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Bei diesen Übungen tat sich Theodor nicht hervor. Er war zu körperlichen Anstrengungen ungeeignet. Die Fahlheit seiner Haut, seine hastigen, kurzen Schritte, seine Sprache, die oft tonlos wurde, die Aufregung, in der er gleichgültige Dinge mitzuteilen pflegte, die Heftigkeit der Bewegungen erweckten den Eindruck, daß man seinen hastigen Puls hörte. In seiner Brust schien das zappelnde, kleine, aufgeregte Herz eines Vogels eingebaut. Er konnte einem mit dem Ausdruck eines Menschen entgegentreten, der soeben eine überraschende Neuigkeit erfahren hat, um dann eine schlichte Mitteilung etwa von dieser Art zu machen:

„Wissen Sie schon? Habe ich es Ihnen nicht schon gesagt? – Ich habe gestern einen Brief von Gustav bekommen.”

Er verlieh den unbedeutendsten Ereignissen eine gefährliche und geheime Wichtigkeit, ja besonders eine geheime. Es war sein Ehrgeiz, irgend etwas früher zu wissen als die andern; aber es auch unter dem Siegel der Verschwiegenheit irgend jemandem erzählen zu können. Auf diese Weise nährte er fortwährend den Glauben an seine Bedeutung. Aber fortwährend zitterte er auch um sie.

Er besaß einen Sinn für die Dinge der Öffentlichkeit und für die großen Worte: Ehre, Freiheit, Nation, Deutschland. Um jeden Preis wollte er irgendeine Wirkung üben. Seine Angst, er könnte krank werden, Angina bekommen, eine Lungenentzündung, eine Rippenfellentzündung, machte ihn ungeduldig. Er konnte kaum ein Buch zu Ende lesen. Aber er brauchte nur zehn Seiten, um über die Maßen begeistert zu sein oder um es „einen Dreck” zu nennen. Denn er liebte die starken Ausdrücke – und das war vielleicht das einzige deutliche Anzeichen seiner Jugend.

Er hielt sich für außergewöhnlich vornehm. Manchmal träumte er davon, eine Geschichte seiner Familie zu schreiben, dem Stammbaum der Bernheims nachzuforschen und den Beweis zu erbringen, daß es eine alte, adlige Rasse war. Die jüdische Abkunft seiner Mutter störte ihn. Und nicht einmal vor seiner Krankheit hatte er soviel Angst wie vor der Möglichkeit, seinen Kameraden einmal über die Familie seiner Mutter Auskunft geben zu müssen. Er beschloß, um jeden Preis zu lügen. Dieser Entschluß war so stark, seine Furcht so groß, daß er allmählich zu der Überzeugung kam, er hätte nichts zu verbergen. Alle Ausreden, die er fand, wurden im Lauf der Zeit für ihn pure Wahrheiten. Die Überzeugung, daß er vornehm sei, äußerte sich in einem Hochmut, den die Kameraden nur deshalb ertrugen, weil er hie und da mit Intimitäten-Austausch und Vertraulichkeiten, ja Schmeicheleien abwechselte. Theodor konnte einem seiner Genossen sagen: „Unter uns, Sie sind ja der einzige unter den Burschen, der weiß, was er will!” Oder: „Das war glänzend, bewundernswert, wirklich eine Tat!”

Es ist anzunehmen, daß Theodor all das glaubte, während er es aussprach. An den gemeinsamen Ausflügen und Übungen nahm er nicht gerne teil. Nicht nur, weil er um seine Gesundheit besorgt war, sondern auch, weil ihn manche groben Äußerungen, manche Zudringlichkeit, eine geschmacklose Wendung beleidigten. Er hatte sich seine Vornehmheit so erfolgreich suggeriert, daß er sogar vornehme Empfindlichkeiten erwarb. Das Marschieren, das Schießen, das Kampieren im Freien machten ihm keine Freude. Nur die Tatsache, daß es eine geheime Verbindung war, die Gefahren barg, und die Möglichkeit, ein Verschwörer zu sein, aber auch von Gesinnungsgenossen gehört zu werden, hielt ihn in der Gesellschaft seiner Freunde. Er liebte die großen Stiefel nicht und nicht die Wickelgamaschen. Die Naturnähe des Wandervogels hielt er für ordinär. Er erwartete viel mehr von der „Technik”. „Für die Zukunft” ein Wort, das er besonders schätzte. Er hatte den ehrlichen Willen, das deutsche Volk in der Welt triumphieren zu sehen, aber mit modernen Mitteln. Mit Flugzeugen, Boxern, guten und billigen Automobilen, chemischen Apparaten, merkwürdigen Maschinen. Übungen in den Wäldern nannte er im stillen und nur für sich romantisch. Nur mußte er vorläufig diese Romantik mitmachen, um durch sie zu einer realen Macht, mindestens zu einem Einfluß zu gelangen. Es machte ihm wenig aus, daß er vorderhand log. Es gehörte zu seinen Prinzipien.

