen alten Nächten. Auf den Feldern erwachten die kleinen, rötlichen Reisigfeuer, um die ringsum Kartoffeln brieten, und der Wind trug den süßen Duft der brennenden Zweige ins Dorf. Über den weiten Sumpf, dessen gefahrlose Wege die vertrauten Weiden anzeigten und der zwischen der Straße und dem Walde lag, konnte man heute noch wandern, ohne sich an die Richtung der Weiden zu halten. Noch war alles gefroren und splitterte wie sprödes Glas unter dem genagelten Absatz des Stiefels. Aber wie oft noch würde man so sicher über den Sumpf gehen können? Nicht mehr als zwanzigmal! Dann kamen die blauen Irrlichter wieder, die irdischen Gestirne. Morgen, wenn der Mond abzunehmen begann, konnte es wieder soviel Schnee geben wie in den ersten Tagen des November. Die Schneeflocken fielen heftig, aber man wußte, daß sie nach zwei, drei Wochen verschwinden werden. Ungefähr so, dachte Brandeis, dürfte es heute dort aussehen. Und hier sitze ich, und die Boten des Frühlings sind diese armen städtischen Bäume, die Natur des Magistrats, die Dummköpfe, die exerzieren, und der Bratenduft aus den Küchen der Häuser. Wozu bin ich denn hier?

Es war ihm, als gehörte die russische Sprache, die er eben vernommen hatte, zu jenem Vorfrühling, der in seiner Erinnerung auferstand, ja als wäre die russische Sprache nicht das Verkehrsmittel einer bestimmten Art von Menschen, sondern die Muttersprache jener heimatlichen Natur selbst, der Birken, der Weiden, des Sumpfs, der Eiszapfen, des Windes, der Sonne und der Feldfeuer. Warum wieder die Emigranten? Wer weiß, in ihnen allen lebte heute die gleiche Erinnerung wie in ihm. Deshalb war es so gut, heute und an ähnlichen Tagen Russisch sprechen zu hören. Er zahlte und ging.

Er achtete nicht auf die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Er wollte in ein Restaurant gehn, obwohl er keinen Hunger fühlte, aus Pflichtgefühl und dem Gebot zufolge, das eine große, essende Stadt dem einzelnen auferlegt, der schweigsamen Suggestion der konventionellen Mittagsstunde. Er stellte fest, daß man seine Erinnerungen nicht anders nennen konnte als Heimweh. Zum erstenmal lernte er es kennen. Er erschrak. Was geht in ihm vor? Entsteht vielleicht wieder ein neuer Nikolai Brandeis?

Ohne es zu wissen, war er in die Marburger Straße gekommen. Seinen Füßen hat sich das Heimweh zuerst mitgeteilt, ihnen, den Werkzeugen der Wanderung. Sie sind selbständig gegangen. Jetzt stand er wieder vor dem russischen Restaurant, in dem er während des ersten Monats nach seiner Ankunft gegessen hatte und nie mehr später. Die Einrichtung war geändert, ein reicher Wirt führte dieses Gasthaus jetzt, die Kellner trugen steife Hemden, es gab eine Zigarettenverkäuferin in blauer Pagenuniform und Garderobenmarken aus Messing. Er warf einen Blick auf die Spezialitäten auf dem Tisch in der Mitte. Sie hatten ihre erste Echtheit verloren, die aus der alten, ärmeren Zeit. Sie glichen bereits Kompromissen, geschlossen mit Berliner Traditionen. Sie machten die Entwicklung aller Emigranten mit. Der Schnaps, den er bestellt hatte, war mild und lächerlich. Er sagte es dem Kellner, mit einem Ausdruck verletzter Eitelkeit, auf Russisch. Man brachte ihm einen andern Schnaps.

Zwei Männer am Nebentisch hörten zu sprechen auf und sahen ihn mit dem Wohlwollen an, das man unbekannten Schicksalsgenossen entgegenbringt. Er grüßte sie. Sie kamen ihm sympathisch vor. Beide waren kahl, man sah die Reflexe der früh entzündeten Lichter auf ihren Schädeln. Aber sie unterschieden sich so sehr voneinander, wie nur Russen es können, die Angehörigen einer großen Nation, die aus vielen kleinen besteht. Versöhnlich gestimmt, wie er heute war, gab er allen Emigranten recht. Dieser kleine Schwarze mit der gelblichen Gesichtsfarbe und dem schwarzen Schnurrbart stammt aus der südlichen Ukraine. Der große Blonde mit dem langen Schädel und den Augen ohne Brauen und dem rosa Teint, der so leicht schamhaft wirkt, ist aus Polen oder ein Balte. Dennoch sind sie beide ausgezeichnete Russen. Sie haben den gleichen Geschmack, eine ähnliche Art der Verdauung, ihr Körper reagiert in gleicher Weise auf Alkohol. Genauso wie bei mir, dem Deutschen und Juden. Allen gemeinsam ist die Art der körperlichen Bedürfnisse. Nikolai Brandeis trank den nächsten Schnaps seinen Nachbarn zu.

