Za darmo

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Er saß bei Tisch neben Frau Irmgard. Alles comme il faut. Längst hatte sie sich vorgenommen, ihm das Haus und die Bilder zu zeigen. Sie überlegte, ob es schicklich sei, ihn in das Schlafzimmer zu führen, vor das große Gemälde von Hartmann. Sie begann zaghaft, davon zu sprechen. „Es ist leider in meinem Schlafzimmer”, sagte sie. Herr Charronoux maß sie mit einem Seitenblick, einem neuen Blick, der plötzlich über seinen Augen lag, wie man eine Brille anzieht. Er hatte sofort die Vorstellung von diesem Schlafzimmer, ganz genau – und es war vielleicht interessant zu wissen, wie man in dieser Gesellschaftsklasse schläft. Ein Herr von der französischen Botschaft hatte ihm gesagt, daß es nirgends so viel getrennte Schlafzimmer gäbe wie in Deutschland. Sollte man vielleicht ein Kapitel über Erotik einschalten?

Mitten unter seinen Gästen war Paul Bernheim der fremdeste Gast. Er sah eine Frau nach der andern an. Warum war Lydia nicht hier? Er liebte sie nicht. Er bestätigte es sich. Nein, er liebte sie nicht. „Begehren” fiel ihm ein. Es war das richtige Wort. Er begehrte sie. An ihr hatte er gelernt, daß er keineswegs unwiderstehlich war. Ungeschickt war er, plump. Ein kindisches Verlangen diktierte ihm, sich auf den Boden zu werfen und mit den Füßen zu strampeln wie dereinst als Knabe, wenn er gerufen hatte: Ich will aber doch, ich will aber doch. Ich will Lydia, ich will Lydia, sagte er sich zehnmal, ohne den mechanischen und mächtigen Ablauf dieser kurzen Sätze aufhalten zu können. Jeder tat ihm weh. Er konnte genau den Weg eines jeden Wortes verfolgen. Es schien dem Herzen zu entspringen, dem Kreislauf des Blutes zu folgen, in das Gehirn zu steigen, hier eine Weile zu verharren und wieder zurück ins Herz zu kehren. Ich – will – Lydia – haben! – Welch eine Qual!

Er wartete auf das Ende der Mahlzeit, als müßte sich dann etwas Entscheidendes ereignen. Etwas Unmögliches. Man mußte die endlose Zeit, die noch vor ihm lag, ein ganzes Leben, durchklungen von einem unerfüllten Wunsch, zerhacken, einteilen und am Ende eines jeden Teilchens irgendeine Entscheidung erwarten. Die also eingeteilte Trostlosigkeit war leichter zu ertragen als eine riesengroße, ungeteilte, umfassende. Und viele Enttäuschungen am Ende eines jeden Abschnitts waren besser als eine einzige Enttäuschung.

Man erhob sich. In einer Sekunde faßte er den Entschluß hinauszugehen. Um die zweite Ecke links war die Villa Brandeis. Es war, als hätte er ihre geographische Lage erst in diesem Augenblick erfahren und als käme ihm die wunderbare Nähe Lydias jetzt als eine letzte Rettung in den Sinn. Es war doch nicht möglich, einander so nahe zu sein und nicht zueinander zu gelangen. Er lief in die Straße. Er bog um zwei Ecken links.

Vor der Villa Brandeis leuchteten die zwei sonnenhellen Augen eines Autos. Die Gartentür und die Haustür standen offen. Zwei Männer in Livreen, der Chauffeur und der Portier offenbar, trugen zwei große Koffer und verluden sie in den Wagen.

Paul stand im Schatten. Er hörte Stimmen. Es wurde ihm heiß. Seine Hände wurden schwach. Er suchte nach einem der Gitterstäbe in seinem Rücken. Er hörte Lydias Stimme wie einen fernen Gesang. Aber er verstand nicht, was sie sprach.