In dieser Nacht konnte er lange nicht einschlafen. Über die leere Büchse würde sich nicht nur seine Mutter zu Tode ärgern – ja, zu Tode, denn wäre sie nicht vorhanden, so hätte man eine von den Ängsten weniger —, der Inhalt ersparte auch eine Ausgabe von dem Taschengeld, das man selten erhielt.

Seine Freude wurde nur durch die Gedanken an Pauls Rückkehr getrübt. Ich sehe schon, sagte er sich gegen zwei Uhr morgens, ich werde wieder einmal eine schlaflose Nacht verbringen. Zum Überfluß fängt es noch an zu regnen.

In der Tat fing es an, in der Rinne zu wimmern, die hart neben dem Fenster Theodors angebracht war. Er entzündete die Lampe am Nachttisch, fand, daß sie wenig Licht gab, stand auf, um den großen Kontakt an der Wand anzuknipsen, legte zuerst die Brille an, denn er fühlte sich unsicher im Halbdunkel, und blieb, als es hell geworden war, im Vorübergehen vor dem Schrankspiegel stehn. Er sah nicht ohne Befriedigung, daß sein Pyjama einen guten Eindruck machte. Es hatte einen seidigen Schimmer, Borten dick und geflochten nach Art der Litewkas der Kavalleristen, seine Farbe war die eines abendlichen, opalenen Sommerhimmels. Theodor liebte Pyjamas, gute Wäsche, seidene Strümpfe. Er hielt es für ein Zeichen der Vornehmheit, in der Nacht tadellos gekleidet zu sein. Krawatten gut und flott zu binden machte ihm jeden Morgen ein Vergnügen. Und für die Aufnahme des schwarzhaarigen Landesgerichtssohnes war er nicht zuletzt deshalb eingetreten, weil der Junge auf Herrenmodezeitschriften abonniert war, die er Theodor manchmal lieh.

Um einschlafen zu können, nahm Theodor Veronal. Es konnte allerdings seinem „Herzen schaden”. Er litt unter der Vorstellung, daß der Apotheker sich geirrt und ihm statt einer Medizin ein Gift gegeben hatte. Diese dummen Apotheker, dachte er, vergiften einen Menschen wie eine Ratte. Wenn ich so einem Pharmazeuten unsympathisch bin, denkt er an meinen Tod. Man muß die Kerle höflich behandeln. Morgen werde ich mit ihm liebenswürdig sein. Er nannte alle Männer „Kerle”. Er unterschied zwei Arten von Kerlen: die er bewunderte und die er verachtete.

Sein Bruder Paul gehörte zu den Kerlen, die er verachtete und beneidete. Morgen kommt also dieser Kerl daher! Er ist reich, jung und gesund, ein niederträchtiges Sonntagskind. Ob er mir einen Pfennig gibt? Bestimmt nicht. Er ist ein Geizkragen. (Denn es gehörte zu Theodors Eigenheiten, sowohl den verachteten als auch den geschätzten „Kerlen” einen „Geiz” anzudichten.) Morgen kommt er daher und ergreift Besitz vom ganzen Haus. Er und die Mutter werden jetzt gegen mich Zusammenhalten. Ich werde ihn sehr hochmütig empfangen. So wie ich das kann.

