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Sie war einmal hübsch gewesen, und man hatte sie verwöhnt. In ihrem breiten, sauber geschnittenen Gesicht – sie hatte das gleiche Haar und die gleiche Hautfarbe wie ihr Sohn Paul – lag eine unerschütterliche Ruhe, die kalte, unzugängliche Ruhe, die an ein geschlossenes Tor erinnerte, nicht etwa an die freie eines einsamen Landes. Ihr Gesicht kannte keine Sorgenfalte, schien schon die Falten des Alters als eine Beleidigung und als fremde, ungebetene Gäste zu empfinden. Ihre blanken, grauen, koketten Augen blickten werbend und feindselig zugleich. Man hätte ihren Blick für einen „könglichen” halten können und dafür hielt sie ihn selbst —, wenn er nicht so deutlich verraten hätte, woran er sich übte: an Vorhängen, Kleidern, Ringen und Kolliers, sogenannten „Interieurs”, und an den Gegenständen des Haushalts. Ja, an den Gegenständen des Haushalts. Denn die Frau Bernheim hatte neben dem Ehrgeiz, „fürstlich” zu wohnen und eine „königliche Erscheinung” abzugeben, auch noch den, eine „bescheidene Frau” zu sein. Wenn sie vor Weihnachten überflüssige Stickereien an überflüssigen Decken anbrachte, um irgend jemanden zu „überraschen”, so war sie überzeugt, eines jener Opfer zu bringen, das die Tugend der Sparsamkeit bestätigt, und sie bereitete sich einen süßen, angenehmen Schmerz, der fast so Wohltat wie Weinen. „Sieh her, Felix”, sagte sie, „die Frau Lang macht das sicher nicht selbst.”

„Du brauchst es ja auch nicht zu tun —”, erwiderte Felix.

„Wer soll's denn machen? Willst du ein Vermögen dafür zahlen?”

„Ich kann überhaupt darauf verzichten.”

„Ja, und wenn’s nicht da wäre, würdest du ein Gesicht machen!”

„Sieh lieber die Knöpfe an meinem Winterrock nach – heute ist mir einer heruntergefallen.”

„Gib ihn her!” sagte darauf die Frau Bernheim erfreut. „Auf die Lisi ist ja doch kein Verlaß! Alles, alles muß man selbst machen!”

Und mit dem heiteren Seufzer, der die Arbeit schwerer erscheinen läßt, sie kostbarer macht und das Gewissen der Arbeiterin beruhigt, begann Frau Bernheim, den Knopf zu befestigen.

„Paul schreibt mir”, begann sie auf einmal, „daß du ihm zu wenig schickst!”

„Ich weiß, was ich tu!”

„Ja, aber du kennst nicht Oxford!”

„Du kennst es nicht besser.”

„So?! Mein Vetter Fritz, war er nicht an der Sorbonne?”

„Das ist ganz was anderes, und überhaupt ist das gar nichts!”

„Aber Felix, ich bitte dich, sei nicht grob!” Und Felix überlegte, ob er vielleicht grob gewesen war. Er schwieg. Schließlich hatte Frau Bernheim alles vergessen.

„So, jetzt sitzt der Knopf ewig!” sagte sie mit der Freude eines Kindes.

Und man ging schlafen.

Von Theodor, dem jüngeren Sohn, war selten die Rede. Da er dem Vater ähnlicher war als der Mutter – wenigstens behauptete es Frau Bernheim bei jeder Gelegenheit —, schätzte man ihn im Hause nicht als „genial” wie seinen Bruder. Denn Frau Bernheim hielt ihren Mann für ein Glückskind. Sie traute ihm keine Kenntnisse zu und auch nicht die Fähigkeit, welche zu erwerben. Sie hatte die Geringschätzung für Geschäfte und Kaufleute, die manche Töchter gutbürgerlicher Familien in den neunziger Jahren zugleich mit ihrer Bildung mitbekamen, mit der Aussteuer, dem Klavierspiel und der Belletristik. Nach der Ansicht der Frau Bernheim rangierte etwa ein Staatsbeamter über einem Bankier, war ein Finanzmann unfähig, „Kultur” anzunehmen. Da ihr Vetter Rechtsanwalt gewesen war, blieb in ihren Augen ihre Ehe für ewige Zeiten eine Mesalliance. In jüngeren Jahren hatte sie noch hie und da daran gedacht, ihren Mann mit einem Akademiker oder einem Offizier zu betrügen, um durch einen Beischlaf mit einem gesellschaftlich Würdigeren eine Genugtuung für die Hingabe an einen gewöhnlichen Bankier zu erlangen. Wenn man hörte, wie Frau Bernheim, die natürlich ihre „Nerven” hatte, die Worte „Aber Felix!” ausrief, wie sie, wenn der Wind ein Fenster oder eine Tür zuschlug, über „dieses laute Haus” jammerte, oder wenn ihr Mann zufällig einen Stuhl umwarf, ihm „Benimm dich vorsichtiger!” sagte, so konnte man in diesen Wendungen die unermeßliche Kränkung erkennen, die das Schicksal der Frau Bernheim zugefügt hatte.