Er hörte, was sie sprachen. Es war die Rede von einem gewissen Jossif Danilowitsch, der behauptet hatte, er würde jetzt in Paris eine noch ertragreichere Inflation erleben. Es erschien plötzlich dem schweigsamen Brandeis, daß es von größter Wichtigkeit sei, seine Nachbarn zu warnen und auf dem Umweg über sie den ihm völlig unbekannten Jossif Danilowitsch. Er mischte sich ins Gespräch. Man hörte ihn gerne an. „Es wird von der ganzen französischen Inflation nur eins übrigbleiben: der viel geringere Goldwert des Franken. Frankreich hat nicht etwa zuviel Banknoten im Umlauf wie seinerzeit Deutschland. Die Banque de France besitzt auch Gold genug, nämlich 3654 Goldmillionen, also im Augenblick etwa sechzig Prozent der ausgegebenen Banknoten. Das französische Publikum glaubt an den Wert des Franken, eine psychologische Tatsache, die von größter Wichtigkeit für die Stabilisierung ist. Man wird entweder die Schulden gewaltsam konsolidieren oder das Kapital belasten oder, was das wahrscheinlichste ist, eine Auslandsanleihe aufnehmen, als Garantie genügt das Gold der Banque de France.

Immerhin kann sich auch die Banque de France entschließen, ihre Goldreserven sofort anzugreifen, und meiner Rechnung nach würden ihr noch 2500 Goldmillionen als Garantie für die Banknoten bleiben. England wird gewiß nicht zu den hartnäckigen Gläubigern Frankreichs gehören, es wird Konzessionen machen. Frankreich wird aufhören, noch weiterhin naiv an die phantastischen Summen zu glauben, die aus Deutschland herauszuschlagen sind. Und das wird schon die halbe Rettung sein.”

Es war ihm ein Vergnügen, die beiden aufzuklären. Sie lauschten. Sie schienen begriffen zu haben, daß sie hier mit einem großen Kenner sprachen, der die Börsengeschäfte mit der Überlegenheit eines Weltpolitikers verfolgte. „Wir wollen auch nach Paris, aber aus anderen Gründen, nicht geschäftlich.”

„Nun”, sagte Brandeis, „dann kann ich Ihnen nur raten, mit größeren Ausgaben zu rechnen, als Sie es wahrscheinlich tun.”

Er erhob sich. Sie baten ihn um seine Adresse. Einen Augenblick bereute er schon, daß er sich mit ihnen eingelassen hatte. Er gab ihnen die Adresse.

Er wollte langsam und auf Umwegen nach Hause kommen. Er lächelte über den Ausdruck „nach Hause”. Seit zwei Jahren wohnte er in der Pension. Auf einmal schien es ihm unmöglich, dort zu bleiben. Die Sonntage waren unerträglich und von den Sonntagen am unerträglichsten der Nachmittag. Aus allen versperrten Zimmern drangen Liebeslaute und Grammophone. Die Inhaberin, die Hofratswitwe, trug heute ein seidenes Kleid aus Schwarz und Grau. In Nikolais Zimmer stand auf dem Kleiderschrank noch der Kasten mit der Geige, das Instrument des Hofrats. „In diesen Zimmern hatten wir immer Quartett!” erzählte die Witwe. Brandeis erinnerte sich an das Weiß und Blau seiner gekalkten Stube. Er roch den Duft von Heu, von Mist, die Dumpfheit der Hühnersteige, die würzige Schärfe im Stall, den warmen, zischenden Urinstrahl der Pferde. Und er erinnerte sich an die Mischung aus Karbol und gekochtem Seefisch in der Pension. Er beschloß, erst am Abend nach Hause zu kommen.

 

Es wurde früher Abend, als er gedacht hatte. Nun war der Sonntag überstanden. Der Sonntagabend draußen war schlimmer als zu Hause. Er floh.

