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IV

Also ging Paul Bernheim an die Front.

An einem trüben und kühlen Novembertag – der Regen, der vom Himmel kam, vermischte sich mit dem Nebel, der von der Erde emporstieg – fuhr Bernheim als Einzelreisender ins Feld.

Er war nunmehr Leutnant im x-ten Infanterieregiment, das seit einigen Wochen seine Stellungen am südlichen Teil der Ostfront bezogen hatte. „Hast du Glück”, hatten ihm die Kameraden im Kader gesagt, „gerade jetzt gehen wir an die ruhigste aller Fronten. Vor einigen Tagen hättest du uns noch in den Alpen suchen müssen, in der Hölle!” Paul hätte es vorgezogen, sein Regiment in den Alpen aufzusuchen, wo der Tod heimischer war als im Osten. Es störte seine Entschiedenheit, mit der er sich zur Infanterie gemeldet hatte und mit der er sein bisheriges Leben endgültig von dem kommenden abzugrenzen entschlossen war, daß die Ostfront eine „idyllische” genannt wurde. In dem Stadium, in dem er sich jetzt befand, wünschte er sich die stärksten Erlebnisse, die größten Gefahren, die härteste Unbill. Es galt, wie er sich sagte, den glücklichen und seltenen Zustand seiner Entschlossenheit so gründlich auszunützen, daß er schließlich ein dauernder werde. Er fürchtete, dieser Zustand würde vorübergehen, ohne den erhofften Gewinn gebracht zu haben. Es war schließlich die alte Veranlagung Pauls, die ihn zur Kunstgeschichte, nach England, zur Kavallerie und zum Pazifismus gebracht hatte. So wie er einmal ein vollkommener Angelsachse hatte werden wollen, so versuchte er jetzt, ein vollkommener Infanterist zu werden.

Aber von diesen geheimen Trieben wußte er selbst wenig. Über ihnen lag, dicht und schwer wie dieser Novembertag, eine trübe, neblige Gleichgültigkeit. Er saß schon seit Stunden allein in dem kalten Abteil zweiter Klasse. Der andere Passagier, der es zwei Stunden lang mit ihm geteilt hatte, war längst ausgestiegen. Obwohl der Abend noch nicht gekommen war, blinzelte schon in das Halbgrau des Nachmittags die fettige Lampe, gelb und ölig erinnerte sie Paul an Lichter auf Gräbern zu Allerseelen. Manchmal wischte er mit dem Ärmel über das angelaufene Glas der Fensterscheibe, um sich zu überzeugen, daß sich der Zug wirklich bewegte. Dann sah er den grauen Vorhang des Novemberregens über diesem Hinterland, das schon in die Etappe überzugehen begann, und hinter dem Vorhang kleine Dörfer, verlassene und zerstreute Gehöfte, Frauen mit den Rockschößen über den Köpfen, schwarze Juden in langen Gewändern, gelbe Stoppelfelder und gelbe, gewundene Straßen, deren schwarzer Schlamm durch den Regen schimmerte, aufrechte und geknickte Telegraphenstangen, Feldküchen, verloren und halb versunken im Kot, marschierende Trainsoldaten, dunkelbraune Baracken, Schienen und kleine Stationen, an deren jeder der Zug halten mußte. Er hielt übrigens oft auch zwischen den Stationen. Es war, als hätte der Zug selbst Bedenken vor dem Feld, dem er sich näherte, und als benutzte er jede Gelegenheit, um stehenzubleiben und auf den Waffenstillstand zu warten.