Ein paar Sekunden spater trat Lydia aus dem Haus. Der Motor knatterte. Das Geräusch empfand Paul Bernheim als eine Beruhigung. Solange der Motor knattert, hab’ ich noch Zeit! fiel ihm ein. Das Geräusch milderte die unerträgliche Helligkeit der Scheinwerfer. Paul maß die kurze Entfernung zum Wagen. Er brauchte eine Sekunde, nicht mehr als eine Sekunde, um die Klinke der Wagentür zu fassen. Ein zweiter Paul Bernheim, ein beweglicher, löste sich aus dem stehenden, sprang zum Auto, stieg ein, fuhr weg. Das ereignete sich eben und war doch schon vor langen, langen Jahren vollbracht. Auf einmal war alles abgetan und erlebt. Weit hinter Paul Bernheim lagen die Abenteuer, der Ehrgeiz, der gesellschaftliche Glanz, die Macht, die Liebe, die Welt. Es war, als täte, dächte, fühlte er alles jetzt nur noch einmal und zum Schein. Jemand hatte ihm diese Rolle zu spielen übertragen, weil er ihren Inhalt schon erlebt hatte und mit ihm so gut vertraut war. Plötzlich hörte das Knattern auf, und gleichzeitig machte der Scheinwerfer eine Wendung und überflutete den stehenden Mann. Paul Bernheim senkte den Kopf. Es dauerte einen Augenblick. Lautlos glitt der Wagen davon.

Paul ließ das Gitter los, das er bis jetzt gehalten hatte. Er wollte gehen. Es schien ihm, daß er hier zwanzig Jahre verlebt hatte. Die Tür der Villa war noch offen. Tröstliches, goldenes Licht drang zart aus dem Flur. Brandeis trat aus der Tür.

Sein Blick fiel auf den Schatten am Gitter. „Wer ist dort?” fragte Brandeis. „Ich”, erwiderte Paul.

Brandeis trat näher mit dem leichten, lautlosen Schritt, der seine schwere, große Körperlichkeit so unwahrscheinlich machte. Es war, als ginge er auf fremden Füßen.

„Sie wollten zu uns?”

„Nein”, sagte Paul, „ich wollte zu ihr.”

„Lydia Markowna ist für immer weggefahren. Sie ist zurück zu ihrem Theater. In Genf sind sie jetzt. Sie können hinfahren!”

„Nein!” sagte Paul. Und er dachte: Mein Vater wäre hingefahren, mein Vater wäre hingefahren.

„Wir können uns gleich verabschieden”, sagte Brandeis. „Ich werde Sie bis zu Ihrem Haus begleiten. Das genügt. Ich fahre morgen. Und komme nicht mehr so bald. Ich habe nicht die Fähigkeit, lange auf einem Fleck zu bleiben.

Ich bin eigentlich verpflichtet, mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich dachte ein paarmal daran, mich mit dem Element zu messen, in dessen Nähe Sie durch Ihre Heirat gekommen sind. Ich wollte Sie mir aufheben. Ich hatte niemals einen übermäßigen Respekt vor Ihnen, vor den Menschen im allgemeinen nicht. Meine Meinung hat hier nichts zu tun, aber ich hätte es Ihnen geschrieben, auf jeden Fall. Nun, da ich Sie hier überrasche, sage ich es. Die Umstände sind für meinen Geschmack etwas zu romanhaft.”

„Ich nehme Ihnen nichts übel”, sagte Paul. „Soeben, vor fünf Minuten noch, wäre ich tief beleidigt gewesen. Inzwischen aber bin ich alt geworden. Sehen Sie nur, Herr Brandeis, sehen Sie meine Haare! Sind sie nicht schon weiß? Seit drei Minuten habe ich die Empfindung, daß ich mein Haus als junger Mann verlassen habe und daß ich als Greis zurückkomme. Ich bin, scheint mir, weise genug geworden, um Ihnen gestehen zu können, daß ich Sie immer bewundert habe. Bewundert und auch gefürchtet. Und dennoch bin ich noch immer nicht weise genug, um auf die Frage verzichten zu können, die ich Ihnen jetzt stellen will: Warum haben Sie mich verachtet?”

„Ich weiß nicht”, erwiderte Brandeis. „Sie waren ein Schwächling. Sie wären zum Beispiel nicht imstande gewesen, einen Tag oder eine Stunde vor der endgültigen, wirklichen Macht vielleicht, alles zu verlassen, wie ich es jetzt mache. Denn es gehört keine Stärke dazu, etwas zu erobern. Alles ist morsch und ergibt sich Ihnen. Aber verlassen, verlassen, darauf kommt es an. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, etwas Außerordentliches zu tun. Es treibt mich fort von hier. So wie es mich einst hierhergetrieben hat. Es treibt mich fort, und ich folge. Lassen Sie es sich gutgehen, Herr Paul Bernheim. Versuchen Sie, jetzt wird es Ihnen vielleicht gelingen.”

Sie standen vor dem neuen Hause Bernheims. Alle Fenster erleuchtet. Paul glaubte die Stimmen seiner Gäste zu hören. Er griff in die Tasche nach dem Schlüssel. Und während er ihn hervorholte, sagte er gleichgültig, als sagte er etwas, was sich auf die Tür beziehen sollte: „Sagen Sie, Herr Brandeis, haben Sie Lydia weggeschickt?”

