80 Jahre danach in der schönen neuen Welt

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Eine weitere Eigenschaft, die Huxley Menschenmengen in seinem Buch „Dreißig Jahre danach“ (“Brave New World Revisited“) nachsagt, ist die Herdenvergiftung, wie er sie nennt. Als Herde reagiere der Mensch erheblich irrationaler und sei rein emotionalen Anspornen viel leichter zugänglich. Somit bekomme der Manipulator noch mehr Fäden zur Steuerung einer Gruppe in die Hand. Auch das scheint die Geschichte zu bestätigen. Menschen können sich offenbar nur schwer gegen diese Art zentraler Steuerung wehren. Erinnern wir uns an den Sturm auf das Kapitol in Washington 2021 und seine Ursache, nämlich mediengestützte Volksverhetzung.

Propaganda in Demokratien und Diktaturen

Beides hat Huxley in “Brave New World Revisited“ in zwei Abschnitten abgehandelt. Trotz noch vorhandener Unterschiede in der Propaganda sind diese aber in Demokratien und Diktaturen erheblich geschrumpft und inzwischen kaum noch zu unterscheiden. Zum großen Teil hat dies mit der so genannten Globalisierung der Medien zu tun, insbesondere dem Internet, das in Demokratien ebenso wie in Diktaturen zur Verfügung steht. Die Medien ähneln sich heute in praktisch allen Ländern in ihrer äußeren Erscheinung. Oft unterscheiden sie sich aber im Inhalt, außerdem ist der Zugang zum Medium nicht für alle gleichermaßen möglich. Der Eindruck, sich selbstbestimmt objektive Informationen zu beschaffen, bleibt aber in den meisten Ländern erhalten. So lange der Konsument nicht bemerkt, wie seine Anfragen gefiltert und gelenkt werden, wird er zufrieden mit den Resultaten sein. Durch gezielte Einspeisung oder Filterung bestimmter Inhalte können natürlich enorm unterschiedliche Wirkungen erzielt werden.

Im Gegensatz zu solchen Propagandaeinflüsterungen totalitärer Staaten steht ein ganz anderes Ziel: In einigen demokratischen Staaten wird versucht solche Manipulationen aufzudecken und zu unterbinden. Leider geschieht dies auch in Demokratien noch zu selten und ist häufig nicht ausreichend möglich. Einerseits, weil es das schnelle Wachstum des Internets erschwert, andererseits, weil falsch verstandene Liberalität oder hohe Kosten dem entgegen stehen. Somit schleicht sich politische Propaganda ebenso wie Konsumpropaganda auch in das Internet demokratischer Staaten ein.

Wie wirksam beeindruckende Bilder sein können, haben gleichermaßen Goebbels, Huxley, heutige Despoten und die Betreiber des Internets erkannt. Im Dritten Reich wurden die ersten pompösen und bildgewaltigen Propaganda-Shows veranstaltet. Der demokratisch gewählte, aber autoritär regierende russische Präsident Wladimir Putin hat pompöse Olympiaden austragen lassen und eine Art von „Putin-Jugend“ aufgestellt, die ihn in den Medien feiert. Damit eifert er der Manipulation von Nachrichten der Propaganda des Dritten Reiches erschreckend nach. Huxley hat die Wirkung des damals schnell wachsenden Mediums Kino als Opium für’s Volk erkannt und in seiner Dystopie treffend angewendet. Zusätzlich werden in Huxleys Vision in den Fühlkinos weitere Sinne angesprochen. In „Achtzig Jahre danach...“ wurden diese Kinos sogar weiter entwickelt.

Die breite Bevölkerung wird in Huxleys „Schöner neuer Welt“ praktisch gar nicht mehr über Printmedien gebildet oder informiert. Statt dessen dominieren einfache Slogans und anschauliche Bilder. Unsere modernen Medien verfahren ganz ähnlich: Im Internet wie im Fernsehen, was inzwischen fast das Gleiche ist, werden immer mehr kurzweilige, anschauliche und emotional einprägsame Bilder gezeigt, zunehmend im Filmformat. Dabei werden immer mehr Sinne sowie die Gefühlsebene angesprochen. Sich kritisch mit der tatsächlichen Realität zu befassen, wird immer schwerer und scheint auch von vielen Zuschauern immer weniger gewünscht zu sein. Sich von der Wirklichkeit zu entfernen scheint in Huxleys Dystopie, wie inzwischen auch heute, mehr Befriedigung hervorzurufen.