Und dennoch wußte sie oft ihrem Mann einen überraschend guten Rat zu geben, geschäftliche Gefahren vorauszusehen, böse Absichten gewisser Personen zu wittern, ein hellsichtiges Mißtrauen gegen Dienstleute, Rechnungen, Lieferanten zu hegen, Ordnung im Haus zu halten, Sommerreisen zu organisieren und in Schaffnern, Seeoffizieren und Hotelpersonal einen Respekt zu erzeugen. Sie besaß einen animalischen Haus– und Familieninstinkt, er war die Quelle ihrer Vorsicht, ihrer Klugheit und auch ihrer Güte, die allerdings ihre Grenze an dem dichten Drahtgitter des Gartens fand.

Außerhalb des Gitters begann ihre Härte, ihre Unerbittlichkeit, ihre Blindheit und ihre Taubheit. Sie unterschied zwischen Armen, die auf irgendeine Weise einen Zutritt in ihr Haus bekamen, und den Bettlern, die sich nur in den Straßen aufhielten. Und sie verstand ihre Wohltätigkeit dermaßen zu organisieren, daß ihr Herz nur an bestimmten Stunden bestimmter Tage zu funktionieren brauchte. Dermaßen und in regelmäßigen Abständen Gutes zu tun war ihr ein Bedürfnis. Erzählte man ihr aber zum Beispiel von einem Unglück, das eine fremde Familie betroffen hatte, so galt ihr Interesse den näheren Umständen, unter denen sich jenes Unglück zugetragen hatte, ob es zum Beispiel ein Mittwoch gewesen war oder ein Donnerstag, Nacht oder Tag, die Straße oder das Zimmer. Dennoch hätte sie trotz ihrer Neugier, die Details zu erfahren, sich um keinen Preis in die Nähe des Unheils begeben. Denn sie mied Unglück und Krankheit, Friedhöfe und Kondolenzpflichten. Sie vermutete überall Ansteckungsgefahren. Wenn ihr der Mann einmal sagte: „Der Lang oder der Stauffer oder die Frau Wagram ist krank”, so erwiderte sie regelmäßig: „Geh nur nicht hin, Felix!” Jeder Fanatismus macht grausam. Auch der des Wohlergehens…

Sie sehnte sich nach ihrem Sohn Paul. Sie las seine strammen Briefe einigemal, wußte niemals, was sie enthielten, und bemühte sich, zwischen den Zeilen zu erkennen, ob „ihr Kind” gesund war oder ob er eine Krankheit verheimlichte. Denn sie hielt ihn für einen „edlen Buben”, den Leid stumm macht. Sie schrieb ihm zweimal in der Woche keine Antworten, auch keine Mitteilungen, sondern nur Worte, Buchstaben, die Küsse und Berührungen ersetzten und eine körperliche Beziehung herstellten. Paul überflog diese Briefe und verbrannte sie. Er war mit seiner Mutter unzufrieden. Er hätte sich eine „echte Lady” als Mutter gewünscht. Zu einer solchen dichtete er sie um, wenn er in die Lage geriet, Fremden von ihr zu erzählen. Manchmal träumte er davon, sie noch einmal zu erziehen. Er stellte sich vor, daß er mit ihr auf einem englischen Landsitz wohnen würde. Sie sollte weißes Haar haben, Hardy lesen und die Ehrfurcht des Adels genießen. In seinen Erzählungen nahm sie die Formen, die Umrisse, den Charakter und die Bedeutung an, die sie sich selbst beizumessen liebte. Sprach er von seinem Vater, so karikierte er ihn leicht nach den Tendenzen seiner Mutter. Aber er sprach selten von seiner Heimat und von seinem Haus, weil er die Wahrheit nicht erzählen konnte und im Lügen unsicher war. Er sollte noch mindestens anderthalb Jahre in England bleiben. Aber eines Tages erhielt er ein Telegramm, das ihn nach Hause rief.