Zwei Herren warteten auf ihn im „Salon”. Er ging in den Salon. Es waren die zwei Russen, mit denen er im Restaurant gesprochen hatte. Es erwies sich, daß beide die gleiche Art von Schüchternheit hatten. Beide waren ratlos. Sie unternahmen etwas gemeinsam – nach jenem merkwürdigen Gesetz, das die gleichen Schwächen zueinanderbringt, das zwei häßliche Mädchen zusammen spazierenschickt, zwei Taube in eine Konversation verwickelt und zwei Schüchterne verbindet, die glauben, daß sie, zueinanderaddiert, Kühnheit erzeugen werden. Immerhin schien der Blonde, der jünger war als der Schwarze, zu einem gewissen Mut aus Gründen des Anstands gezwungen. Es war der Blonde, der begann:

„Wir freuen uns sehr, daß wir Sie durch einen Zufall kennengelernt haben. Denn wir brauchen Ihren Rat. Jener Jossif Danilowitsch, von dem wir heute sprachen, hat uns in die unangenehme Situation gebracht. Deshalb sind wir bei Ihnen, und weil wir annehmen, daß Sie sich für Kunst interessieren.”

„Ich? für Kunst?” sagte Brandeis, „nie im Leben!”

Seine Besucher wurden so betreten, daß er sagen mußte:

„Aber das hindert vielleicht nicht, daß ich Ihnen einen Rat gebe. Um was für Kunst handelt es sich denn? Um Bilder?”

„Nein, um Kleinkunst”, begann der Ältere, „wir haben ein Kabarett, von dem Sie vielleicht schon gehört haben. Vor fünf Jahren ist es gegründet worden. Wir haben hier gespielt, dort gespielt, wir haben gute und schlechte Tage gehabt. Aber es ging immer halbwegs, eben mit Hilfe von Jossif Danilowitsch. Solange er Geschäfte machen konnte. Seit der Stabilisierung haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wir sind also hierhergekommen. Auf Briefe und Telegramme hat er nicht geantwortet. Inzwischen ist unser Theater in Belgrad. Dort läuft unser Vertrag ab. Nächste Woche müssen wir nach Paris. Aber unsere Einnahmen in Belgrad sind schwach. Bedenken Sie die große Konkurrenz! In Belgrad war der Blaue Vogel, der Goldene Hahn, die Balalaika, die Weiße Hütte. Wir sind die fünften. Und wir geben gute Qualität. Aber das Publikum ist verdorben. Und wir werden kein Geld für die Reise nach Paris haben.”

„Wie heißt Ihr Theater?”

„Der Grüne Schwan”, sagten beide zugleich mit dem Stolz, mit dem Offiziere ihr Regiment nennen.

Nikolai Brandeis erinnerte sich vage, Plakate mit diesem Namen gesehn zu haben. Höflich, wie er heute war, sagte er, daß er von diesem Theater schon viel Gutes gehört habe.

Ob er ihnen helfen könne? fragten beide.

Ehe er sich noch darüber klar wurde, was er sagen werde, entfuhr ihm der Satz:

„Ich habe zufällig in dieser Woche in Belgrad zu tun und werde Sie dort besuchen.”

Die Männer gingen.

XI

Nun war er in Belgrad.

Am Nachmittag saß er in der Probe, im Grünen Schwan.

Er erinnerte sich nicht, wann er zuletzt in einem Theater gewesen war. Es mochten zwei Jahre oder drei her sein. Damals war er ein paarmal mit der Vorfreude in Theater gegangen, die er vor langen Jahren in seiner Studentenzeit hie und da gefühlt zu haben sich noch erinnerte. Er kam und erfuhr, daß die Bühnen leer waren, auch während sich die Schauspieler auf ihnen bewegten. Offenbar deshalb, dachte er, und weil die Menschen vom Theater selbst die Leere der Bühne immerhin ahnen mochten, geschahen diese Anstrengungen der modernen Regie. Deshalb baute man Treppen zum Beispiel. Wenn er Treppen sah, glaubte er vor dem entblößten Innern eines zerstörten Hauses zu sitzen. Er erinnerte sich an ein Erdbeben im Kaukasus, das er einmal erlebt hatte. In einigen Straßen am Rande der kleinen, alten Stadt waren die Mauern und das Dach eingestürzt, und offen boten sich dem Blick die Eingeweide der Häuser, Bretter, Balken und eine Treppe, die kein Ziel mehr wies. Der Himmel wölbte sich so hoch, und die Treppe, obwohl sie einmal durch die Stockwerke geführt hatte, schien im Vergleich zu dem unermeßlichen Abstand, der ihre höchste Stufe noch von der niedrigsten Wolke trennte, so lächerlich klein, daß an ihr, der fast intakt gebliebenen, mehr noch die Macht des Unheils sichtbar wurde als an dem Schutt der vernichteten Dinge.