Auch die Manipulation des Egos durch Internet und Medien hat Methode. So haben die Kanäle größeren Zuspruch, die das Selbstwertgefühl des Users am meisten steigern, was teilweise zu einer völlig unrealistischen Selbstüberschätzung und sozialem Realitätsverlust führt. Jeder hat schon Beispiele erlebt, in denen ganz offensichtlich sehr dumme und weltfremde Menschen mit unglaublichem Selbstbewusstsein ihr Können oder ihr Aussehen vielfach besser einschätzen als das anderer. Solche Personen sind zufrieden und werden nicht wegen Zweifeln an sich selbst oder am System in deprimierte Passivität verfallen, sondern brav als Arbeitskraft und Konsument weitermachen.

Die Gleichschaltung der Massen wurde schon lange über die vorhandenen Kommunikationskanäle und später über die Massenmedien und das Internet versucht. Nur an sehr wenigen Stellen der Erde ist es bisher gelungen, das Internet völlig abzuschirmen, zum Beispiel in Nordkorea. Doch auch in solchen Ländern sickern äußere Informationen, Weltanschauungen und Werte zu den Bürgern und Konsumenten durch. Wenn die Auswahl an Informationen groß genug ist, gelingt es dem meisten Menschen sich eine eigene Meinung zu bilden, so zum Beispiel auch in China oder in der Türkei. Somit haben heute Menschen weltweit doch eine recht ähnliche Einschätzung, was Gerechtigkeit, Menschenrechte und gesellschaftliche Grundwerte betrifft. Es gibt dabei noch große lokale Unterschiede und viele Menschen können noch nicht aktiv an der Definition dieser Werte teilhaben. Trotzdem sind sich dich die Menschen der Welt über bestimmte ethisch-moralische Grundbegriffe noch niemals in der Geschichte so einig gewesen wie heute. Dafür sprechen viele Protestbewegungen, Aufstände und Revolutionen, die seit Beginn des Jahrtausends stattfanden und sich auf diese nun weltweiten Wertvorstellungen stützen. Die Machthaber in autoritären Staaten versuchen solche Gefahren einzudämmen, indem sie die Kommunikation im Internet und in der Telekommunikation überwachen. So werden Verdächtige gefunden oder das Internet und Mobilnetze rechtzeitig abgestellt. Da es den modernen Telefonen aber möglich ist untereinander per Bluetooth oder WLAN über kurze Distanzen Informationen auszutauschen, kann damit auch in unfreien Ländern unentdeckt kommuniziert werden, oft sogar verschlüsselt. Kontrollmaßnahmen der despotischen Herrscher werden so umgangen. In so genannten Mesh-Networks schließen dann Programme wie Briar oder Bridgefy alle Nutzer in der Nähe zusammen, was im Roman „Achtzig Jahre danach...“ auch ein Rolle spielt.

Ebenso sollten wir hoffen, dass sich das Internet gegen zivilisationsfeindliche Lobbyisten, wie zum Beispiel die Terror-Organisation „Islamischer Staat“ verteidigen kann. Der Schutz des Weltkulturerbes, kann nur durch weltweit wachsenden Respekt und dem Interesse daran, unterstützt werden. Huxley deutet im Roman an, dass in einer Art von „Kulturrevolution“, eine gründliche Säuberung von unerwünschten Kulturgütern aus der Vergangenheit der „Schönen neuen Welt“ stattgefunden habe. Diese Gesellschaft scheint danach fast völlig frei zu sein von Hinweisen auf Werte oder Wissen aus vergangenen Kulturen. Nur wenige Artefakte oder Indizien existieren noch in den Reservaten oder in den Arbeitszimmern weniger Privilegierter, wie den Weltaufsichtsratsmitgliedern. Diese werden dann oft als abschreckende Beispiele präsentiert, die dann mit der Schulpropaganda der „Schönen Neuen Welt“ Hand in Hand gehen. Nur wenige Errungenschaften, wie die Fließbandfertigung, wurden mit religiösem Eifer aus der Vergangenheit übernommen. Die gezielte Auswahl von Episoden und Anekdoten der Geschichte und auch die Geschichtsfälschung werden ebenfalls von totalitären Systeme als Werkzeuge eingesetzt.