Der alte Herr Bernheim hatte sich vor einer Woche auf eine weite Reise begeben. Er wollte sich nach Ägypten einschiffen, der Gicht wegen. Aber er starb, als er in Marseille den Dampfer betrat. Er befand sich in Gesellschaft einer jungen Dame, die er für seine Tochter ausgegeben hatte und die vielleicht – wer kann es wissen – die mittelbare Ursache seines unerwarteten Todes war. Man fand, als man seine Leiche holen kam, kein Geld mehr bei ihm. Einige wollten wissen, daß jenes junge Mädchen die Akrobatin gewesen war. Aber die Menschen sind leicht geneigt, die einfachsten Ereignisse romanhaft auszulegen. Wahrscheinlicher ist, daß die Neigung des alternden Mannes für junge Mädchen im allgemeinen groß war und seine Treue zu einem bestimmten und übrigens nicht leicht zu eruierenden eine Erfindung. Immerhin war sein Tod an Bord eines Schiffes, an der Schwelle des Meeres und im Arm eines hoffentlich hübschen Kindes freier und würdiger als der größte Teil seines Lebens oder wenigstens des bekannt gewordenen Lebens. Denn es ist möglich, daß Herr Felix Bernheim niemals eine ganz eindeutige Existenz geführt hatte. Es ist möglich, daß er wirklich, wie sein Sohn Paul sagte, ein „Kerl” gewesen war, breitspurig, gesund, glücklich und leichtsinnig.

Sein Schwiegersohn, der Rittmeister, holte den Toten ab. Paul kam zum Leichenbegängnis.

Frau Bernheim weinte am Grabe, vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben. Sie stand in der Mitte ihrer Kinder. Ihre hübschen, kalten Augen waren rot, sie erinnerten an blutige, blanke Eisstückchen. Herr Bernheim wurde in einer marmornen Gruft beigesetzt. Auf der breiten, blaugeäderten Platte stehen alle seine Verdienste in einfachen, schwarzen Buchstaben verzeichnet, die würdiger sind als die Inschrift „Sans souci” über seiner Villa.

Aber der trauernde Engel, der sich über das Kreuz lehnt, ist doch ein Bruder jener kleinen Engelchen, die den First des Bernheimschen Hauses zieren.

III

Allmählich wurde Paul wieder eine kontinentalere Natur. Sie schien zu der dunklen und maßvollen Kleidung zu passen, die er während der Trauer nach seinem Vater trug. An eine Rückkehr nach England konnte er vorläufig nicht denken. Von den Geschäften verstand er wenig. Er wußte nicht, ob er in der Bank bleiben oder weiterstudieren sollte; auch nicht, was er studieren sollte. Sein Vater hatte drei verschiedene Testamente hinterlassen, aber alle drei stammten aus einer weit zurückliegenden Zeit. Man begann, Geheimnisse im Hause Bernheim und in der Bank zu vermuten – Gerüchten war zu entnehmen, daß der Reichtum der Bernheims bedeutend geringer sei, als man angenommen hatte.

 

Paul äußerte nichts Bestimmtes über seine nächsten Pläne. Er sprach vom College immer noch, aber er erzählte jetzt, nachdem er es kennengelernt hatte, dasselbe wie einst, als er es nur aus den Prospekten gekannt hatte. Er saß stundenlang in dem Büro seines Vaters, sah gelangweilt in Bücher, sprach mit Sekretären und alten Beamten, unaufhörlich in der Angst, bei einer Unkenntnis ertappt zu werden und sich von den andern ausnützen zu lassen. Etwas vom Mißtrauen seiner Mutter, etwas von ihrer beschränkten Kälte wurde jetzt an Paul sichtbar. Niemals hätte er etwa vor einem älteren Beamten sein Unverständnis zugegeben. Schließlich hatte er noch die Ratschläge seiner Mutter zurückzuweisen und eines ihrer Brüder, mit denen der alte Bernheim immer im Streit gelebt hatte und die jetzt langsam auf dem Plan zu erscheinen begannen.