„Nein, sie ist gegangen. Ich schicke niemanden weg. Sie ist gegangen, und vielleicht gehe ich deshalb auch. Ich weiß nicht, was mich aufhält, ich weiß nicht, was mich davontreibt.”

Eine Sekunde blieb es still. Dann sagte Brandeis laut: „Gute Nacht!” Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er im Schatten der Bäume, die den Straßenrand säumten.

XX

Ein paar Tage spater verließ Nikolai Brandeis den Zug an einer jener Grenzstationen, die er oft passiert hatte, ohne mehr von ihnen gesehen zu haben als die öde, grenzenlose Traurigkeit ihrer Rangierbahnhöfe, den provisorischen, etappenmäßigen Aspekt ihrer hölzernen, braungeteerten Baracken und die kollegiale Eintracht der verschieden uniformierten Zollwächter zweier Länder. Er blieb in der kleinen Stadt, die er vom Bahnhof nach einer halben Stunde Wanderung erreicht hatte, als brächte ihm erst dieser Aufenthalt und die endliche Verwirklichung einer oft verspürten flüchtigen Laune den Beweis seiner wiedergewonnenen Freiheit. Die stillen Einwohner der kleinen Stadt sahen sich nach ihm um. Sein Gesicht schien aus demselben Stoff gemacht zu sein wie sein großer, rostbrauner Mantel, und obwohl sein Hut, sein Anzug, seine Schuhe einen europäischen Schnitt hatten, wirkten sie doch wie Kleidungsstücke, die von den Söhnen eines fremden Volkes in einem unbekannten, unerreichbar fernen Land getragen werden. Langsam ging Brandeis durch die kleinen und schmalen Gassen, die noch kleiner und schmaler wurden, wenn er in ihnen erschien. Hinter ihm und vor ihm wehte die Weite.

Noch wußte er nicht, wohin er gehen würde. Überall schien ihm die Erde gleich zu sein. In allen Städten aller Länder gebar sie mit unendlich geduldiger und schmerzlicher Güte die schwächlichen Paul Bernheims, die Gefangene ihrer törichten Wünsche wurden; die kläglich verworrenen Theodors, die im ewigen, dichten Schatten der öffentlichen Pathetik lebten; die Gewalthaber, denen die Macht zur Ohnmacht wurde und die im Giftgas erstickten, das sie erzeugten; die Allerweltsmenschen, die aus Budapest kamen und hinter den Paravents saßen; die kleinen Mädchen, die geliebt sein wollten und ihre kleinen Herzchen verloren.

Ohne mich, dachte Brandeis, wird die Welt ihren ewigen, langweiligen Gang weitergehn. Paul Bernheim wird schließlich zur Chemie kommen. Herr Enders wird im nächsten Krieg das Vaterland retten, Theodor wird die Leitartikel des Blattes schreiben, dessen Aktien mir gehören. Ich werde fahren: wohin? Die Häfen der ganzen Welt warten auf mich.

 

Gegen sechs Uhr nachmittags stieg er wieder in den Zug. Um diese Stunde begannen die beinernen Stricknadeln der alten Frau Bernheim zu klappern und die Schreibmaschine im Hause ihres Sohnes Theodor. Frau Irmgard entließ den Hausarzt und bereitete sich vor, ihrem Mann das traditionelle süße Geheimnis mitzuteilen. Einen Erben trug sie im Schoß. Herr Sandor Tekely begab sich ins ungarische Restaurant in der Augsburger Straße. Die Chauffeure der Brandeisschen Automobile vertauschten ihre Livreen gegen billige Zivilanzüge. Die Beamten riefen ihre Mädchen an und holten die Theaterbillets aus den Brieftaschen, Billetts zu ermäßigten Preisen. Die Abendredaktion begann. Die Redakteure zogen die Lüsterröckchen an und spitzten die roten Bleistifte. Und die Nachrichten stürmten klingelnd in die ledergepolsterten Telephonzellen, aus Bukarest und Budapest, aus Amsterdam und Rotterdam, aus London und Bombay, aus Kairo und New York. Ihren alten, langweiligen Gang geht die Welt.

Es war das letztemal, daß man Brandeis sah. Seit jenem Tage wußte niemand mehr etwas von ihm zu berichten.

Er stieg in den Zug, und es wurde wieder ein neuer Nikolai Brandeis geboren.

Und also beginnt hier ein neues Kapitel.