Gehirnwäsche und Konditionierung

Seit den Experimenten von Pawlow waren nicht nur jedem Psychologen, sondern auch vielen Verkaufsexperten die interessanten Zusammenhänge dieser Versuche bekannt. Verkauf soll hier als weit gefasster Begriff verstanden werden, denn im weitesten Sinne, verkaufen auch Propagandisten, Sektenführer, Politiker und sogar Lehrer ihre Produkte.

Der Schlüsselreiz war im Fall von Pawlows Hund ein Klingelton, er kann aber durch andere bewusste oder unbewusste Sinnesreize ersetzt werden. Viele Religionen nutzen diese Effekte ohne den Wirkungsmechanismus jemals systematisch untersucht zu haben. Bestimmte Symbole, Farben, Gebete, Gerüche oder Rituale verursachen, bei routinierter Einübung, bei Menschen massive körperliche und emotionale Reaktionen.

Hilfreich ist dabei in Huxleys Schöner Neuen Welt die Fixierung auf das Ford’sche T-Symbol oder pseudo-religiösen Rituale, wie Eintrachtssitzungen. In der Konsumwelt funktioniert das durch Markenlogos, musikalische Werbe-Eintrichterungen und ähnliche Verfahren ebenso gut. Das wusste man schon zu Huxleys Zeiten. Heute ist es noch schwerer geworden sich diesen Wirkungen zu entziehen, da wir fast ständig durch Werbemedien erreicht werden können.

Erstaunt kann man als Leser der „Schönen Neuen Welt“ feststellen, dass trotz der Erziehung zur Zufriedenheit und Bescheidenheit, Statussymbole für die Menschen immer noch wertvoll sind. Statussymbole als solche zu erkennen und auf eine bestimmte Weise darauf zu reagieren scheint eine Frage der Erziehung zu sein. Gegen Statussymbole sind die Bürger der „Schönen Neuen Welt“ also nicht immun und sie wurden sogar gezielt als Werkzeug benutzt, den Willen der Menschen zu steuern. Die im Roman beschriebene Orientierung an Statussymbolen, insbesondere in Form von beruflichen Positionen und dem Status mit Prominenten bekannt zu sein, öffnet sogar ein gewisses Potenzial zum Klassenkampf. Bis heute konnte sich noch kein Staat von Statussymbolen befreien. Es hat sicher auch noch niemand ernsthaft versucht und Statussymbole scheinen als eine Art von Reviermarke von den Menschen selbst gerne genutzt zu werden. So zeigt man, was man hat oder wo man steht.

 

Die offenen und unterschwelligen Manipulationsversuche von Lobbyisten rechne ich ebenfalls zu den modernen Techniken der Konditionierung. Das ist der Fall, wenn beispielsweise religiöse Interessengruppen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Radio, kostenlose Sendezeiten bekommen, um auf angehörige anderer Religionen und auf Atheisten Einfluss zu nehmen. Dies sind dann eindeutig Konditionierungsmaßnahmen. Auch die Vorstellung neuer Technologien in den Medien soll häufig die öffentliche Meinung positiv beeinflussen und womöglich Kritik abschwächen oder sogar Börsenkurse manipulieren.