Ein noch stärkeres Grauen empfand Brandeis im Anblick der Bühnen, weil hier das Bild des Untergangs nicht die Folge einer Katastrophe war, sondern einer menschlichen Anstrengung, die man „Regie” nannte. Er war manchmal neugierig, einen „Regisseur” kennenzulernen. Wie muß es, fragte er sich, in diesen Männern aussehen, wie werden sie von wüsten Träumen geplagt? Denn sie bauen offenbar die hohlen Abgründe, in die sie in ihren ängstlichen Nächten zu stürzen vermeinen, in Bühnenräume um. In Brandeis’ Jugend hatte es noch Rampenlichter gegeben. Er kam just zu der Zeit wieder ins Theater, in der die Scheinwerfer die ausgehöhlte Nacht der Bühnen nicht etwa erhellten, sondern durchsiebten. Und immer noch war es nicht finster genug, um den Zuschauer vergessen zu lassen, daß diese Nacht gebildet wurde: von den Schatten des Gerümpels, der Kästen, der Hängeböden, deren konservierter, neu mumifizierter Tod eine mechanische Kälte unter die gespielten Vorgänge ausatmete. Und obwohl der taghelle Scheinwerfer die handelnden Personen in Löcher aus Licht stellte, war sein Glanz doch nicht mächtig genug, den Zuschauer die private Menschlichkeit des Schauspielers vergessen zu lassen. Vielmehr war es, als ob der Scheinwerfer selbst die Neugier darstellen wollte, die im Zuschauer vorhanden war, die einzige Neugier, die im Zuschauer dieser Zeit vorhanden war und die nicht dem Sinn der Handlung folgte, sondern der Sinnlosigkeit der Bewegungen. Es war, als folgte der Scheinwerfer so hartnäckig dem Schauspieler, um endlich zu erfahren, wozu dieser Mann hier drei Treppen nahm, um einen bestimmten Satz zu sagen, und wozu er, um eine Antwort entgegenzunehmen, dort drei Treppen wieder hinunterstieg. Es schien Brandeis, daß man in der Zeit seiner Jugend weniger vom Theater verlangt hatte. Deshalb hatte es mehr gegeben. Er erinnerte sich genau, daß er nicht ins Theater gegangen war, um ein Stück von Shakespeare, wie man sagt, „verlebendigt” zu sehn – denn niemals konnte Shakespeare lebendiger sein, als wenn man ihn las —, sondern den Abstand und den Unterschied kennenzulernen, die zwischen dem gespielten Shakespeare und dem in der Vorstellung des Zuschauers lebenden vorhanden waren. Damals konnte es geschehen, daß ein großer Schauspieler, eben weil er und weil die Bühne keinen Augenblick es verleugneten, daß sie Theater waren (mit einer Rampe, mit Kulissen, mit Bäumen und Felsen und Mauern aus Pappe), ein gedichtetes Schicksal in seinem Körper aufgenommen hatte und das eigene Blut hingab für das Blut Shakespeares. Aber ein Regisseur – so dachte Brandeis – dirigierte heute die Selbstopferung des Schauspielers, die, um Gnade zu erlangen, sich in vollkommener Einsamkeit abzuspielen hätte. Die Regie schafft Räume. Nun gibt es keine Menschen, sie auszufüllen. Deshalb ließ man den Raum wieder im Dunkel, in der Hoffnung, daß der schmale Lichtkegel den Menschen zur Geltung bringen würde. Welch ein Irrtum! Der Mensch geriet in ein Loch und, gefesselt in die Hohlheit, die nunmehr sein Leib war, tappt er durch die Nächte.