„So wie ich das kann”, wiederholte er flüsternd. Angst hatte ihn wieder ergriffen. Das Veronal half nicht, es verursachte Herzklopfen, die Dachrinne hörte nicht auf zu wimmern, die Windstöße streuten in unregelmäßigen Abständen dicke Wassertropfen wie Kieselsteine gegen die Fenster. Theodor begann in einem Buch zu blättern, das er in Pauls Bibliothek gefunden hatte. Es war der „Rembrandt-Deutsche”. Er stieß auf einen Satz, der ihm gefiel, beschloß, ihn sich zu merken und morgen, wenn er mit Lehnhardt sprach, zu zitieren. Das ermüdete und schläferte ihn ein.

Der Morgen erfüllte fahl das Fenster.

VI

Theodor erwachte spät.

Er horte Pauls Stimme aus dem Korridor und beschloß, das Wiedersehn mit dem Bruder möglichst lange hinauszuschieben und noch zwei Stunden im Bett zu bleiben. Seine Mutter klopfte an die Tür. Er meldete sich nicht, hüstelte nur. Er hörte, wie sich die Mutter wieder entfernte und im Speisezimmer etwas zu Paul sagte.

Er kleidete sich mit besonderer Sorgfalt an und steckte das Abzeichen des Vereins „Gott und Eisen” ins Knopfloch. Es war ihm, als rüstete er sich zu der Begegnung mit einem gefährlichen Gegner, und sein Instinkt gebot ihm, allerhand Vorbereitungen zu treffen, und drückte ihm zuletzt noch eine seiner drei Pistolen in die Hand. Er sah das Magazin nach und steckte sie in die Hosentasche. Dann ging er leise, als hätte er jemanden zu überraschen, zur Tür des Speisezimmers, lauschte noch eine Weile und trat ein.

Die beiden Brüder umarmten sich flüchtig und hauchten ihre Küsse in die Luft, einer über die Schulter des ändern.

„Was trägst du da für ein Abzeichen?” fragte Paul.

„Das ist unser Verein!” erwiderte Theodor.

„Was macht ihr dort?”

„Allerhand!”

Lange Pause.

Theodor, der Stille nicht vertrug, fing an, im Zimmer hin und her zu gehn, den Kopf gesenkt, mit kurzem Schritt, den Daumen der rechten Hand im Ärmelausschnitt der Weste. Man hätte glauben können, er memorierte etwas oder löste in der Eile ein Rätsel, das ihm sein Bruder aufgegeben hatte.

„Du bist heute spät aufgestanden?”

„Ja!” knurrte Theodor.

„Du bist spät schlafen gegangen?”

Theodor schärfte die Ohren. Wußte der Bruder von der Büchse?

„Ja, weißt du, der Regen läßt mich nicht schlafen, und außerdem hab’ ich gearbeitet!”

„Du studierst?”

„Ja, ich beschäftige mich seit einigen Monaten mit Marx.” Theodor liebte die verblüffenden Lügen. So erreichte er, daß der andere durch das Staunen gar nicht zur Ungläubigkeit kam, sondern eher zum Respekt.

„Wie kommst du auf Marx?”

„Es sind richtige Sachen bei diesem Kerl. Er hat eine Nase gehabt. Und außerdem soll man den Feind kennen, ehe man ihn bekämpft.”

„Du willst also gegen ihn schreiben?”

„Schreiben?! Die Zeit ist vorbei! Das überlasse ich dir. Unser neues Geschlecht kennt Taten!”

„Was sind Taten?”

„Was man mit Kopf und Hand ausführt. Zum Beispiel: Ordnung in Deutschland machen, die Regierung stürzen, die Bolschewisten und die Juden aller Parteien verbannen, Freudenfeuer anzünden und den Krieg erklären!”

 

„Sprichst du im Namen eures Vereins?” fragte Paul.

„Immer”, erwiderte Theodor. „Bei uns gibt es keine verrückten Einzelgänger wie du. Wir werden keinen Krieg mehr verlieren.”

„Machst du mir die Niederlage zum Vorwurf?”

„Allerdings, dir und den andern Juden!”

„Also Krieg zwischen uns?”

„Feindschaft auf jeden Fall. Wenn es nötig ist, auch Krieg!”

„Unter solchen Umständen”, begann Paul nach einer Weile sehr ruhig und langsam, „können wir nicht unter einem Dach leben. Wir werden vielleicht die Mutter fragen – denn dieses Haus gehört nach dem Testament des Vaters ihr —, wer von uns beiden hierbleiben darf.”

„Das Gesetz geht mich einen Dreck an. Nach eurem römisch-jüdischen Recht muß ich vielleicht ausziehn.”

