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XIV

Statt am Donnerstag, wie es vorgesehen war, kam der Onkel Irmgards, Herr Carl Enders, erst am Sonntag. Wenn seine Frau einen Zweifel über Irmgards Sicherheit in Berlin äußerte, so sagte der Herr Enders: „Du kennst Irmgard nicht! Du lebst überhaupt noch in deiner Zeit! Du kennst die jungen Menschen von heute nicht!” Er verehrte den Fortschritt, die Jugend, alle neuen Erfindungen, das Tempo und den Sport. Er fühlte sich in der neuen Zeit wie zu Hause, und er konservierte seine Jugend und seine Gesundheit, nur um eine noch neuere zu erleben. Wenn er in einer der populärwissenschaftlichen Zeitschriften, die er abonnierte und die er mit einer verschwiegenen Geilheit las, als wären sie Pornographie, die Voraussage einer totalen Sonnenfinsternis in Mitteleuropa zu Ende des dritten Jahrtausends sah, so erschütterte ihn die Unmöglichkeit, tausend Jahre zu leben. Und es war in der Tat, wenn man ihn betrachtete, gar nicht einzusehen, aus welchem Grunde ein Mann wie er nicht unsterblich sein sollte. Seine Ingenieure und Beamten, seine Chemiker und seine Gehilfen, seine Werkmeister, seine Kassierer und seine Sekretäre arbeiteten für ihn, obwohl er selbst den ganzen Tag beschäftigt war, obwohl er selbst die Tätigkeit liebte und was er von ihr erzählen konnte. Er war zwecklos fleißig. Die Philosophen der Welt, die Dichter und Denker, die Erfinder und Entdecker dachten für ihn und lieferten seinem Gehirn die notwendige Nahrung. Um ihm eine Freude zu bereiten, überquerten Flieger den Ozean, umkreisten Rekordsammler die Erde auf Fahrrädern, Schlitten und Paddelbooten, gingen Forscher im Eismeer zugrunde, brachen Akrobaten das Genick beim dreimaligen Salto mortale. Er las mit Begeisterung am Ende eines jeden Jahres die Bilanz der Unglücksfälle und hielt alle überfahrenen Fußgänger für schuldig. Langsam sein und keine Geistesgegenwart haben hieß für ihn ein Verbrechen gegen das Tempo begehen, das er verehrte. Er selbst verspätete sich gerne, plauderte Überflüssiges, präsidierte zahllosen Konferenzen, fuhr von Stadt zu Stadt, hielt sich in Museen auf, sammelte Minerale, besuchte Konzerte, in denen moderne Musik gespielt wurde, finanzierte moderne Wohn– und Nutzbauten und Theater, in denen die Regie überraschende Experimente machte. Vor dem Kriege war er einer der eifrigsten Anhänger Kaiser Wilhelms des Zweiten gewesen … Während des Krieges war er ein Annexionist, weniger aus politischer Überzeugung als aus Vorliebe für Katastrophen. Nach dem Umsturz wurde er einer jener demokratischen Konservativen, die es nur in Deutschland gibt: Sie können Patrioten sein und Kosmopoliten, sich in der Gesellschaft eines Prinzen geehrt fühlen und ihn mitleidig belächeln, den Sozialismus anerkennen und ihn für eine Utopie halten, Arbeiterkolonien bauen und die Arbeiter aussperren, gute jüdische Freunde haben und Ehrenämter in antisemtischen Vereinen, für eine konservative Partei stimmen, sogar als deren Mitglied gewählt werden und sich über einen Sieg der Linken freuen, den Bolschewismus ablehnen und die russischen Sowjets lieben.



Irmgard, die ihren Onkel kannte, hatte wissen müssen, daß ein Mann von so verschiedenen Veranlagungen und Geschäften nicht rechtzeitig kommen würde. Sie glaubte an die Notwendigkeit seiner Tätigkeiten, seiner Reisen, seiner Liebhabereien. Und sooft er sich auch verspätet hatte, sie nahm es immer für eine Folge unvorhergesehener Hindernisse. Darin glich sie ihrer Tante. Als Herr Enders am Sonntag kam, traf er eine in ihrer Art bereits verliebte Irmgard an. Inzwischen hatte sie sich schon dreimal mit Paul Bernheim getroffen. Einmal beim Fünfuhrtee, einmal auf einem ziellosen Ausflug im Auto, das drittemal waren sie spazierengegangen, langsam, beglückt, statt, wie es verabredet gewesen war, Tennis zu spielen. Morgen wollten sie reiten.