Chemische Beeinflussung

Schon seit Jahrhunderten werden bei Verhören oder zum Erpressen von Geständnissen Drogen verabreicht. Freiwillig eingenommene Volksdrogen, wie Alkohol, Tabak, Medikamente oder Kokablätter haben zwar weniger starke Wirkungen, aber sie sind weit verfügbar. Sie werden also viel häufiger angewendet und sind oft auch noch legal. In der Summe sind deren negativen Folgen für Gesundheit und Volkswirtschaft noch größer als die Schäden durch harte oder „schmutzige“ Drogen, zum Beispiel wie Heroin. Aufputsch- oder Beruhigungsmittel, oft in Form von Tabletten, mussten lange Zeit durch Ärzte verordnet werden. Sie nehmen eine mittlere Stellung zwischen harten und weichen Drogen ein, auch was ihren Ruf betraf. Psychopharmaka wie Ritalin, Prozac oder Antidepressiva waren ursprünglich nur Mittel die man entweder therapeutisch mehr oder weniger „Bekloppten“ verabreichte. In der modernen Leistungsgesellschaft haben diese Mittel jedoch inzwischen einen gewissen Aufstieg erlebt. Freiwillig oder mit etwas Überredungskunst gegenüber ihrem Arzt lassen heute viele Berufstätige diese Drogen, sich oder ihren Kindern verschreiben, auch ohne Krankheitsdiagnose. So werden der Arbeitsalltag oder die Schule erträglicher oder man kann dort mehr leisten. Ob dadurch, wie bei Huxley, die „Lebensuhr“ mit dem sechzigsten Lebensjahr abläuft, hängt sicher auch davon ab, wie intensiv die Drogen missbraucht werden, Doch der Vergleich dazu ist berechtigt, denn jede Droge hat ihren Preis für die Gesundheit.

Überwachungsstaat und Denunziantentum

Die gefühlte Freiheit der Einzelnen wird in den so genannten demokratischen Staaten immer größer. Allein die Möglichkeit bei nahezu allen Handlungen mehr Auswahloptionen zu erhalten wird von vielen als Freiheit und Fortschritt empfunden. Die Diskussion, ob das Ein oder das Andere nur gefühlte Freiheit oder tatsächliche Freiheit bedeutet, scheitert regelmäßig an der philosophischen Definition des Begriffes Freiheit. Allein die Möglichkeit vieler Millionen Menschen in fast jede Region der Erde reisen zu können, bedeutet für diesen Teil der Erdbevölkerung durchaus mehr erlebte Freiheit sprechen. Doch was uns in der Werbung als Freiheit verkauft wird, birgt die Gefahr, dass die Menschen heute wieder viel von ihrer Freiheit einbüßen können. Heute ist es leichter als je zuvor die ganze Erde zu bereisen, viele Vorgänge auf der Welt zu beobachten oder Geldtransfers und die Aufenthaltsorte anderer Menschen zu überwachen. Ermöglicht wird dies besonders durch die gefühlte Freiheit der Nutzer moderner Medien, wie dem Internet. Spielerisch motiviert durch bestimmte Anreize, geben Smartphone-Benutzer ihren Standort oder ihre täglichen Wege preis. Wer das nicht freiwillig tut, kann trotzdem mit einem normalen Handy einer Standort-Ortung unterzogen werden und zwar nicht nur durch die Polizei.

Auch das Denunziantentum erlebt eine erneute Renaissance, die vergleichbar ist mit der Zeit der Inquisition. Besonders deutlich wird das in Staaten die zum Anfang des dritten Jahrtausends von Demokratien zu Diktaturen oder Autokratien abrutschten, Russland, Ungarn, Weißrussland, die USA unter Trump oder die Türkei 5. Doch in den so genannten sozialen Netzwerken ist es leicht geworden, sogar in freien Staaten, andere zu denunzieren ohne bestraft zu werden. Das können auch Staaten für eigene Interessen ausnutzen. Die Bewohner der „Schönen Neuen Welt“ sind auf eine gewisse Weise zwar kultiviert und domestiziert, die sensationslüsterne Bestie des finstersten Mittelalters lauert aber immer noch in ihnen. Das zeigt sich, zum Beispiel im Tratsch über die Gerüchte und den Rufmord um die Alkoholschädigung des Embryos von Sigmund Marx in Huxleys Roman. Und auch achtzig Jahre danach haben sich die Menschen in dieser Hinsicht nicht geändert. Im aktuellen Roman finden es viele Bürger unterhaltsam und zufriedenstellend, wenn sie Videos anschauen in denen andere Personen scheitern.