Brandeis hätte niemandem etwas von all dem gesagt. Er hielt sich auch nicht für kompetent. Er verstand das nicht. Es war „nicht seine Sache”. Er dachte mit Entsetzen daran, daß man in den modernen Theatern schrie wie auf der Börse. Er dachte daran, daß es ein unanständiges Geschäft war, für eine Fiktion zu bezahlen, die nicht zugab, daß sie eine war. Für ein Stück, das vorgab, ein gesteigertes Leben zu enthalten, und das, verglichen mit seinen eigenen, mit Brandeis’ Erlebnissen aus seiner früheren Existenz, aber auch nur verglichen mit einer Stofflieferung nach dem Balkan, keineswegs gesteigertes Leben war, sondern das Spiegelbild eines Traums vom Leben, geträumt von einem blassen Dramatiker. Nein! Er ging lieber ins Kino. Er liebte die ahnungslose Dunkelheit des Zuschauerraums und den belichteten Schatten der Agierenden. Er liebte die primitive Spannung der Fiktion, die sich ehrlich zu sich selbst bekannte. Er liebte die Abgeschiedenheit, in der jeder einzelne saß, weil die anderen sich in Wirklichkeit hart vor der Leinwand befanden. Nur ihre Körper blieben auf den Plätzen, wie Kleider in einer Garderobe. Zweimal in der Woche ging Brandeis ins Kino. Er ruhte aus. Er redete nicht. Er hörte nichts. Mit Ungeduld ertrug er die kurzen Lichtpausen. Er haßte sie. Er dachte daran, gelegentlich Kinos einzurichten, in denen es niemals hell werden sollte.

Er kam zu den Proben des Grünen Schwans, allein, im dunklen Zuschauerraum saß er. Nein, er sah wieder, daß er sich für Kunst nicht interessierte und gar nicht für „Kleinkunst”. Eigentlich war ihm das russische Kabarett, das er noch vom alten Rußland her kannte, immer verhaßt gewesen. Ihm widersprach die Kunst, die aus Angst vor den Dimensionen zierlich wurde. Er haßte die Delikatesse. Er haßte diese Stückchen Milieuschilderung, in denen die Menschen sich in Liliputaner verwandelten, die Bäuerinnen in Balletteusen, die Kosaken in Zinnsoldaten. Er haßte den leeren Charme des Conferenciers, der ihm zu Ehren – denn man behandelte ihn wie einen Geldgeber – einen besonderen Witz entwickelte. Weshalb ging er nicht weg? Nun saß er schon das drittemal in der Probe. Ja, er ging sogar am Abend am Theater vorbei, um sich zu erkundigen, was die Kasse ergeben hatte. Weshalb tat er es?

Die Truppe befand sich in Not. Sie hatten schon lange nicht mehr das Hotel bezahlt. Das Essen kreditierte man ihnen nicht mehr. Es gab Abende, an denen der Kassenertrag gerade reichte, um jedem einen Kaffee oder einen Tee mit einem Gebäck in der Konditorei zu sichern. Sie saßen nach jeder Vorstellung zusammen an engen Tischen und erinnerten an Bündel ängstlicher Hühner, die das Schlachtmesser erwarteten. Und immer noch lärmten sie durcheinander, weil sie die stummen Pausen fürchteten, als wäre unausweichlich die Stille nichts anderes als ein Vorbote des Todes. Seit der Gründung des Grünen Schwans war es ihnen niemals so schlechtgegangen. Ihre hastig abgeschminkten Gesichter schimmerten gelb im Glanz der abendlichen Lichter. Dennoch wollten sie einander nicht verlassen. Jede Nacht warteten sie, bis man das Lokal schloß. Und auch dann gingen sie von einem der drei Hotels, in denen sie einquartiert waren, zum andern. Alle begleiteten einander. Und die kleine Gruppe, die schließlich in ihr Hotel trat, kam sich elend und von den andern verraten vor. Noch lange standen sie flüsternd in den Korridoren. Dann fiel hinter jedem die Zimmertür zu wie ein Sargdeckel.

„Warum”, fragte Brandeis sie eines Abends, „geht nicht jeder von euch hin und sucht sein Brot?” Sie sahen ihn an, erschrocken und geringschätzig, als hielten sie ihn für verrückt und auch für minderwertig. „Wie”, antwortete ihm der Kapellmeister, „wir sollen den Grünen Schwan verlassen? Niemals!” Und Brandeis begriff, daß diese Menschen für ein Gebot der Kunst hielten, was ein Gebot der Heimat war. (Sie waren nicht alle Schauspieler gewesen. Die Frauen Töchter aus guten Häusern, die Männer Offiziere und Beamte, zwei Großgrundbesitzer unter den Musikanten, der Kapellmeister ein Gymnasialprofessor.)