In dieser unangenehmen Lage befand sich Paul, als der Krieg ihm zu Hilfe kam. Seine Begeisterung galt vom ersten Augenblick an dem Vaterland, den Pferden, den Dragonern. Frau Bernheim, die überzeugt war, daß der Tod nur die armen Infanteristen treffen werde, hatte wieder einen Anlaß, auf ihren Sohn stolz zu sein. Als er zum erstenmal in der Uniform vor ihr stand – denn er rückte schon in militärischen Kleidern ein, obwohl er noch nie Soldat gewesen war —, weinte sie: erstens vor Freude über Pauls männliche Schönheit; zweitens, weil ihr Mann ihn nicht mehr sehen konnte; drittens, weil sie der Anblick einer Uniform immer rührte. (Dies war ein Rückfall in ihre Mädchenzeit.) Der Tradition des Dragonerregiments getreu, die sich übrigens im Laufe der Zeiten und infolge des Krieges abgeschwächt hatte, ließ sich Paul ein kleines, bürstenartiges Schnurrbärtchen stehn. Er sah aktiver aus als die anderen Einjährig-Freiwilligen. Seine Reitkunst, seine Haltung, seine Gesinnung und seine Uniform hätten in einem Fremden den Eindruck erwecken können, daß Paul Bernheim aus einer alten kavalleristischen Familie stammte. Seinen bürgerlichen Stand machte er unter soviel Adel durch seine Haltung wett. Und seinen Namen unterschrieb er von nun an so undeutlich, daß es „von Bernheim” wie „Bernheim” heißen konnte.

Trotzdem mußte er infolge einer Verfügung, die ihn ebenso erschreckte wie andere die Einberufung, die Kavallerie verlassen. Der Staat verlor dank seiner Vorurteile einen ausgezeichneten Offizier, einen Helden vielleicht. Denn es ist kein Zweifel, daß in Paul Bernheim die Eitelkeit die Quelle des patriotischen Heroismus gewesen wäre. Jener Verfügung zufolge aber mußte er Verpflegungsoffizier werden.

Wie viele hätten gerne mit ihm getauscht! Er aber wurde fast in der Stunde, in der er die Dragoner verließ, ein erbitterter Kriegsgegner. Ein anderer Weg zur Bedeutung schien sich ihm zu öffnen. Er begann, mit Pazifisten zu verkehren, in kleinen, verbotenen und rebellierenden Blättern zu schreiben, in geheimen Versammlungen der Kriegsgegner zu sprechen. Und obwohl er weder ein begabter Journalist noch ein Redner war, erregte er in der Gesellschaft der kleinen Leute, der einfachen Soldaten, der Deserteure, der Revolutionäre ein gewisses Aufsehn dank seinem Offiziersgrad, seiner gutbürgerlichen Erscheinung, der sichtbaren Abkunft aus einem guten Hause. Der Glanz seiner Abzeichen, der Klang seiner Sporen – denn auch als Verpflegungsoffizier gehörte er zu den Berittenen —, die olivenfarbene Zartheit seines Teints, die weichen Bewegungen seiner Arme und Hüften faszinierten die Menschen; und da er die Portion Heroismus, die er dem Vaterland zugedacht hatte, den Kriegsgegnern schenkte, gehörte ihm die Dankbarkeit der Verfolgten. Sie wurden stolz auf ihn – und dieser Stolz kam aus denselben Quellen, denen sonst ihr Haß gegen die andern Angehörigen der führenden Gesellschaftsklasse entsprang. Alle Überläufer werden überschätzt. Diesem Gesetz hatte Paul Bernheim seine Bedeutung in revolutionären Kreisen zu verdanken.