So absurd dieser Gedanke war und so merkwürdig die Furcht Pauls, er konnte zu spät in den Krieg kommen, so huschte doch die Vorstellung hin und wieder durch sein Hirn, die Vorstellung, daß sie jetzt draußen dabei waren, Frieden zu schließen, und daß er sich in der fürchterlichen Lage befinden würde, so, wie er war, unverändert und mit der Erinnerung an sein letztes, beschämendes Erlebnis mit dem Kosaken behaftet, in das friedliche Leben zurückzukehren. Seinen momentanen Bedürfnissen entsprach ein Krieg, der noch mindestens fünf Jahre dauern sollte. So ratlos sah er sich dem Frieden entgegentreten, seinem Haus, seiner Mutter, der Bank, dem Dienstpersonal und den Beamten. Wenn er sich erinnerte, daß er noch vor gar nicht langer Zeit flammende Proteste gegen den Krieg geschrieben und geredet hatte, so verstand er die vergangenen Monate und Jahre nicht mehr. Sie lagen unbegreiflich hinter dem schrecklichen Erlebnis mit Nikita, hinter diesem rätselhaften Erlebnis. Ein Mann hatte ihn bedroht, verwundet, besiegt und war verschwunden. Nichts weiter. Ja, aber dieser Mann weiß vielleicht mehr von mir, alles von mir, mehr als ich selbst. Er hält mein Leben in der Hand, er kann mich vernichten – und ich sehe ihn nicht, er ist für immer verschwunden. Mein Leben aber – so tröstete er sich – halte ich jetzt selbst in der Hand, solange ich an der Front bin. Ich kann jeden Augenblick sterben. Übrigens, wenn der Ukrainer etwas weiß, ich leugne alles. Ich werde tapfer sein, man wird mir glauben. Vielleicht hat der und jener meiner früheren Freunde und Genossen mich verraten. Ich leugne. Man hat keine Beweise. Nicht einmal Artikel mit meiner Handschrift, denn ich habe sie auf der Maschine schreiben lassen, unter einem fremden Namen. Und schließlich ist es auch gleichgültig.

Es beruhigte ihn, sooft der Zug stehenblieb, die hartnäckige, eintönige Melodie des Regens zu hören, der mit der gleichen Ausdauer und der gleichen sanften Eindringlichkeit über Hunderte von Meilen ausgebreitet war und der die Entfernungen aufzuheben schien, die Verschiedenheit der Gebiete und der Landschaften. Die Welt bestand nicht mehr aus Bergen, Tälern und Städten, sondern nur noch aus November. Und in dieser bleiernen Gleichgültigkeit gingen Pauls Kümmernisse zeitweilig unter. Er fühlte sich eins mit irgendeinem der wehrlosen Gegenstände auf den Feldern, die dem Regen preisgegeben waren, den kleinsten, geringfügigsten, leblosen Wesen, einem Strohhalm zum Beispiel, der ohne Willen dalag und sein Ende erwartete, in voller Glückseligkeit eigentlich, insofern er Glück zu empfinden imstande gewesen wäre. Ein Bach konnte ihn mitnehmen und davontragen, ein Stiefel ihn zertreten.

Also empfand Paul zum erstenmal den Krieg, und wie die Millionen eingerückter Männer fühlte er den erhabenen Gleichmut derer, die sich blind einem blinden Schicksal unterwerfen. Ich werde wahrscheinlich untergehen, dachte er mit einem süßen Trost. Und als der Abend weiter vorrückte und hinter den Scheiben die schwarze Wand der Finsternis sich erhob, im Innern des Wagens das trübe Licht stärker wurde, kam er sich für lange Sekunden wie ein Toter vor, ein Toter in einer beleuchteten Gruft. Weit hinter ihm lagen die Sorgen und Freuden, die Ängste und die Hoffnungen des Lebens. Er war ihnen allen entflohen. Es gab für einen Flüchtling wie ihn kein ruhigeres Ziel, keinen sichereren Zufluchtsort als die Front und den Tod.

Er erinnerte sich an das Testament, das er kurz vor der Abreise verfaßt hatte. Für den Fall, daß er starb, verblieb alles seiner Mutter, nur ein ganz geringer Teil seinem Bruder, den auch der Vater in seinen Testamenten nicht erwähnt hatte. Den Gedanken an Theodor verscheuchte Paul schnell, er mochte nicht an den Bruder denken. Obwohl er freiwillig und sogar gerne in den Tod ging, überfiel ihn immer wieder ein kleiner, hurtiger Neid gegen den jüngeren Bruder, der sicher dahinwandelte im Schutz seiner Jugend, sicher vor dem Krieg und sicher, das Ende des Krieges zu erleben und bessere Zeiten. Er verdient es nicht! sagte sich Paul. Wieder ergab er sich der Seligkeit der Todesahnungen.

In dieser Stimmung übertrieb er den Reichtum, die Dauer und die Fülle seiner vergangenen Jahre. Auch diese Übertreibung noch diktierte ihm sein hochmütiges Selbstbewußtsein. Ich bin reich gewesen, sagte er sich, jung, schön, kräftig gewesen. Ich habe Frauen besessen, die Liebe gekannt, die Welt gesehn. Ich kann ruhig sterben. Plötzlich überfiel ihn die Erinnerung an Nikita. Ich hätte, dachte er, früher an die Front gehn sollen. Ich hätte kein Kriegsgegner werden sollen. Ich gehe jetzt nicht freiwillig in den Tod, sondern gejagt. Es geschieht mir recht.