„Wir haben allerdings kein germanisches.”

„Wir werden sehen!”

Theodor begann wieder seine Wanderung, den rechten Daumen im Ausschnitt der Weste. Er wollte versuchen, eine Art stiller, sachlicher Gegnerschaft aufzurichten.

„Hast du Marx jemals gelesen?”

„Nein”, sagte Paul, „nur Mangelhaftes über ihn!”

Trotzdem glaubte Theodor, daß eine objektive Anerkennung marxistischer Vorzüge Paul versöhnlicher stimmen würde. Also sagte er:

„Immerhin, enorme Sache, dieser Marx!”

Nichts konnte Paul mehr aufregen als die Wendung „enorme Sache” und die Art, in der sie sein Bruder aussprach. Die Anwesenheit des Bruders schmerzte seine Augen, lähmte seine Hände, die er in die Taschen steckte, um nicht sehen zu lassen, daß sie zitterten.

„Du bist ein Analphabet!” sagte Paul plötzlich. „Du hättest noch elementare Dinge zu lernen!”

„Du bist nicht kompetent, gar nicht kompetent!” Theodors Stimme wurde lauter. „Immer mit den elementaren Dingen. Das ist eure ganze Weisheit! Mit diesen elementaren Dingen habt ihr den Krieg verloren. Wir beginnen eine neue Epoche Deutschlands. Eure elementaren Dinge sind Dreck! Wir fangen überhaupt von vorne an. Man muß nicht Herder und Lessing gelesen haben, um ein Mensch, ein Deutscher zu sein! Es ist der verfluchte Neid, der euch zu uns so reden läßt. Ihr wollt uns nicht aufkommen lassen. Ihr haßt uns! Ihr neidet uns unsere Zukunft! Mit eurer klassischen Bildung! Das ist die Wahrheit! Ein Dummkopf bist du!”

Den letzten Satz schrie Theodor so laut, daß Frau Bernheim aus der Küche kam. Noch ehe sie zu reden anfing, fuhr sie mit dem Handrücken an die Brauen, um die Tränen, deren sie sich bald zu bedienen gedachte, aus den hartnäckig trockenen Augen zu drücken. Sie blieb an der Tür und sagte:

„Nun, Paul, ist dein Bruder nicht ein törichtes Kind?”

Theodor sah auf seine Mutter und seinen Bruder mit einem Blick, den man auf die Leichen besiegter Feinde wirft. Er zog sein Taschentuch und begann, die Brille zu putzen. Mit seinen nackten, kleinen Augen, über denen die dünnen Lider auf und nieder flatterten, schaute er abwechselnd auf die Mutter und den Bruder, während er dachte: Ich halte sie im Bann! – Dann legte er die Brille an.

Paul erhob sich plötzlich. Er hielt zwei drohende Fäuste vor Theodors Angesicht. Der griff nach der Hosentasche, wo der Revolver lag. Einen kurzen Augenblick dachte Paul an die Szene mit Nikita. Schnell zielte er nach Theodors Augen. Man hörte ein leises Splittern. Die Brille zerbrach. Gleichzeitig stieß Frau Bernheim einen Schrei aus.

Ein paar Minuten standen alle drei bewegungslos. Sie erinnerten an Gestalten aus Wachs im Panoptikum. Von der Konsole her tickte die Uhr. Der Regen trommelte gegen die Fenster. Man horte das Summen der Wasserleitung aus dem Korridor.

Dann löste sich die Gruppe. Frau Bernheim verschwand durch die Tür. Eine Weile später verließ Paul das Zimmer und ging in die Bibliothek.

Theodor klaubte die Glassplitter zusammen, obwohl er sie eigentlich liegen lassen wollte. Er wußte noch selbst nicht, wozu er die Splitter brauchen würde. Die Splitter in die Töpfe streuen, damit alle sterben. Sie Paul bei Tisch in die Augen werfen. Oder ins Salzfaß schütten. Er hielt sie in der geschlossenen Hand. Mit suchend vorgestrecktem Kopf ging er in sein Zimmer. Er nahm den Mantel, wechselte vorsichtig die Halbschuhe gegen Stiefel. Dabei dachte er: Ich werde ihnen nicht den Gefallen erweisen und eine Lungenentzündung bekommen. Dann verließ er das Haus. Er begab sich zum Optiker und hierauf in den Verein „Gott und Eisen”.