Um zu zeigen, daß er ein Kenner der Jugend sei und die zartesten Symptome an seiner Nichte bemerkte, sagte Herr Enders:



„Wir sind verliebt, nicht wahr?”



Irmgard, die ihren Onkel ebenso für altmodisch hielt wie er sich selbst für modern, war durch den Ausdruck „verliebt” gekränkt. Er bezeichnete einen Zustand, der für einen jungen Menschen von heute nicht ganz passend erschien. Sie wiederholte:



„Verliebt?!” Und nach einer Weile: „Vielleicht nur bereit zu heiraten!” „Na also”, sagte Herr Enders. „Es freut mich, daß du modern genug bist, die Liebe nicht mit der Ehe zu verwechseln. Denn du weißt, daß du nicht jeden Beliebigen heiraten kannst. Aber du kannst dich in jeden Beliebigen verlieben.” „Ich bin selbständig, Onkel!”



„Bis zu diesem Punkt!”



Er dachte an die vielen Männer, die sich bei ihm um Irmgard beworben hatten. Es waren Männer verschiedener Kategorien gewesen, Künstler, die er unterstützte und die er von vornherein für unfähig hielt, denn er verband mit der Vorstellung von Kunst eine von geschlechtlicher Impotenz. Er kam nicht zum Bewußtsein seiner Vorurteile, weil er sich unaufhörlich wiederholte und bewies oder zu beweisen glaubte, daß er keine Vorurteile habe. „Ich habe nichts gegen die Armen”, pflegte er zu sagen, „weiß Gott, ich versuche, mit den Armen ebenso zu verkehren wie mit den Reichen, aber schließlich kann man sie nicht mir nichts, dir nichts in die Familie nehmen. Ja, wenn es ein Genie wäre, etwas Außergewöhnliches! Ein Eckener sagen wir, ein Einstein, meinetwegen sogar ein Lenin! ein Kerl!” Und da ihm unter den Armen, die er kannte, kein „Kerl” in den Weg kam, blieben seine Beziehungen zu ihnen distanziert.



Eine Zeitlang hatte er daran gedacht, Irmgard mit einem der Abkömmlinge aus der hohen Aristokratie zusammenzutun, die er unermüdlich unterstützte, einlud, beherbergte und nährte. Er half Zeitschriften begründen, die eine Einigung Europas propagierten, und andere, die einen neuen Krieg vorbereiteten. Und er abonnierte die Zeitschriften auch. Aber ein Instinkt, mächtiger als jede Hilfsbereitschaft und Menschenfreundlichkeit, weil es der Instinkt der Besitzversicherung war, beschützte ihn vor jedem Gedanken an verwandtschaftliche Bande mit einem der armen Freunde. Irmgard sollte einen außerordentlich reichen Mann heiraten. Entweder einen Gutsbesitzer aus alter Familie oder einen jungen Industriellen. Herr Enders wußte nicht, daß es zwischen dem Reichtum und der Armut einen Zustand gibt, der immerhin materielle Nöte ausschließt. Männer, die weniger als eine halbe Million Einkommen jährlich hatten, zählte er zu den Armen. Und wenn er manchmal in die Lage kam, sich „die Armut” vorzustellen, so sah er schreckliche Gesichter: syphilitische Kinder, eine schwindsüchtige Frau, Matratzen ohne Überzug, versetztes Silber. „So lebt heutzutage der Mittelstand”, pflegte er zu sagen. Zum Mittelstand zählte er auch die Direktoren seiner Fabriken. Das Proletariat war seiner Meinung nach versorgt. Erstens hatte es den Sozialismus, zweitens keine Bedürfnisse und drittens die soziale Fürsorge.