Je weiter die Nacht fortschritt, desto mehr Kälte brachte sie. Paul versuchte, die Lampe auszulöschen. Er wollte still im Finstern liegen, die Vorstellungen von einem Grab sollten vollkommen sein. Er wollte in einem rollenden Grab liegen und ins Jenseits fahren. Die Lampe ließ sich nicht auslöschen, sie war das Ewige Licht, sie brannte schon für sein Seelenheil. Er konnte nicht einschlafen. Er versuchte, mit gefrorenen Fingern etwas in sein Notizbuch zu schreiben. Schreiben macht klar! dachte er. Er war unfähig, auch nur einen Satz aufzuzeichnen, und er begann, sinnlose Ornamente über die weißen Blätter zu ziehen, wie einst in der Religionsstunde. Seine Kollegen aus der Schulzeit fielen ihm ein. Es gelang ihm, das eine und das andere Gesicht aufzuzeichnen, er rekonstruierte die ganze Klasse, die Schulbänke, die Lehrer.

Darüber verging die Nacht.

Am nächsten Morgen war der Regen dünner Hagel und glasiger Schnee geworden, und seine Tropfen hämmerten mit einem zarten, metallenen Klang gegen die Fenster.

Der Zug näherte sich der letzten Bahnstation. Es war der Rand der Welt. Hier begann die schmalspurige, von Pferden gezogene Kleinbahn. Sie führte unmittelbar zum Regimentskommando.

Paul fuhr mit einigen Soldaten, die vom Urlaub zurückkehrten, in dem offenen, niederen Wagen. Wie durch eine dicke Mauer hörte er ihren Gesang, den das ferne Trommelfeuer begleitete. Er fühlte kaum den Wind und den stechenden Eisregen. Er sah die ersten Verwundeten, die mit weißen Verbänden am Arm der Sanitäter den langen Weg zurückhumpelten, die Blutspuren, die sie auf der schwarzen, feuchten Erde zurückließen und auf dem weichen, dichten, gelben Lehm. Den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, den Blick reglos auf die Gruppen der Zurückgehenden gerichtet, auf das blendende Weiß, das lackrote Blut, das verkrustete Grau der Uniformen, den schwarzen Kot der Straße, stand Bernheim in der Ecke. Die Schüsse wurden deutlicher, die Soldaten hörten auf zu singen, ein zweiter Tag senkte sich der Dämmerung entgegen.

Er kam, als die Nacht anbrach, in die Stellung und hatte unerwartetes Glück; Glück, wie er es damals verstand, und noch in einem anderen Sinn. In dieser Nacht erwartete man einen Sturmangriff. Alle Kameraden schrieben Feldpostkarten nach Haus. Nicht aus einem Bedürfnis, aber nur, um nicht aufzufallen, schrieb auch Paul an seine Mutter. Sie wird vielleicht um mich weinen, sagte er sich, und er dachte an das Begräbnis seines Vaters und an die Tränen in den blanken Eisaugen seiner Mutter. Für seinen Bruder Theodor fügte er keinen Gruß hinzu. Aber er starb nicht, Paul Bernheim! Ein Bajonett durchbohrte seine rechte Wange. Er kam am nächsten Morgen ins Feldspital. Man nahm eine Kieferoperation vor. Während seine Wunde heilte, bekam er Typhus und wurde in ein Epidemiespital in die Etappe abgeschoben. Es war, als ob der alte Felix Bernheim über dem Sohn, auf den er wahrscheinlich auch im Himmel noch stolz war, väterlich wachte; als ob das Glück, das dem Alten gute Geschäfte und einen Haupttreffer beschert hatte, den Jungen vor dem Tod bewahrte. Denn jetzt erst, im Fieber, während er mit vier anderen in der Offiziersabteilung der Baracke lag, jetzt erst erwachten in Paul die Furcht vor dem Tode und der Drang nach dem Leben, das ihm für ein paar Tage so gleichgültig gewesen war. Er glaubte mit allen Kräften, daß er am Leben bleiben würde, er nahm die glückliche Wunde, die er im Handgemenge erhalten hatte, für ein Versprechen des Schicksals, ihn am Leben zu lassen. Und obwohl jeden zweiten Tag einer der Kameraden neben ihm blau wurde, reglos und schauderhaft, wußte Bernheim auch im höchsten und verwirrenden Fieber jeden Augenblick, daß er nicht sterben würde.

 

Es begann besser zu werden. Er verließ das Spital, erkältete sich, bekam eine Lungenentzündung und gelangte wieder in ein anderes.