Paul stellte in der Bibliothek fest, daß die Mehrzahl seiner Bücher verschwunden war. Er ging in Theodors Zimmer, nahm einige Bücher aus dem Regal und trug sie wieder in die Bibliothek. Dann kehrte er in das Zimmer des Bruders zurück. Er betrachtete drei Windjacken, die am Kleiderrechen hingen, mit schlaffen Ärmeln, an denen unter der Schulter ein Hakenkreuz angenäht war, schwarz auf weißem Grunde. In der Ecke lehnte ein Spazierstock, dessen Griff einen Totschläger aus Eisendraht enthüllte, der sich im hohlen Innern des Stockes barg. Ferner gab es eine Jagdflinte, zwei Pistolen im Nachtkasten und zwei Dolchmesser als Brieföffner auf dem Schreibtisch. Neben dem Tintenfaß standen kleine, würfelförmige Kästchen aus Pappendeckel, mit Patronen gefüllt. Theodor konnte sich hier gegen eine Kompanie verteidigen.

Es war heiß in diesem Zimmer, in dem sich außer dem Apparat der Zentralheizung noch ein kleiner, eiserner Ofen befand. Er war jetzt erkaltet, aber man sah ihm an, daß er noch gestern nacht gebrannt hatte. Der Ofen verlieh dem Zimmer etwas vom provisorischen Charakter einer Unteroffizierstube. Statt eines Schürhakens verwendete Theodor den Überrest von einem Schirmgestänge. In der Nähe des Ofens hingen zwei gekreuzte Schläger, ein Visier in der Mitte, eine beschützte Köstlichkeit.

Nur im Zimmer Theodors war es warm. Seitdem Frau Bernheim angefangen hatte zu sparen, durfte der Hausmeister erst heizen, wenn das Quecksilber auf 5 Grad Celsius gefallen war. Ein eisiger, wüster Hauch lag über den Möbeln, den Teppichen und an den Fenstern aller Zimmer. Sie erinnerten an die kalten, klaren, ordentlichen und unheimlich sauberen Stuben in den Auslagen der Möbelhandlungen. Alles war neu und unbenützt. Die Politur blinkte wie am ersten Tag. Die Teppiche schienen keinen Staub aufzufangen. Mehrere hatte Frau Bernheim übrigens einrollen lassen und in die Winkel gestellt. Dort lehnten sie gewichtig und sicher und dennoch wie in der Erwartung, von irgend jemandem abgeholt zu werden. An den Stellen, wo sie fehlten, lag weiches, glattes, ziegelrotes Linoleum, auf dem man ging wie auf Radiergummi. Von den vielen Uhren, die Herr Felix Bernheim in sein umgebautes Haus gebracht hatte – zu seinen Lebzeiten stand oder hing in jedem Zimmer eine, denn er hatte eine Schwäche für Uhren und einen Sinn für den Wert der Zeit —, ging jetzt nur eine auf dem Kamin im Speisezimmer. Denn es schien Frau Bernheim, daß sich die kostbaren Werke allzusehr abnützten, wenn sie in Bewegung waren. Trotzdem ließ sie die toten Uhren, jede in einem Zimmer. Und aus den weißen und silbernen, zwecklos gewordenen Zifferblättern und von den Zeigern, die seit Jahren die gleiche, erstarrte Stunde wiesen, ging ein unheimliches Schweigen aus und strich durch die frostige Leere der Räume.

Paul ging ein paarmal durch das Haus. Er blieb immer wieder vor dem vergrößerten Brustbild seines Vaters stehn. Es hing in seinem Arbeitszimmer über dem Regal, auf dem sich einst zufällige Bücher gehäuft hatten, Korrespondenzen, Zeitungen, und auf dessen oberstem Fach heute nur eine Briefwaage stand, einsam, ganz leise zitternd wie infolge der Kälte, mit einer glänzenden Schale aus Messing. Der Blick des Vaters schien auf der Briefwaage zu ruhen. Sie hatte nichts mehr zu tun, als die Gewichtslosigkeit dieses toten Blicks anzuzeigen. Paul versuchte, hinter dem ziemlich mißlungenen und nur die repräsentative Oberfläche der Physiognomie enthaltenden Porträt das wirkliche Angesicht seines Vaters zu finden. Es gelang ihm nicht mehr. Er erinnerte sich noch an gewisse Bewegungen des Körpers und der Hände, deren blaue Adern und viereckige, sehr saubere und fast weiße Nägel. Aber das Angesicht blieb verschollen, es hatte nie gelebt. Es konnte auch gar nichts nützen, etwa die Gruft zu öffnen. Das Antlitz seines Vaters bestand jetzt aus tausend Löchern, es war Behausung und Nahrung der Würmer geworden.