„Nur keinen Mittelständler heiraten”, sagte er zu Irmgard. „Man kommt aus dem Elend gar nicht mehr heraus.” Er war ehrlich bekümmert. Sein roter Nacken, seine muskulösen Wangen, seine ganze untersetzte, gesunde Vierschrötigkeit stellte sich in den Dienst seines Kummers. Er sah komisch aus, wenn er besorgt war, fand Irmgard. Sie lachte.



Sie wußte wohl, daß dieser Onkel Schwierigkeiten machen würde, und ihre Sympathie veränderte sich für ihn in Verachtung, die sich auch auf seine körperlichen Eigenschaften bezog. Seine robuste Gesundheit erschien ihr unappetitlich, seine ständige Begeisterung für den Fortschritt nannte sie hypokritisch. Nachdem sie ihn schweigsam ein paar Sekunden lang angesehen hatte, fiel ihr das Wort „Geldsack” ein.



An jenem Nachmittag, an dem sie in der Hotelhalle mit Paul und dem Onkel Tee trank, war sie abwechselnd gereizt, zärtlich, gehässig und verlogen. Für die Dauer von Sekunden verlor sogar Bernheim ihre Sympathie, nur weil er mit ihrem Onkel gefällig sprach. Wenn sie noch geahnt hätte, daß Paul in dieser Stunde nur den Ehrgeiz hatte, ihrem Onkel zu gefallen! Aber sie kannte die Männer nicht.



Worüber sprechen zwei Männer, von denen der eine chemische Produkte erzeugt und der andere kein anderes Interesse hat, als „hinaufzukommen”? Von Kunst. Paul Bernheim glänzte wie gewöhnlich. Man konnte glauben, daß er selbst Bilder sammle. Daß er heute mit Carl Enders zusammen Tee trinken würde: Wer hätte ihm das noch vor einer Woche gesagt? Verändert war die Welt. Warum hatte er seine große Wohnung aufgegeben? Jetzt hätte er Gelegenheit gehabt, ein kleines Diner zu Hause zu geben. Das macht gleich einen ganz andern Eindruck.



„Sie sammeln wohl selbst”, fragte Herr Enders, nicht ohne die Nebenabsicht, auf diesem Wege etwas über die Verhältnisse des jungen Mannes zu erfahren.



„Mein Vater hat viel gesammelt”, log Paul. Und der Sohn hat die Bilder verkaufen müssen, dachte Herr Enders. Aber er sagte etwas anderes:



„Ist Ihr Herr Vater schon lange tot?”



„Vor dem Krieg gestorben.”



„Sie waren natürlich eingerückt.”



„Elfer-Dragoner!” triumphierte Paul.



Also verarmte Familie, replizierte in Gedanken der Onkel. Und laut bemerkte er: „Die Inflation und der Krieg haben doch eine Menge Familien ruiniert. Es ist so manche auf einmal Mittelstand geworden. Unsereins hat oft Gelegenheit zu sehen, wie traurig es mit der Intelligenz bestellt ist.”



„Viele sind auch reich geworden”, sagte Paul.



„Ja, die Neureichen.” Der Onkel sprach dieses Wort mehr mit den Mundwinkeln als mit der Zunge. Es genügte, von den neuen Reichen etwas zu erwähnen, und sofort geriet Herr Enders in schlechte Laune. Nach der Art aller Menschen, deren Großväter schon „neue Reiche” gewesen waren, schätzte er alle gering, die erst heute reich wurden. Von seinem Großvater, dem Begründer der chemischen Dynastie Enders, sprach er als von dem „Manne, der mit den zehn Fingern anfing”. Jene, die heute ähnliches vollbrachten, nannte Carl Enders „die mit den Ellenbogen”. Als wäre ein Ellenbogen ein verächtlicher Körperteil und die Finger aristokratisch. Um der Meinung des Industriellen würdig zu sein, begann Paul, eine von den Anekdoten vorzutragen, deren Held in jener Zeit der populäre Raffke war und die immer mit dem Satz begannen: Herr Raffke kommt zur Neunten Symphonie oder zu „Wallenstein” ins Staatstheater oder sonst zu irgendeiner der Kultureinrichtungen, in denen die alten Reichen sich so gut auskennen. Herr Enders liebte Anekdoten wie die meisten gesunden Männer. Er konnte bei jedem Witz ehrlich lachen, weil er vergeßlich war und es ihm gar nichts ausmachte, ihn zehnmal zu hören.