Es war lehrreich zu beobachten, wie Pauls rebellische Gesinnung keineswegs den Glanz seiner äußeren Erscheinung zu vermindern imstande war. Klirrend und schimmernd ging er dahin. Die Koketterie des Heroismus machte er sich zu eigen wie die rebellische Gesinnung. Mehrere Plaketten an der Mütze, Schnüre an einer engen Litewka, einen kurzen Dolch statt eines Seitengewehrs an einem knarrenden, roten Ledergehänge, weiche, gelbe Stiefel und Reithosen von einer ungewöhnlichen Breite: so ging er dahin, ein Gott der Verpflegungsbranche. Sein Dienst bestand im Einkauf und in der Requisition von Vieh und Getreide und vollzog sich im Hinterland, in der Etappe und in besetzten Gebieten. Er fuhr durch Städte und Länder, aß und schlief bei Gutsbesitzern, die sich von ihrer Vaterlandsliebe nicht abhalten ließen, um eine Zubilligung übertriebener Preise bei Paul zu werben und um die Milderung der Requisitionen. Auf ihn übten die Freundlichkeiten seiner Opfer keine Wirkung. Der Staat hatte einen Helden verloren und einen unbestechlichen Verpflegungsoffizier gewonnen. Denn Paul requirierte und drückte die Preise mit dem Ressentiment eines Revolutionärs, seine Gesinnung unterstützte seine dienstliche Aufgabe, und die Furcht, mit der ihm seine Opfer begegneten, schmeichelte ihm ebensosehr wie die Schätzung, deren er sich bei den Kriegsgegnern erfreute. Im übrigen schätzte man auch seine dienstliche Gewissenhaftigkeit. Sie behütete ihn vor jedem Verdacht. Und also gelang ihm wie wenigen die Vereinigung militärischer Tugenden mit einer antimilitaristischen Gesinnung. Ebenso wie er einmal imstande gewesen war, vernünftige Bücher zu lesen, kluge Gespräche zu führen und dann in der Gesellschaft der Mädchen billige Torheiten zu sagen, so konnte er jetzt in Offizierskasinos und auf „Landsitzen” plaudern, Operettenschlager auf dem Klavier spielen und sich dem Tanz hingeben und gleichzeitig seinen nächsten Artikel zurechtlegen, über die Möglichkeiten einer Demonstration nachdenken, seine Rede vorbereiten. Verworren sind in den Herzen und Hirnen der Menschen Überzeugung und Leidenschaften, und es gibt keine psychologische Konsequenz.

Eines Tages lernte Paul den Gutsverwalter Nikita Bezborodko kennen, ein paar Meilen südlich von Kiew. Bezborodko rühmte sich, einer alten Kosakenfamilie zu entstammen. Stark, unerschrocken, schlau und verwegen, hatte Nikita schon mehrere Requisitionen abgewehrt, Einkäufer der Armee um ansehnliche Summen betrogen, Befehle sabotiert, Lieferungen falsch ausgeführt, statt der assentierten gesunden Pferde kranke und erblindete der Armee zugeführt.

Zum erstenmal stieß er bei Paul Bernheim auf einen Widerstand. Paul erstattete gegen den Kosaken die Anzeige. Aber es kam zu keiner Verhandlung. Einmal begegneten Paul und der Ukrainer einander auf dem Bahnhof in Shmerinka.

„Guten Tag, Herr Leutnant!” sagte der Kosak.

„Sie sind nicht eingesperrt?”

„Wie Sie sehen, Herr Leutnant! Ich habe meine Beziehungen.”

Sie tranken ein paar Gläschen. Sie saßen in einer improvisierten Schenke, einer dunklen und kahlen Holzbaracke, durch deren winzige, offene Fensterluken der Wind strich und die Vögel flogen. Auf einmal sagte der Kosak:

„Ich habe hier ein paar Flugzettel für Sie, Herr Leutnant!” „Ich lasse Sie verhaften”, erwiderte Bernheim und erhob sich. Der Kosak stand an der Tür, die er überwachte, ein breites Lächeln im Angesicht, in der Rechten ein Messer. „Hände hoch!” rief er, das Lachen in der Stimme. Bernheim wußte nicht, ob der Ukrainer ein Spitzel war und im Dienst der militärischen Geheimpolizei stand, ob er ein Revolutionär war, ob er die Flugzettel nur durch einen Zufall bekommen hatte, ob er in der Besoffenheit sprach. Es wurde Abend, der Wind heulte, Paul Bernheim beschloß auf jeden Fall, die Flugzettel zu verlangen. Er konnte später immerhin sagen, daß er eine List angewandt hatte.