Auch diese neue Krankheit schien eine unmittelbare Folge seines Wunsches zu sein, am Leben zu bleiben, nie mehr wieder ins Feld zu gehen. Längst hatte er jenes Ereignis mit Nikita in den Hintergrund seiner Erinnerung verdrängt. Er wurde wieder der alte Paul Bernheim. Er lag im Bett, das an der Wand in der Nähe des Fensters lehnte, mit dem Bewußtsein, siegreich gewesen zu sein und klüger als alle Welt. Sein alter Hochmut kam wie ein guter, treuer Freund ans Bett. Ein bläuliches Nachtlicht brannte über der Tür. Die unruhigen, hastigen und sägenden Atemzüge eines kranken Kameraden waren wie unmenschliche Laute, Stimmen fremder, unbekannter Tiere. In dem blauen Schimmer der Lampe, der an winterliches Mondlicht erinnerte, sah Paul Bernheim noch das letzte Hindernis, das er zu überwinden hatte. Er protestierte gegen die unschuldige Lampe. Diese Lampe verhinderte, daß ein Mann wie Paul Bernheim, der gewiß noch ganz andere Bedürfnisse haben durfte als die gewöhnlichen Kranken, eine Kerze anzünden konnte, um zu lesen oder zu schreiben oder zu zeichnen. Nicht genug daran, daß man den Geruch von Karbol und Jod Tag und Nacht einatmen mußte, durfte man auch nicht lesen, wann es einem gefiel. Die schönen, weiten Zimmer im Elternhaus! Paul Bernheim erinnerte sich genau an die Musterung der Tapeten, den warmen, goldenen Gongschlag, der zum Frühstück rief, die Melodien von Tschaikowsky, die er vierhändig mit seiner Schwester gespielt hatte. Zwischen der Stille, die in diesem Spital herrschte, dem scharfen und strengen Geruch seiner Räume, dem entsagungsvollen Weiß der ärztlichen Kittel, der Krankheit, den Seufzern und der Müdigkeit der Kameraden, dem ewigen Flügelrauschen des Todes – und Pauls wacher, warmer und hochmütiger Sehnsucht nach dem Leben war der Unterschied so groß wie zwischen krank und gesund. Paul Bernheim war stolz auf seine fortschreitende Genesung, als wäre sie sein Verdienst. Er verachtete die Kranken, als wären sie minderwertige Wesen. Er schätzte die Ärzte gering, weil das Karbol stank. Er hatte die Gewohnheit angenommen, in jedem Arzt, der an sein Bett trat, einen Zahntechniker zu erkennen, der nur im Krieg ärztliche Funktionen ausübte. Denn nach der Meinung Bernheims war ein Zahntechniker weniger als ein Internist, ebenso wie in der Rangliste seiner Mutter ein Staatsbeamter über einem Bankier stand. Er sah in jeder Krankenschwester ein Dienstmädchen, um sich im geheimen für die Verordnungen des Spitals zu rächen, das nicht genügend Rücksicht auf seine besonderen Wünsche nahm. Es war, als ob die paar Stunden, in denen er mit dem Leben abgeschlossen hatte und von seiner eigenen Persönlichkeit nicht so eingenommen gewesen war wie sonst in seinem ganzen Leben, es war, als ob diese wenigen Stunden jetzt einen doppelten Hochmut erzeugten. Es schien, daß die Natur Paul Bernheims auch eine vorübergehende Bescheidenheit nicht ertragen konnte und wettzumachen entschlossen war. Denn es ist nicht wahr, daß Leiden, Gefahren, Nähe des Todes einen Menschen ändern. Paul Bernheim konnten sie nichts anhaben.

Seine Rekonvaleszenz dauerte so lange, daß er in der Tat den Krieg nicht mehr zu fürchten brauchte. Als er das Spital verließ, bekam er einen Erholungsurlaub, und ehe dieser noch zu Ende war, brach die Revolution aus.

Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß sich Bernheim in jenen Tagen mit seinen Offiziersabzeichen auf die Straße wagte, ja daß er sich weigerte, Zivil anzulegen. Er schätzte seinen Rang nicht mehr, weil er zu einer besiegten Armee gehörte. Und nichts verachtete er, der vieles verachtete, so sehr wie das Besiegte. Er war im Gegenteil froh, weil nun seine kriegsfeindliche Episode auf keinen Fall mehr schaden konnte. Mit einem leisen, allerdings sehr verborgenen Stolz dachte er noch daran, daß England, sein England, gesiegt hatte. Es war, als hätte die Weltgeschichte der Anglomanie Bernheims recht gegeben, und er machte, wenn man vom Krieg sprach, das Gesicht jener Männer, die gern behaupten: „Ich hab’s ja gesagt.” Und trotzdem konnte er sich nicht dazu bequemen, seine Distinktionen abzulegen, weil es irgendein Soldat so wollte. Er schätzte ein revolutionierendes Volk ebenso gering wie ein besiegtes Vaterland.