Er war zum erstenmal über den Tod seines Vaters traurig. Der Vater war die einzige Kraft und Wärme dieser Familie gewesen. Paul faßte den Entschluß, das Haus zu verlassen. Solange seine Mutter lebte, war keine Änderung zu erwarten. Nie würde sie etwa Theodor gehen lassen. Paul selbst wollte wegfahren.

Er ging durch den Garten. Die Rosenstöcke zitterten, in Stroh verpackt, die jungen Weidensträucher am Gitter waren etwas größer geworden, die Zwerge troffen erbärmlich im Regen. Sie hatten allmählich ihre heiteren Farben verloren, und in das Kachelweiß ihrer Märchenbärte mischte sich das moosige Grün der Verwitterung. Sie waren als junge, frische Greislein gekommen, jetzt sahen sie dem Zerfall entgegen und verloren die heitere Würde ihres Alters. Anders als die Menschen waren die Zwerge aus der Fabrik Grützer und Compagnie weißhaarig in der Jugend und farblos im Alter. Über die schmalen Wege hatte man keinen Kies mehr gestreut, es knisterte nicht mehr unter den Füßen, der Schlamm der Erde verschluckte die kleinen Steinchen. Der Garten erinnerte an diesem kalten, regnerischen Herbsttag an ein Bauterrain.

„Was macht denn der Gärtner?” fragte Paul seine Mutter beim Essen. „Ich habe ihn entlassen”, sagte Frau Bernheim. „Das heißt, er ist eingerückt und vor einer Woche zurückgekommen, aber ich habe ihn nicht mehr genommen. Der Portier kann den Garten auch ganz gut versorgen. Wir müssen uns einschränken, Paul! Ich habe den großen Wagen und zwei Pferde verkauft und einen Teil der Stallungen dem Gerstner vermietet.”

„Wer ist das?”

„Der Milchhändler, weiß du nicht? Seit einem Jahr haben wir keine Köchin mehr, nur das Stubenmädchen, und das bißchen Essen mache ich selbst in der Küche.”

„Und geheizt wird auch nicht mehr.”

„Wir haben noch Kohle im Keller, aber es reicht nicht für den ganzen Winter, wenn wir jetzt schon anfangen. Was willst du denn im Januar machen? Und diese Zeiten! Die Bettler rennen uns das Haus ein und sind frech geworden. Eines Tages werden sie uns überfallen. Es gibt ja gar kein Gesetz mehr! Merwig hat mir geraten, Papiere zu kaufen. Was soll ich mit den Papieren, wenn ein großer Krach kommt?”

„Das Geld wird wertlos, Mutter!”

„Wertlos? das Geld?” rief Frau Bernheim. „Was soll noch einen Wert haben?” Es war, als hätte man ihr mitgeteilt, daß heute zum letztenmal die Sonne aufgegangen sei.

„Es ist besser”, fuhr Paul fort, „Aktien zu kaufen.”

„Nein, um Gottes willen, Paul!” sagte die Mutter. „Für eine Frau sind Aktien gar nichts. Eine Frau versteht nichts von der Börse.”

„Laß doch Herrn Merwig!”

„Das kann man nicht, weißt du. Er hat mir zu den Kriegsanleihen geraten. Du wirst morgen ins Büro gehn und mit ihm sprechen. Er gefällt mir nicht mehr seit einigen Monaten. Es geht schlecht bei ihm zu Haus. Dem Sohn wurden die Beine amputiert, er hat keine Stellung mehr. Diese Leute! Die Angestellten sind immer nur ehrlich, solange sie auskommen.”