Der Kosak warf ihm mit der linken Hand ein Bündel zu, immer noch an der Tür, das Messer gezückt in der Rechten. In der Dämmerung schien er größer zu werden. Ein silbriger Glanz ging von seinem sandgelben Mantel aus, seiner hellgrauen Pelzmütze, seinen gelben Stiefeln aus rohem Leder, seinen grauen Augen. Er erreichte die Decke der Baracke. Bernheim fühlte sich in dem Maß kleiner werden, in dem er sich einbildete, den anderen wachsen zu sehn. Eine Furcht, aufgestiegen aus längst vergessenen Kinderjahren, Erinnerung an Gespensterträume, an schaurige Phantasien in dunklen Zimmern, griff mit hunderttausend Armen nach dem erwachsenen Mann. Der Schnaps, den er sonst ohne Schaden zu trinken verstand, verwirrte ihn heute, weil er einen halben Tag nichts gegessen hatte. Weshalb bin ich nur mit dem Kerl hierhergegangen. Es war der einzige klare und ganze Satz, den er denken konnte. Sonst huschten nur halbe Sätze durch sein Hirn, und der Ausdruck „letzte Stunde” kehrte immer wieder, wie ein Schmerz, der für Augenblicke verschwindet, den man aber erwartet und den man begrüßt, weil die Qual des Wartens stärker ist als er.

Plötzlich fiel Bernheim noch ein Wort ein. Ein Wort, dessen Torheit Pauls Entschluß in einer anderen Stunde nicht hätte bestimmen können. Eines jener leeren Worte, die als Bruchstücke traditioneller Leitsätze, pädagogischer Formeln, vorgeschriebener Lesebücher, für Kinder bearbeiteter Heldensagen sich für ein ganzes Leben in unseren Gehirnen einnisten, wie Fledermäuse reglos bleiben, solange wir wach sind, und nur die erste Dämmernis unseres Bewußtseins abwarten, um wieder in uns herumkreisen zu dürfen. Ein solches Wort fiel Bernheim ein, es hieß: schmähliches Ende. Eine Vorstellung, die, so kindisch sie sein mag, auch einen klügeren Mann veranlassen kann, das, was man Männlichkeit nennt, zu mobilisieren. In Paul Bernheim lebten noch Vorstellungen, die er sich als Kriegsgegner und Rebell nicht eingestehen wollte – Vorstellungen von einem „würdigen Tod” zum Beispiel – , denn auch ein kurzer Dienst bei den Dragonern bleibt nie ohne jede Wirkung. Kaum hatte sein getrübtes Hirn jenes Wort geboren, als er das Dümmste tat, was er in seiner Lage hätte tun können: Er griff nach seinem Revolver wie ein Held. Im Nu steckte das Messer Bezborodkos in seinem rechten Arm. Paul konnte noch sehen, wie sich die Tür der Baracke sehr schnell Öffnete und wie das letzte, grünliche Licht des dämmernden Himmels in den nun völlig finsteren Raum einbrach. Dann fiel die hölzerne Tür wieder zu – Paul Bernheim hörte das Geräusch und wieder war es finster. Bezborodko war fort.

Paul versuchte nicht mehr, das Messer aus seinem Arm zu ziehen. Die Dunkelheit des Raumes, die ihn umhüllte, schien in seinem Innern eine andere, noch dichtere Dunkelheit zu erzeugen, die gleichsam aus dem Sehnerv ins Auge drang, ebenso wie die äußere Finsternis durch die Netzhaut. Finsternis innen und außen. Er wußte nicht, ob er die Augen noch offenhielt oder schon geschlossen hatte. In seinem Arm schien der Schmerz zu klingen, als gäbe das Blut, das an den Stahl schlug, einen metallenen Laut.

Er erwachte ein paar Stunden später, mit verbundenem Arm, auf einem Sofa, im Zimmer des jüdischen Schankwirts, um sofort wieder einzuschlafen.

Ein paar Tage später verließ er Shmerinka. Die Flugzettel waren verschwunden. Das Ganze erschien ihm jetzt unwirklich, ein Traum, und er begann, fast zu zweifeln, ob er die Wunde wirklich von Bezborodko empfangen hatte. Auch dieser blieb verschwunden.

Immerhin hatte dieses Ereignis ihn aus der Sicherheit gebracht, in der er gelebt hatte. Der Krieg dauerte nun schon das dritte Jahr. Wer kann sagen, ob es Furcht war oder Gewissen, was Paul Bernheim jetzt veranlaßte, seinen angenehmen Dienst aufzugeben und sich freiwillig an die Front zu melden? Es war, als hätte ihm der Tod, wie er so am Abend in der Baracke an ihm vorbeigegangen war, eine Ahnung von seiner roten und schwarzen und schrecklichen Süßigkeit geschenkt und in Paul die Sehnsucht nach ihr geweckt. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Freunde, ihre Zeitungen, ihre Reden. Er desertierte aus ihrem Lager, wie er einst zu ihnen desertiert war.

So vielfältig und unbegreiflich ist der Mensch.