So kam es, daß er eines Tages von einigen Soldaten blutig geschlagen wurde und als Muster heroischer, patriotischer Treue in einigen Zeitungen der Rechten figurierte. Es war das erstemal, daß er seinen Namen gedruckt lesen konnte. Und als wäre er nie ein Kriegsgegner gewesen und als hätte er niemals das Leben dem Tod im Felde vorgezogen und England seinem Vaterland, begann er, konservativ und patriotisch zu denken, und schon sah er sich Abgeordneter und Minister werden.

Selbstverständlich Minister.

V

Paul Bernheim hätte seine Wiederkehr gerne telephonisch angekündigt. Aber es war nicht leicht, mit Frau Bernheim zu telephonieren. Sie konnte nichts begreifen, wenn der Sprecher nicht in ihrer Sichtweite war. Sie mußte sich ihn zumindest vorstellen. Erst wenn sie sich ein Bild von ihm gemacht hatte, begann sie, den Sinn der Frage zu begreifen. Es war, als ob die Worte, als ob die menschliche Sprache in der Welt der Frau Bernheim nur ein sehr mangelhaftes Verkehrsmittel wären und lediglich zur Unterstützung der Gesten und der Blicke dienten. Vielleicht kam daher der Leichtsinn, mit dem sie manche gewichtigen Worte bei falschen Gelegenheiten anbrachte.

Paul telegraphierte also. Auch Telegramme konnten Frau Bernheim aus der Fassung bringen. Ihrer Meinung nach war der Telegraph eigens dazu erfunden worden, um plötzliche Unglücksfälle rasch und sicher mitteilen zu können. Allmählich, seitdem sie Witwe geworden war, und besonders seit dem Ausbruch des Krieges, hatte sie auch angefangen, „sich einzuschränken” – wie sie zu sagen liebte – und bei jedem Telegramm, das Paul ihr schickte, nachzurechnen, wieviel es gekostet haben mochte. Ihre Freude über die Ankunft Pauls entsprach, als sie sein Telegramm las, ungefähr dem Schrecken, der sie ergriffen hatte, als es angekommen war, und ihrem Schmerz über die verschwendeten Spesen. Und es dauerte verhältnismäßig lange, ehe sie den Sinn der Botschaft, befreit von dem Schrecken und dem Trieb, die Worte zu zählen, in seiner ganzen freudigen Bedeutung erfaßte.

Sie wußte von Pauls langer Krankheit ebenso wie von seiner Verwundung. Da er ihr aber niemals mitgeteilt hatte, daß er zur Infanterie gegangen war, blieb der Optimismus, mit dem sie der Kavallerie stets vertraute, von Anfang bis zu Ende unverändert. Und selbst, als sie von der Verwundung Pauls erfuhr, kam es ihr nicht einen Augenblick in den Sinn, daß er auch hätte sterben können. Bei der Kavallerie verwundet werden bedeutete ihr ungefähr soviel, wie sich mit dem Taschenmesser in den Finger schneiden. Auch Typhus war ihrer Ansicht nach für einen Berittenen nicht lebensgefährlich. „Paul ist Offizier”, sagte sie, „er wird bestimmt sorgfältig gepflegt.” Nicht eine Stunde während des Krieges hatte ihre Sorge ihrem Sohn gegolten, aber Tag und Nacht dem Geld. Sie hatte Angst vor der Armut. Sie sah, daß man die ganze Zeit wenig Einnahmen und viele Ausgaben buchte. Herr Merwig, ein alter Mitarbeiter ihres Mannes, kam jeden Monat zu ihr und berichtete über den Gang der Geschäfte. Der Ausgang des Krieges, die Revolution, die Krüppel auf den Straßen und die Überzahl der Bettler, die nach ihren Worten „das Haus einrannten”, beschäftigten sie so sehr, daß ihr die Rückkehr Pauls kaum ein paar Minuten freudiger Aufregung brachte. Am Abend, als Theodor nach Hause kam, zeigte sie ihm das Telegramm. Er legte es, säuberlich gefaltet, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch und begann, die Zeitung zu lesen. Frau Bernheim ergriff das Lorgnon, das immer an ihrer Hüfte hing und an eine Waffe erinnerte, ließ die Gläser hörbar aufschnellen, führte sie an die Augen und betrachtete ihren Sohn, als schaute sie auf die Bühne. Sie liebte es, das Lorgnon zu gebrauchen, wenn sie ungehalten war. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß die Dienstboten vor den Gläsern erschraken. Theodor hörte ihr Geräusch und neigte den Kopf noch tiefer über die Zeitung.