Was Huxley nicht ahnen konnte – wir hängen im Netz

Aus Huxleys Sicht betrachtet wäre vielleicht eine der schrecklichsten Erfindungen das Internet. Schwer vorhersehbar waren damals die Entwicklungen in kabelloser Elektronik und in der Mikrotechnologie. Der kostengünstige Zugang zu kabellosen Telefonen war Ende des 20. Jahrhunderts nur der erste kleine Schritt, der zweite größere Schritt sind die vielfältigen Spielarten mobiler Kommunikation. Wenn in der „Schönen neuen Welt“ Feline bei ihrem Unfall im Reservat per Handy hätte Hilfe holen können, wäre das in jedem Roman viel zu einfach für eine dramaturgisch wertvolle Handlung gewesen. Viel interessanter erscheint die heutige Möglichkeit sich an fast jedem Ort auf der Erdoberfläche per GPS orten zu lassen. Dies machen heutige Konsumenten oft recht pragmatisch zur bloßen Orientierung oder mehr oder weniger spielerisch mit GPS-basierten „Apps“, die den Standort oder eigene Sportaktivitäten in sozialen Netzwerken oder auf Internetplattformen veröffentlichen. Absichtlich geschieht die Ortung per GPS durch den Einbau der entsprechenden Technologie in Kraftfahrzeuge oder andere Gegenstände, die gestohlen werden können. Natürlich ist dies auch mit Menschen möglich. Aktuell lassen sich schon Freiwillige einen Chip implantieren, der ihnen im Alltag bei persönlicher Identifikation, beim bargeldlosen Bezahlen oder dem Öffnen der eigenen Wohnungstür, behilflich sein soll. Das öffnet Möglichkeiten den Chipträger von außen zu überwachen und mitunter zu kontrollieren. Weltweite Ortung und die globale Kommunikation sind sicher die größten Einflüsse, den die bisherige Raumfahrt auf unser tägliches Leben hat. Mehr als jede Teflonpfanne.

China hat 2018 das Überwachungsinstrument des „Sozialkredits“ oder „Social Score“ eingeführt. Zunächst nur als Pilotprojekt, doch die landesweite Einführung wird inzwischen schrittweise voran getrieben. Ein Punktesystem das erwünschtes und unerwünschtes Verhalten bewertet, soll aus den Chinesen bessere Menschen machen. So können sich schon mehrere kleinere Lappalien, wie Hundekot auf dem Gehweg, zu einem ewigen Hindernis aufbauen, für bestimmte berufliche Karrieren oder bei der die Erlaubnis Kinder zu bekommen. Auch Konsum wird mit diesem System bewertet. In „Achtzig Jahre danach“ hat die Gesellschaft, den Bürgerindex und die Konsumpunkte eingeführt, die genau diese Idee widerspiegeln.

In der schönen neuen Welt hat Huxley seine Figuren in bedrückender Weise messbar gemacht und durch einen staatlichen Zahlenkult terrorisiert. Die Effizienz und die Konsumlaune von Menschen messbar zumachen ist aber auch die Dokrin des Taylorismus, der seit der 1930er-Jahren einen erschreckenden Aufschwung erlebt hat. Ich halte es für möglich, dass schon Huxley dies bereits mit seinem Roman kritisieren wollte. In „Achtzig Jahre danach...“ lebt dieser Zahlenkult auch in der Gesellschaft das Romans noch stärker fort.

Wenn sich Huxleys schöne neue Welt in wenigen Jahren erheblich verändert hätte, wäre sie sich selbst nicht treu geblieben. Beständigkeit war in seiner schönen neuen Welt Prämisse, schnelle und offensichtliche Veränderung war dort unerwünscht. Huxley hat 27 Jahre nach seinem Roman mit „Brave New World Revisited“ eine ernüchternde Zwischenbilanz unserer Welt gezogen.