 



Irmgard schwieg beleidigt. Um ihre Sympathie für Paul nicht zu verlieren, die jetzt ein Bestandteil ihrer Selbstliebe geworden war, verwandelte sie die Geringschätzung für die Billigkeit seiner Witze in eine Bewunderung für seine Fähigkeit, sich mit dem Onkel zu unterhalten. Herr Enders schied mit dem Verdacht, daß Paul Bernheim zu der armen Intelligenz gehöre. Immerhin lud er den amüsanten jungen Mann nach D. ein, einer Stadt im Rheingebiet, in das Stammhaus Enders. Paul sollte nach einer Woche nach D. kommen. Es war ihm klar, daß er innerhalb dieser Woche eine Stellung haben müßte und keine beliebige. An Brandeis hatte er sich halten sollen!



Es war Paul Bernheim vollkommen klar, daß er jetzt vor dem Ziel stand. Er konnte freilich zu Brandeis gehn. Zu Brandeis gehn und was sonst? Die zweitausend Dollar zurückzahlen und von einem Gespräch alles erhoffen. Vielleicht machte ihm Brandeis einen Vorschlag.



Zum erstenmal nach langer Zeit stand Paul Bernheim wieder am frühen Vormittag auf. Es war ein Donnerstag, sein „guter Tag”. Er glaubte sich zu erinnern, daß ihm der Donnerstag immer Glück gebracht hatte. In der Schule schon. Die Gegenstände, die ihm am liebsten waren, fielen auf den Donnerstag. Die Reifeprüfung hatte er an einem Donnerstag bestanden, und nach Oxford war er am Donnerstag gefahren. Und heute war Donnerstag.



Auch die Sonne schien. Kein Wölkchen am Himmel. Kein Staub. Kein Wind. Die Taxis an der Haltestelle alle offen. Er wollte ein Taxi nehmen, um nicht im Gedränge der Untergrundbahn die notwendige Energie zu verlieren. Er stieg ein wie zu einer Fahrt ins Glück.



Aber in der Köpenicker Straße, vor dem massiven Häuserblock, in dem sich seit einigen Monaten Brandeis' Firma befand, ergriff Paul Bernheim Angst, Angst, wie er sie noch nie gespürt hatte. Wenn er jetzt nichts erreichte, so wollte er nicht einmal nach D. fahren. Er überlegte die Ausrede, die er Irmgard mitteilen würde. Diesen Brief jetzt schon zu stilisieren bereitete ihm eine Erleichterung. Es lenkte ihn von dem Gedanken an die nächste Viertelstunde ab. Er versenkte sich in die Vorstellung von seinem vollständigen Zusammenbruch, um den Zustand der weniger erträglichen Angst vor dem Zusammenbruch leichter zu ertragen.



Er lehnte es ab, in den Lift zu steigen, in den ihn der Portier einlud. Er ging langsam die Stufen hinauf und zählte sie. Sie sollten eine gerade Zahl ergeben, dann wäre alles gut. Als er im ersten Stock stand, hatten sie eine ungerade. Seine Füße stockten. Zum Glück besagte eine Tafel, daß sich die Direktion im zweiten Stock befand. Aus Furcht, daß die Zahl der Stufen noch einmal eine ungerade sein könnte, gab er das Zählen auf.



Er mußte durch einen großen, unheimlich sonnigen Saal, in dem an etwa hundert Schreibtischen gearbeitet wurde. Ein Arbeitssaal nach amerikanischem Muster. An allen vier Wänden riesige elektrische Wanduhren wie in Bahnhöfen. Ein regelmäßiges Rascheln von Papier. Ein halblautes Klappern moderner, schweigsamer Schreibmaschinen. Ein Flüstern, das vom Rechnen der gebeugten jungen Männer herrührte, die unaufhörlich Zahlen hinschrieben und mit Linealen hantierten. Die Wände kahl, die Fenster groß, nackt, ohne Vorhänge. Brandeis liebte es, seine Besucher durch dieses Zimmer führen zu lassen.