Brandeis fand zum erstenmal Gelegenheit, Geld für eine Sache auszugeben, die ihm nicht gefiel. Seitdem er angefangen hatte, Geschäfte zu machen, war er gewohnt, jede Geldsumme als ein Instrument zu sehen. Einem Bettler ein Almosen zu geben wäre ihm so lächerlich erschienen, wie wenn man ihm etwa zugetraut hätte, ein Feuer anzuzünden, zu keinem andern Zweck, als um es sofort wieder mit Wasser zu löschen, oder seine Taschenuhr auf das Pflaster zu werfen, nur damit sie aufhöre zu gehn. Er hatte Theodor Bernheim zweitausend Dollar gegeben, nicht nur, weil er Pauls Hilfe gebraucht hatte, sondern weil er der Meinung war, daß es galt, jede Funktion der irdischen Gerechtigkeit zu verhindern … Er gönnte der Polizei keinen einzigen der vielen Theodors, die es geben mochte und denen allen er wahrscheinlich geholfen hätte. Er haßte die Ordnung der Staaten. Er verstand sie nicht. Aber noch weniger verstand er die Kunst und die Kleinkunst, die in den Ziergärten der verhaßten Ordnung gediehen.

Und dennoch bezahlte er dem Grünen Schwan die Hotelrechnungen und die Reise.

Es war der letzte Abend in Belgrad. Sie saßen, heiter infolge der Aussicht auf Paris und lärmend in ihrem Stammcafe, in einzelnen Gruppen an verschiedenen Tischen. Brandeis trat ein. Er wollte heute noch nach Berlin zurück, er suchte den Direktor, um sich zu verabschieden. Er kam sich lächerlich vor, er hatte einem lächerlichen Unternehmen Geld gegeben, ja eine Reise ohne Grund gemacht, Zeit verloren. Nun wollte er alles vergessen. Es wäre richtiger, überlegte er, ohne ein Wort zu verreisen. Aber das empfiehlt sich nur, wenn man Geld bekommen, nicht, wenn man es verliehen hat.

 

Sie erblickten ihn sofort, als er eintrat, umringten ihn, behandelten ihn, wie es sich geziemte, mit ausgelassener Dankbarkeit. Er sah noch einmal gleichgültig auf ihre gleichgültigen Gesichter. Plötzlich blieb sein Auge in der Leere haften.

Ein Gesicht fehlte, er wußte nicht den Namen, der zu dem Gesicht gehörte. Er vermißte es nur.

Einen Augenblick später saß er am Tisch und bestellte zu trinken. Eben war er noch entschlossen gewesen, möglichst schnell und im Stehen Abschied zu nehmen. Nun setzte er sich, um zu warten. Das Gesicht, auf das er wartete, konnte nicht älter als neunzehn Jahre sein. Je länger die Leere dauerte, um so deutlicher sah er das braune Angesicht, die schmalen Wangen und den breiten, roten, hellgeschminkten Mund, der wie ein Schrei im ruhigen Antlitz war, und die dunklen Augen, die so nahe nebeneinanderstanden, daß eine Augenbraue in die andere überzugehen schien. Was für Schuhe trägt sie? Es gab in diesem Augenblick plötzlich nichts Wichtigeres! Er hätte gerne gefragt, was für Schuhe sie trug, obwohl er noch überhaupt nicht nach ihr gefragt hatte. Er wußte nicht, wie sie hieß. Gewiß – ich könnte sie schon beschreiben. Aber das ist peinlich, sehr peinlich. Ich werde lieber warten. Ich werde morgen fahren.