Sie sagte das mit ihrer alten „königlichen Hoheit”, ein Zustand, in dem sie sich immer noch wohl fühlte. Es kränkte sogar Paul, obwohl auch er niemals viel vom „Personal” hielt. „Aber Mutter – Herr Merwig ist dreißig Jahre in unseren Diensten!”

„Und im einunddreißigsten fängt er an zu stehlen”, sagte Frau Bernheim, und ihre Lippen schlossen sich gleich darauf so fest, daß die Haut über den Kiefern gespannt und das Angesicht einem weißen Stein ähnlich wurde.

Paul ging noch am Abend vor Büroschluß zu Herrn Merwig. Der saß, wie immer, hinter der gläsernen Mattscheibe an seinem hohen Pult. Sein dichter, grauer Schnurrbart sträubte sich, seine strengen, grünen Augen erinnerten an Scherben aus Flaschenglas, seine Stimme war ein kleines Grollen. Er gehörte zu den langjährig Dienenden, die den Unterschied zwischen Anständigkeit und Hartherzigkeit nicht mehr kennen, die also die unbedingte Ehrlichkeit eines Felsens haben.

„Es geht schlimm, Herr Paul”, sagte Merwig – und obwohl es nur eine Klage sein sollte, war es ein Vorwurf. „Seit dem Hinscheiden des seligen Herrn haben wir viele Kunden verloren. Die meisten sind zu den großen Banken gegangen, es geht allen kleineren schlecht. Die andern fangen jetzt allerlei unbekümmerte Geschäfte an, aber das sind nicht Transaktionen im Sinne Ihres dahingeschiedenen Vaters.”

„Sagen Sie ruhig: verstorbenen, Herr Merwig”, unterbrach Paul. Und um den Alten nicht länger sprechen zu hören: „Wir werden jetzt neu anfangen, Herr Merwig. Ich werde es in die Hand nehmen.”

„Es ist Zeit, Herr Paul —”

„Mutter”, sagte Paul am Abend, „ich verbürge mich für Herrn Merwig. Ich habe alles nachgesehen. Er ist nur dumm.”

 

„Personal ist immer dumm, mein Kind. Hast du vielleicht eine Zeitung mitgebracht? Theodor ist heute nicht nach Hause gekommen. Er bringt sonst immer eine mit.”

„Aber wir sind doch abonniert?”

„Nicht mehr, mein Kind! Ich habe die Abonnements aufgegeben.”

„Warum schickst du nicht um eine Zeitung?”

„Ich dachte, du würdest eine mitbringen und Theodor eine, dann hätten wir schon zwei.”

„Ich gehe eine kaufen.”

Als Paul zurückkam, lag ein Telegramm auf dem Tisch: „Robert kommt Mittwoch. Küsse. Lina.”

Da war noch Robert. Paul hatte ihn fast vergessen. Was sollte jetzt mit diesem Rittmeister geschehen?

„Man wird ihn ins Geschäft nehmen müssen”, meinte Frau Bernheim. „Er versteht aber nichts davon.”

„Macht nichts, er wird sich einarbeiten! Ein Mann wie er!”

Frau Bernheim hatte nicht aufgehört, die Männer nach ihren körperlichen Fähigkeiten zu beurteilen. Sie liebte ihren Schwiegersohn. „Er ist eine repräsentative Erscheinung – auch in Zivil sieht er aus wie ein Reiter.” Paul dachte nicht ohne Bitterkeit an die Kavallerie, bei der er nicht hatte bleiben dürfen. Diese Kavallerie war schuld an seiner Begegnung mit Nikita, an seiner langen Krankheit. Er sagte nichts gegen Robert. Ja, als der Schwager kam, wurde er sogar freundlich. Es war eigentlich ein netter, harmloser Mann. Er trug nur ein schauderhaftes Zivil. Eine viel zu dicke Krawatte und einen viel zu kleinen und dunkelgrünen Hut. Paul beschloß, Robert zuerst zum Schneider zu führen, in einen Hutladen und zu einem guten Friseur.

Den mondän gewordenen Rittmeister setzte er in die Bank. Er war schließlich froh, daß dieser Schwager lebte. Ein zuverlässiger Mann.

Paul nahm den sogenannten „Außendienst” in die Hand. Unter „Außendienst” verstand er Reisen. Schließlich mietete er eine Wohnung in Berlin. Er kam nur einmal in der Woche in die Bank.