Paul Bernheim machte sich auf eine der „wichtigen Konferenzen” gefaßt. Hier gilt es, eine Stunde oder zwei zu warten. Um so besser. Ich habe Zeit, mich zu beruhigen.



Aber schon ein paar Minuten später holte man ihn zu Brandeis.



Brandeis saß in einem kleinen, verdunkelten Raum. Die Besucher, die aus der schmerzlichen Helligkeit kamen, sahen im ersten Augenblick gar nichts. Er holte aus dem Wandschrank Kognak und zwei Gläser, Zigarren, Zigaretten, Streichhölzer. Er stellte alles mit behutsamen Bewegungen vor Bernheim hin, lautlos, als wären seine großen, kräftigen und behaarten Hände, die Tischplatte, die Flasche, die Gläser und die Schachteln aus Samt.



Er goß zwei Gläser voll.



Bernheim trank mit einem Schluck. Er ärgerte sich, daß Brandeis nur nippte.



„Ich trinke sehr langsam”, sagte Brandeis.



„Ich habe eine alte Schuld”, begann Paul.



„Die Summe ist so gering”, unterbrach Brandeis, „daß es eine Verschwendung wäre, von ihr zu sprechen. Ich muß Sie um Entschuldigung bitten. Ich hätte Sie besuchen sollen. Sie könnten geglaubt haben, daß ich absichtlich eine Begegnung mit Ihnen vermeiden will. Durchaus nicht! Es ist inzwischen die Notwendigkeit eingetreten, den Umfang meiner Geschäfte zu regeln und zu erweitern. Ich war besetzt. Ich freue mich über Ihren Besuch. Aber ich hoffe, daß Sie ihn nicht jener Summe wegen gemacht haben.”



„Nein, Herr Brandeis. Offen gestanden: Ich bin mit einer Bitte gekommen.”



„Das ehrt mich.”



Eine lange Pause folgte. Keiner von beiden rührte sich. Man hörte aus der Ferne einen Vogel zwitschern. Pauls Augen hatten sich an den Dämmer dieses Zimmers gewöhnt. Er unterschied die dunkelrote Farbe der Teppiche und die rostbraune Täfelung der Tür zu seiner Linken. Es war nicht jene, durch die er gekommen war. Die Dämmerung kam von den dunklen Rolläden hinter den Fenstern, die dennoch offenstanden. Ein zarter Wind wehte durchs Zimmer.



Es schien unmöglich, jetzt wieder anzufangen. Brandeis griff nach der Flasche, um einzuschenken.



„Ich habe den größten Teil meines, unseres Vermögens verloren”, begann Paul wieder. „Ich muß mich nach einer Beschäftigung umsehn. Ich besitze nicht mehr als fünfundzwanzigtausend Mark.”



„Die Summe ist nicht klein —”, sagte Brandeis. „Aber schließlich, wie man es betrachtet. Sie kann groß und klein sein. Für Sie ist sie wahrscheinlich klein. Ich könnte Ihnen vielleicht den Rat geben, einen Rat geben —”



„Nein, Herr Brandeis, es ist zu spät. Ich muß in dieser Woche auf eine Stellung, auf einen Namen, eine Position rechnen können.”



Brandeis nippte noch einmal. Dann sah er in das Gläschen. Und als hätte er daraus die Zukunft gelesen, fragte er langsam:



„Sie wollen wahrscheinlich heiraten?” Er sprach dieses Wort sehr weich aus, mit einem h, das wie ein voller Konsonant klang.



Paul nickte.



„Gut, Herr Bernheim, ich will mich umsehn.”



Paul erhob sich. Brandeis begleitete ihn zur Tür. Er streckte die Hand aus.



„Kann ich den Namen der Dame wissen?”



„Ich bin noch nicht verlobt”, sagte Paul zögernd. Er fürchtete, die Hand aus der weichen, warmen Umklammerung Brandeis' zu befreien.