Frau Bernheim ließ das Lorgnon wieder fallen. Nach einigen Sekunden sagte sie: „Du hast ebensowenig Herz, wie dein Vater gehabt hat. Aber er war wenigstens klug. Er hatte einen genialen kaufmännischen Geist.

Du aber bist auch noch ein Taugenichts. In diesen ganzen Jahren hast du nichts gelernt. Wenn es diese famosen Notprüfungen nicht gegeben hätte, wärest du ewig in der Schulbank geblieben oder ein Schuster geworden. Du erinnerst mich ganz an den seligen Vetter Arnold. Er hat Schulden gemacht und ist im Irrenhaus gestorben. Und das hat auch Geld gekostet, sonst hätten wir die Freude gehabt, ihn im Kriminal zu sehen.”

Sie wartete ein paar Minuten. Dann, als Theodor noch immer in der Zeitung las, schrie sie plötzlich: „Wir haben kein Geld mehr, Theodor, hörst du? Wir haben kein Geld mehr, um Taugenichtse vor dem Kriminal zu retten! Du wirst in Eisen sitzen müssen, hörst du?!”

Theodor legte beide Hände an die Ohren und las weiter in der Zeitung. „Leg die Zeitung sofort weg, wenn deine Mutter mit dir spricht”, fuhr Frau Bernheim leiser fort.

Theodor nahm sofort die Hände von den Ohren, hörte aber nicht auf zu lesen.

Manchmal gelang es ihm, so lange zu schweigen, bis sie das Zimmer mit einem lauten Seufzer verließ. Heute aber schien sie nicht weichen zu wollen. Sie machte sich wieder ans Reden. Sie begann, mit einer Stimme, deren Eintönigkeit aufreizte, langsame, gleichmäßig langsame Sätze wie Garn abzuspulen. Bei jedem Satz hatte Theodor das Gefühl, daß er niemals aufhören werde. Als wüßte Frau Bernheim, daß diese Art zu sprechen auf ihren Sohn Eindruck machte, unterstützte sie die Eindringlichkeit ihrer Rede durch gleichmäßige, glättende Bewegungen auf dem Tischtuch. Unaufhörlich und in dem langsamen Tempo, in dem sie sprach, wischten ihre flach ausgestreckten Hände nach links und rechts die Kanten des Tisches. Obwohl Theodor in die Zeitung versenkt war, stahlen sich die weißen, bläulich geäderten Hände der Mutter in sein Blickfeld, und allmählich ergriff ihn vor diesen schwachen Händen der alten Frau eine Angst wie vor Mörderhänden. Er rührte sich nicht. Er hörte auf zu lesen. Die Kolonnen der Zeitung verschwammen vor seinen Blicken. Aber er ließ nichts erkennen, und zum Beweis dafür, daß er nur mit der Lektüre beschäftigt sei, blätterte er langsam die Zeitung um, in demselben Tempo, in dem die Rede seiner Mutter rann, und gebannt von ihrem Rhythmus.

„Wenn ein Bruder aus dem Krieg nach Haus kommt”, sagte Frau Bernheim, „hat ein anständiger Mensch sich zu freuen. Dir aber tut es leid, daß Paul nicht umgekommen ist. Glaubst du nicht, daß eine Mutter alles von ihren Kindern weiß? Gott ist mein Zeuge, unser seliger Vater weiß es auch, er hat es mir nie glauben wollen, und ich habe ihm immer gesagt, was du für ein tückisches Kind bist, boshaft wie eine Spinne und falsch wie eine Katze und dumm wie ein Esel. Eine ganze Naturgeschichte bist du, und die ganze Erziehung war umsonst, man kann, hab’ ich immer zu Felix gesagt, keine Kinder erziehn, wenn sie es nicht von der Geburt mitbekommen haben, die Seele, glaub’ ich, und das ist es auch, du hast keine Seele. Wenn du nicht Angst hättest, würdest du deine alte Mutter schlagen, du möchtest mich schon als Leiche sehn, schrecklich, als Leiche. Aber ich werde nicht ruhig sterben, bis ich nicht weiß, daß du ein anständiger Mensch geworden bist, du kannst es aber nicht werden, was machst du denn die ganzen Tage, du gehst mit deinen lieben Freunden herum, die mir alle nicht gefallen, Paul hat in deinem Alter schon getanzt, er war ein wundervoller Tänzer und hat schon hübsche junge Damen charmiert und hat nicht den ganzen Tag in den Wäldern gelegen und hat nicht herumgeschossen wie du, ich habe Angst vor deinen Raubmessern und Mordpistolen, Anna will nicht mehr dein Zimmer aufräumen, soll ich es vielleicht selber tun …?”