Sein Zug ging um elf Uhr abends. Als Lydia Markowna eintrat, zeigte die große Uhr über dem Büfett gerade zehn. Er hatte also noch eine Stunde Zeit. Er empfand es als einen Verrat, daß sie gerade jetzt daherkam und ihn in die Verlegenheit brachte, die Reise noch zu machen, die er schon aufgeschoben hatte. Weshalb kam sie gerade jetzt? Eine halbe Stunde reichte nicht, um alles von ihr zu erfahren, was unter Umständen wissenswert war. Aber eine halbe Stunde reichte wohl, um ihr adieu zu sagen. Hatte er denn eigentlich was anderes gewollt? Soweit er sich jetzt erinnern konnte, war er nur zu diesem Zweck hiergeblieben. Sie war gekommen, man konnte sich verabschieden. Aber es wäre doch besser gewesen, wenn ihr Eintritt gleichzeitig mit der Abfahrt des Zuges erfolgt wäre. Dann blieben noch drei Stunden, bis das Lokal geschlossen wurde. Und dann gab es noch andere. Und der Zug nach Paris, mit dem der Grüne Schwan wegfahren sollte, ging erst um drei Uhr nachmittags, morgen – Eine lächerliche Hoffnung erwachte in Brandeis: Wenn die Uhr über dem Büfett überhaupt falsch ging? Es galt nur eine kleine Bewegung, um sich zu überzeugen. Aber diesen Griff nach der Taschenuhr schob Brandeis noch absichtlich hinaus, denn er fürchtete, sich überzeugen zu müssen, daß die Uhr richtig ging. Schließlich zog er seine Uhr. Es war, als wenn er aus einer großen Kälte in eine helle, strahlende Wärme gekommen wäre: längst elf vorüber. Sein Zug schon unterwegs.

„Wie heißt eigentlich die Frau, die eben hereinkommt?” fragte er seinen Nachbarn.

„Das ist Lydia, Lydia Markowna!”

„Lydia Markowna!” wiederholte Brandeis. Er stand auf und ging ihr entgegen. Sie war langsam und lächelnd eingetreten. Sie wählte, während sie sich den Freunden näherte, einen der Tische. Hart vor ihr und so, daß sie den Kopf zurücklegen mußte, um sein Gesicht zu sehn, blieb Nikolai Brandeis. Sie gab ihm die Hand. Er zog sie an den kleinen Tisch, der gerade leer vor ihnen stand.

„Sie sind Lydia Markowna!” sagte er, wie um sich zu vergewissern, daß sie so hieß, und als wäre ihm jeder andere Name nicht ebenso gleichgültig gewesen.

„Ja – Sie kannten mich nicht?”

„Doch. Ich kannte Sie. Aber ich frage nicht nach den Namen. Nur in ganz bestimmten Fällen. Sie sind zum Beispiel ein ganz bestimmter Fall.”

Er wartete. Sie sagte nur: „Warum?”

„Weil ich möchte —”, sagte Brandeis, „das heißt, weil ich Sie bitten möchte, morgen nicht mit den anderen zu fahren, sondern mit mir, zu mir nach Hause.”

„Was fällt Ihnen ein? Ich soll das Theater verlassen?”

„Warum nicht?”

„Aber – Sie wissen nicht? Ich habe einen Freund. Ich kann doch meinen Mann nicht verlassen! Ich kenne Sie ja gar nicht!”

„Wer ist Ihr Freund?”

„Grigori – dort sitzt er!”

Brandeis sah sich um. Es war der Mann mit der Baßstimme, der in der Szene „Die weißen Reiter” den Ersten Kosaken spielte.

Grigori war in eine Kartenpartie verwickelt.

„Warten Sie hier!” sagte Nikolai.

Er schickte den Kellner zu Grigori mit einem Zettel, auf den er geschrieben hatte:

„Kommen Sie sofort herüber. Es handelt sich um Geld.”

Grigori kam. Er sah abwechselnd Lydia an, die er nicht begrüßte, und Brandeis, dem er unaufhörlich zulächelte. „Hören Sie!” sagte Brandeis leise. „Erlauben Sie, daß Lydia Markowna morgen zurückbleibt? Mit mir?”

„Warum stören Sie mich, mein Lieber?” antwortete Grigori. „Ich dachte, es handelt sich um Geld!”

„Das Geld bekommen Sie. Antworten Sie.”

Grigori machte die Augen klein und sah Lydia an.

Dann sagte Grigori: „Gewiß – wenn sie will!”

„Grischa!” schrie Lydia so laut, daß alle sich um wandten. Sie legte den Kopf auf den Tisch und weinte, die Stirn gegen den Marmor der Platte, als wüßte sie keine andern Vertrauten mehr als Stein und tote Dinge.

„Kommen Sie”, sagte Brandeis. Erhob sie vom Sessel. Der Direktor kam. Brandeis sagte: „Lydia Markowna verläßt euch. Zahlen Sie dem Herrn Grigori zwei Monatsgagen auf meine Rechnung. Gute Nacht!”

Es war ein neuer Nikolai Brandeis, der jetzt mit der Frau die Straße betrat.

Er ging mit ihr zu dem Standplatz der Autos.