„Aber ich bitte Sie um Diskretion. Ich möchte mich um Fräulein Enders bemühen.”



„Enders, Chemie?”



„Ganz richtig.”



„Ich werde Ihnen schreiben.”



Paul ging. Brandeis schrieb auf einen der Zettel, die sauber geschnitten, viereckig und schimmernd auf seinem Schreibtisch lagen und an Oblatenplättchen erinnerten, folgendes: „Enders-Bernheim”.



XV

Paul ging in ein Restaurant. Er konnte nicht essen. Der Zustand, in dem er sich vor dem Besuch bei Brandeis befunden hatte, sollte also jetzt beständig werden. Wer weiß, wie lange die Antwort Brandeis’ brauchen konnte! Die nächsten Tage und Nächte würden vergiftet sein. Er hätte in diesen Stunden einen guten Freund gebraucht, einen Bruder, eine Mutter. Unmöglich, nach Hause zu gehn. In den Straßen bleiben. Es war das beste. Wie ein Obdachloser herumgehn.



Zum erstenmal sah Paul Bernheim die Grenzen seines Vermögens. Er sah sich ohne Aufenthalt und sicher den gefährlichen Ufern der Armut entgegentreiben. Bis jetzt hatte ihn der endlose Ozean des Reichtums umgeben. Es genügte ihm, den genauen Umfang seines Vermögens zu kennen, um schon dessen Ende zu sehen. Für einige kurze Stunden wurde ihm klar, daß seine Hoffnungen, seine außergewöhnliche Begabung, sein Charme, seine Sicherheit, daß sie alle Folgen seiner materiellen Geborgenheit waren, Früchte des Reichtums wie die Pflanzen im Garten seines väterlichen Hauses. Es war, als ob durch die Begegnung mit Irmgard und ihrem Onkel und durch die Aussicht auf die Vermählung mit der chemischen Industrie Paul Bernheim erst das ganze Ausmaß der Bitterkeit erkannt hätte, die der Besitz einer kleinen Summe in dieser Welt bedeutet. Seine fünfundzwandzigtausend Mark schienen tatsächlich an Wert zu verlieren, nur weil sie auf einmal die riesigen Summen des Hauses Enders in der Nähe fühlten. Der Besuch bei Brandeis hatte ihn gedemütigt. Denn Paul Bernheim gehörte selbstverständlich zu den Menschen, die sich nichts zu vergeben glauben, wenn sie zum Beispiel um Liebe und Freundschaft bitten, die aber einen baren Verlust an ihrer Würde erleiden, wenn sie sich eine materielle Unterstützung gefallen lassen müssen. Unter den Werten, die sie ein für allemal in ihrer frühen Jugend klassifiziert haben, bewahrt das Geld einen höheren Rang als das Herz und das Leben. Sie wären imstande, das Blut, das ihnen jemand schenkt, um sie am Leben zu erhalten, leichter entgegenzunehmen als eine geliehene oder geschenkte Summe. Ja, Paul begann Brandeis langsam zu hassen, mit dem Haß, der die Dankbarkeit ersetzt und ihren Namen und ihr Gesicht annimmt.



Paul Bernheim sah sein eigenes Antlitz unter den Gesichtern der namenlosen Toten in der Vitrine der Polizei. Er erinnerte sich an jenen Abend, an dem er aus Übermut sich hatte verhaften und auf ein Lastauto verladen lassen. Es war seine einzige Begegnung mit der andern Welt gewesen, mit der gesetzlosen, heimatlosen, nächtlichen. Seine eigene Zukunft nahm die verwüsteten Angesichter der unbekannten Toten in der Vitrine an. Als Knabe hatte er manchmal mit dem freiwilligen Tod gespielt, eine scharfe Messerspitze gegen die nackte Brust gehalten, aus Eitelkeit und in der Hoffnung, daß sein Ende einen allgemeinen Aufruhr zu Hause, in der Stadt und in der Welt vielleicht verursachen würde. Schon hörte er seine Eltern klagen, den Nachruf des Lehrers, die ehrfürchtigen und scheuen Gespräche der Kameraden. Das überwältigende Mitleid, das er damals für sich gefühlt hatte, überfiel ihn heute wieder. Er wollte sich beweinen und beweint wissen. Ein zärtliches Gefühl der Kameradschaft trieb ihn in die Nähe der Bettler an den Straßenecken und der Männer, denen man die Verlorenheit ansah, den Hunger, die Obdachlosigkeit, die Verwüstung. Es kam ihm nicht einen Augenblick in den Sinn, daß er jeden von seinen neuen und so plötzlich erworbenen Freunden mit einem Zehntel seines Vermögens reich und sorglos gemacht hätte. Paul Bernheim sah keinen Unterschied zwischen dem Bettler, der die Hand um Almosen ausstreckte, und einem Mann, der, um eine Millionärin zu heiraten, eine „gesellschaftliche Stellung” bei Brandeis gesucht hatte.