 

Eine dunkle, fast bläuliche Röte überzog das Angesicht Theodors. Hastig schmiß er die raschelnde Zeitung auf den Boden. Er erhob sich, warf mit einem Fuß hinter sich den Stuhl um, seine kleinen, rollenden Augen hinter der dunkel geränderten Brille schienen auf dem langen und breiten Tisch nach einem Gegenstand zu suchen, den man nach der Mutter werfen könnte. Da er gar nichts fand, begann er, sinnlos zwanzigmal hintereinander zu schreien:

„Heb sie auf, die Zeitung, heb sie auf, heb sie auf, heb sie auf, Mutter, heb die Zeitung auf, Mutter, Mutter!”

Er war im Nu wieder blaß geworden.

Sein flaches, gelbes, dünnes Angesicht erinnerte an ein ungegorenes, im Ofen eingefallenes Brot. Es war mehr nach innen gewölbt als nach außen. Die Nase schien bis zur Spitze, die zart, blutleer und stumpf hinaufragte, noch zu den Wangen zu gehören. Die Lippen waren dünn und schlossen nicht ganz über den langen Zähnen. Das Kinn streckte sich nach vorne wie bei Menschen, die ihren Kopf zwischen hochgezogenen Schultern zu tragen pflegen. Die Ohren waren gelb, groß und durchsichtig wie aus Pergament und randlos, als hätte ihre Substanz für die Ränder nicht mehr ausgereicht. Über der noch kurzen, knabenhaften Stirn, die aber wie die Stirn eines Alten von vier, fünf Längsfalten durchquert war und zwei dicken, vertikalen Strichen über der Nasenwurzel, erhob sich dünnes, wasserblondes Haar, krampfhaft aufwärts gekämmt. Die wasserhellen Augen hinter den funkelnden Gläsern hatten einen erschreckten Ausdruck. Sie waren wie die Augen eines, der in ein plötzlich ausgebrochenes Feuer blickt. Die Stimme wurde hell und kläglich. Man hätte glauben können, Theodor rufe seine Mutter zu Hilfe, während er ihr zurief, sie möge die Zeitung aufheben. Er begann zu beben. Um seine Zähne nicht klappern zu lassen, biß er sie aufeinander. Und so, die Zunge hart an den Zähnen, versuchte er eine Art von lispelndem, schwerverständlichem Schreien: „Heb die Zeitung auf, heb ssie auf, heb ssie auf!”

Frau Bernheim, die derlei Ausbrüche Theodors nicht ohne eine gewisse Schadenfreude genoß, hob wieder das Lorgnon. Sie schätzte diese Augenblicke. Es waren die einzigen, in denen sie sich wirklich überlegen fühlen konnte – und in denen ihre Logik auf einmal wach wurde, wie angeregt von der vollkommenen Sinnlosigkeit des andern. Obwohl ihr Mund sich nicht verzog, leuchtete in ihren harten Augen schon der Widerschein eines Lächelns, während sie mit ruhiger Stimme den Augenblick ausfüllte, in dem Theodor atemlos und stumm dastand:

„Du hättest es nicht nötig gehabt, die Zeitung auf den Boden zu werfen. Aber sogar, wenn es notwendig gewesen wäre, brauchte deine Mutter sie dir nicht aufzuheben. Bück dich, es wird dir guttun. Es ist ebenso gesund, wie in den Wäldern herumzulaufen. Bück dich, mein Sohn, bück dich!”

Sie sprach diese Sätze mit einer sanften, mütterlichen Stimme, in der die Bosheit eingepackt war wie ein Instrument aus dünnem Stahl in weicher Watte.

Theodor verließ das Zimmer. Frau Bernheim sah noch einen Augenblick auf die Tür, die er zugeschlagen hatte. Sie wartete, bis das Echo des Knalls sich verzog.

Dann bückte sie sich, hob die Zeitung auf und begann zu lesen.

Theodor begab sich in den Korridor.

Er lächelte. Er bemühte sich, leise aufzutreten. Seine Kurzsichtigkeit machte ihn vorsichtig. Er streckte den Kopf. Er drehte ihn nach allen Seiten. Er näherte sich dem breiten Wandschrank gegenüber der Garderobe. Im zweiten Fach links oben stand die Büchse aus Blech, eine Sammelbüchse. Sie war Frau Bernheim einmal von einem Wohltätigkeitsverein gebracht worden und sollte einmal im Monat entleert werden. Aber Frau Bernheim wollte mit eigenen Augen sehn, wohin ihr Geld kam. Quittungen behagten ihr nicht. Sie bewahrte daher in jener Büchse das Kleingeld für die regelmäßigen Bettler, die an einem bestimmten Tag in der Woche kamen.

An der Büchse hing ein winziges Schloß. Theodor hatte schon hie und da versucht, es mit einem der vielen Schlüssel, die er besaß, zu öffnen. Er wußte, daß man Frau Bernheim keinen größeren Kummer zufügen könnte, als wenn man dieses Geld, das ihr schon leid tat, wenn sie es verschenken durfte, auch noch stahl.

Zuerst nahm er die Büchse in sein Zimmer. Er schloß die Tür ab, versuchte einen der kleinen Schlüssel nach dem andern, dachte nach, ergriff ein Messer und begann, vorsichtig den Spalt auseinanderzustemmen. Er hatte Herzklopfen vor Schreck und Freude … Ein paar Augenblicke ließ er die Büchse ruhig stehn und versuchte, sich die Aufregung seiner Mutter vorzustellen. Sein Mund sagte plötzlich laut: „Kanaille!” Er horchte. Da sich nichts rührte, kehrte er die Büchse um. Aber sie schepperte lauter, als er erwartet hatte. Er lauschte wiederum. Er machte die Türe auf und überzeugte sich, daß niemand da war. Dann begann er, mit unendlicher Sorgfalt eine Münze nach der andern herauszuholen. Viele rollten gehorsam und glatt durch den Spalt. Andere blieben hartnäckig drinnen. Er wurde müde, setzte sich, er hatte die Leidenschaft eines Jägers. Er arbeitete bis tief in die Nacht. Es waren schließlich nur noch wenige scheppernde Münzen in der Büchse. Dann drückte er vorsichtig die Spaltsäume zusammen, schlich hinaus und stellte die Büchse wieder an ihre Stelle.

Er zählte das Geld. Es ergab gerade den Monatsbeitrag für den Verein „Gott und Eisen”, dem er seit zwei Jahren angehörte.

Diesen Verein hatte ein junger Mann namens Lehnhardt begründet. Außer ihm, dem Gründer, der ein Bürgerlicher war, sollten nur Adelige aufgenommen werden. Deren gab es aber nach zwei Monaten nur vier. Deshalb wurden die Statuten dahin verändert, daß nur „Blonde aus arischen Familien” aufgenommen werden durften. Bei näherem Zusehn ergab es sich aber, daß die Haarfarbe des Gründers selbst eher braun als blond war. Immerhin wies man den schwarzhaarigen Sohn des Landesgerichtspräsidenten ab. Dieser Junge beklagte sich bei seinem Vater. Er behauptete, Lehnhardt und Theodor Bernheim hätten ihn einen Juden genannt. Sehr indigniert lud der Landesgerichtspräsident die beiden ein und bewog sie, seinen Sohn aufzunehmen. So blieb schließlich das Statut, das den Juden den Zutritt verbot.

Sie halfen einander mit Büchern, Geld und Waffen aus. Sie schwuren, nachdem sie die Notprüfung abgelegt hatten, immer in Verbindung zu bleiben. Vorläufig meldeten sie sich zur freiwilligen Sanität. Sie hatten „Dienst”, gingen zu den Verwundetentransporten, schleppten Tragbahren, saßen neben den Chauffeuren der Krankenwagen und pfiffen aus schrillen Pfeifen in den Straßen der Stadt, um die anderen Gefährte aufzuhalten. Jeden Tag erwachten sie in der Erwartung, die Mobilisierung ihres Jahrgangs angekündigt zu sehn. Als aber schließlich der Friede kam, schwuren sie der Republik Rache, suchten und fanden Beziehungen zu den geheimen Organisationen und marschierten zweimal wöchentlich zu den Übungen vor die Stadt.