Er wollte nach Hause mit dem vagen Entschluß, irgendwelche Vorbereitungen für irgendein Ende zu treffen. Er stellte sich vor, daß es angenehm war, den Revolver aus der Schublade zu ziehen, die Korrespondenz zu ordnen, vielleicht einen Brief zu schreiben und alle traditionellen Handlungen und Griffe eines Selbstmordkandidaten auszuführen. Er freute sich mit der Aussicht auf die Heimlichkeit einer Stunde, in der man nach überlieferter Weise vor dem Schreibtisch sitzt und Abschied vom Leben nimmt. Eine Stunde, deren dämmernde Zartheit und deren wehmütiger Widerschein nur an einen Winterabend vor dem Kaminfeuer erinnert, wenn noch kein anderes Licht entzündet ist.



Er stand wieder vor seiner Wohnung und sah durch die Gitter seines Briefkastens einen hellen Brief schimmern.



Er zögerte, den Briefkasten aufzumachen. Noch, schien es ihm, war sein ganzer Tribut an Wehmut nicht entrichtet. Noch hatte er die Wollust der freiwilligen Agonie nicht bis zum Grunde ausgekostet. Zwar glaubte er nicht ehrlich an einen endgültigen Tod. Aber Menschen seiner Art fühlen für einige Stunden die Notwendigkeit, ihr Unglück zu übertreiben, sie wollen nicht gestört, nicht getröstet sein. Es ist, als zwänge sie irgendeine Gerechtigkeit, für das sorglose Leben, das sie führen dürfen, zu büßen; als bescherte auch ihnen das Schicksal ihre „Krisen”, damit sie wenigstens eine Not kennenlernen, die sich in ihrer Phantasie zuträgt. Paul Bernheim hätte gerne gewünscht, noch erheblich länger zu leiden, dem endgültigen Tod so nahe zu kommen, daß eine Rettung nur noch ein Werk des Himmels sein konnte oder wie ein Werk des Himmels erscheinen mußte. Dieser Brief, von dem er befürchtete, daß er eine Rettung war, kam zu früh, zu einfach und zu billig. Dieser Brief machte der Krise ein zu schnelles Ende. Dies war ihm klar: daß er sich etwas vergeben hatte, indem er zu Brandeis gegangen war. Seine Heirat, sein Leben und die ganze Zukunft, von der er nicht zweifelte, daß sie groß und leuchtend sein würde, hätte er nun diesem Brandeis zu verdanken. Und vielleicht nur deshalb, das heißt: aus Scham, verletztem Hochmut, gekränkter Eitelkeit, flüchtete er sich in den Gedanken an den Tod. Aber so hochmütig und eitel er auch war, diese Eigenschaften reichten nicht aus, um Paul Bernheim einen freiwilligen Tod einem abhängigen Leben vorziehn zu lassen! Nein! Sie reichten gerade für die Wehmut einer Selbstmordstimmung.

 



Aber es scheint, daß es den Leuten seines Schlages nicht einmal vergönnt ist, ein eingebildetes Unglück ganz zu tragen. Es scheint, daß die Schutzengel, von denen die Bernheims zu jeder Zeit umgeben sind, darüber wachen, daß ihren Pfleglingen die große Not fernbleibe wie die große Lust und daß ihr Leben sich in den lauen Sphären abspiele, in denen die Winter milde sind und die Sommer kühl und in denen die Katastrophen das Aussehen leichter Trübungen annehmen. Niemals sollte Paul Bernheim der lächelnde Segen verlassen, der über seinem Vater, seinem Haus, seiner Kindheit, seiner Jugend, seinem Oxford, seinen Talenten geruht hatte. Ein friedliches Glück hielt ihn gefangen. Niemals sollte er jener Region entkommen können, in der man Genüsse hat, statt zu genießen, Freuden erlebt, statt sich zu freuen, Pech hat, statt unglücklich zu sein, und in der man so leicht lebt, weil man so leer ist.



Er öffnete den Briefkasten. Es war ein Brief von Brandeis. Eine Mitteilung, daß Brandeis froh sein würde, Herrn Paul Bernheim zu den Direktoren seines Hauses zu zählen. Er braucht mich, kombinierte Paul, weil er mit einer Beziehung zu Enders rechnet. Er hält nichts von mir und meiner Kraft, die er im Brief eine wertvolle nennt. Ich soll sein Instrument sein, ganz einfach. Ich will nicht!



Er trat nicht mehr in sein Zimmer, er kehrte um, den Brief in der Hand. Aber als er wieder in der Straße stand, begann der Brief geheimnisvoll zu wirken. Die Schatten des Todes, unter denen Paul Bernheim die ganzen Tage dahingeschlichen war, zerstreute und vertrieb der Brief. Gleichgültig wie sonst ging Paul an den Bettlern und Verzweifelten vorüber. Sie waren nicht mehr seine Schicksalsgenossen. Er ging, wie er es liebte, in die Halle eines großen Hotels. Er bildete sich ein, daß es der einzige Ort war, an dem man mit Würde unglücklich sein konnte. Noch während er in den breiten, knarrenden Ledersessel glitt, war er überzeugt, daß es jetzt galt zu überlegen, Brandeis abzusagen, einen neuen Ausweg zu suchen. Aber schon als der Kellner vor ihm stand, glaubte Bernheim, daß er anfing, das Schicksal zu meistern. Ja, während er bestellte – einen Whisky-Soda, das Getränk der Sicherheit, weltmännischer Lebenskunst, angelsächsischer Tatkraft hatte Paul Bernheim das Gefühl, gesiegt zu haben, als bewiese der Diensteifer des Kellners die Unterwürfigkeit der Welt. In dieser Halle, in der die Reisenden reich, geschäftig und die Taschen anscheinend mit unerschöpflichen Banknoten gefüllt, herumgingen, glaubte Paul, seine legitime Heimat zu erkennen. Noch trennte ihn keine halbe Stunde von seinen Vorbereitungen zum Selbstmord. Nun verstand er nicht mehr seine Verzweiflung. Ja, er hatte Brandeis besiegt. Er bewunderte seine eigene Schlauheit. Kein andrer, sagte er sich, hätte Brandeis überzeugt, einen der klügsten Männer der Welt. Es galt, die eigene Klugheit zu bewundern, und so zögerte Paul nicht, auch Brandeis’ Verstand anzuerkennen. Er vergaß die Angst, mit der er zu Brandeis hinaufgestiegen war. Er vergaß, daß er die Stufen gezählt hatte. Er dachte nicht mehr daran, daß Brandeis ihn als Werkzeug brauchen könnte. Und als er den ersten Strohhalm in seinen Whisky tauchte, hatte Bernheim wieder sein altes, hochmütiges und gelangweiltes Gesicht, kokett, modern profiliert, die weichen Haare straff aus der Stirn gekämmt und die hübschen grünen Augen in die Luft und in eine siegreiche Zukunft gerichtet.



Er hatte sein eingebildetes Todesurteil wortlos ertragen. Aber den eingebildeten Sieg allein zu feiern, war er nicht imstande. Doktor König fehlte ihm. Doktor König war ein charmanter Gegner gewesen, das Ideal eines Zuhörers. Aber er war seit Monaten verschwunden, verschwunden, in diesem Berlin, das er sicherlich nicht verlassen hatte und in dem ein Mensch versinken