Hätte die Welt in Huxleys Roman aber dreimal soviel Zeit gehabt sich zu verändern, wären die Veränderungen weniger wahrnehmbar gewesen. Kenner von Huxleys Meisterwerk werden diese Unterscheide der alten schönen neuen Welt zur Gesellschaft im aktuellen Roman „Achtzig Jahre danach...“ sofort erkennen. Die Veränderungen in „Achtzig Jahre danach...“ zu Huxleys „Schöner Neuen Welt“ sind zum Teil erheblich, teilweise aber auch nur unwesentlich. Der neue Roman soll nicht als zweiter Teil von Huxleys Romans verstanden werden. Eine Fortsetzung hätte Huxley persönlich in den drei Jahrzehnten nach dem Roman schreiben müssen, um authentisch nah am Original zu bleiben. „Achtzig Jahre danach...“ ist als Alternative von vielen denkbaren Alternativen zu verstehen, eine gesellschaftliche Fantasie, die mit Hilfe der heute greifbaren Möglichkeiten geschaffen wurde, die aber in den 1930er Jahren noch nicht einmal denkbar gewesen war.

Wer erleben möchte, wie sich die hier erwähnten Entwicklungen auf Huxleys „Schöne neue Welt“ ausgewirkt haben könnten, dem empfehle ich meinen folgenden Roman „Achtzig Jahre danach in der schönen neuen Welt" gründlich zu lesen. Der Leser wird darin willkommen geheißen im Jahr 760 Jahre nach den Stock Yards von Chicago, wo die Schlachtung am Fließband erfunden wurde!

Ron Palmer

Diese Einleitung wurde auch als separate Abhandlung veröffentlicht.

Kapitel 1 – Ich bin stolz ein Zweier zu sein

Die schwarze Flaschenreihe klimperte auf der Förderanlage. Putina erinnerte das entfernt an die Geräusche, die sie vor sechs Monaten in den oberen Stockwerken der Schule gehört hatte. Statt in den Pausengarten zu gehen, stieg sie damals die Treppe hinauf bis in die Etage, wo nur die Einser-Kinder der Grundschule unterrichtet wurden. Eine Tür stand offen. Das interessante Klimpern zog Putina unwiderstehlich an, sie ging ihm entgegen und bliebt im Türrahmen stehen. Sie sah einen etwa gleich alten Jungen vor einem hölzernen Kasten sitzen. Er drückte am Kasten auf eine Reihe schwarzer und weißer Tasten und entlockte ihm so die faszinierend klingenden Töne. Am Türrahmen entzifferte sie K-L-A-V-I-E-R-Z-I-M-M-E-R und wollte eintreten. Bohrend durchfuhr sie plötzlich ein automatischer Elektroschock aus ihrem Erziehungshalsband. Das hatte sie noch nie gefühlt, wusste aber sofort, dass dieser Bereich für Zweierinnen wie sie tabu war. Weinend rannte sie in den Pausengarten hinunter. Sie wischte ihre Tränen weg. Niemand hatte ihren Fehltritt bemerkt und sie ging danach nie wieder in die oberen Stockwerke der Schule.

Noch mehr schwarze Flaschen zogen auf dem weißen Förderband an Putina vorbei, während der uniformierte Mann erklärte, dass darin kleine Kinder heranwuchsen. Sie kippte ihren Kopf auf die rechte Schulter. Jetzt sah sie plötzlich vor sich eine endlose Klaviertastatur in der Weite der Bruthalle verschwinden. Das Klimpern war nicht so schön wie das Klimpern, das der Junge mit den Tasten am Klavier gemacht hatte. Sie hielt den Kopf wieder aufrecht und sah erneut die schwarz getönten Brutflaschen mit den zehnwöchigen Embryos darin. Man konnte sie nur gegen das Licht als erdbeergroße Schatten erkennen. Langsamer als eine Schnecke krochen die Brutflaschen auf der Förderanlage vorwärts. Klaviertastatur - Brutflaschen - Klaviertastatur - Brutflaschen, das erkannte Putina vor sich, je nachdem, wie sie ihren Kopf hielt. Die Lehrerin stieß sie unwirsch an: "He, was soll das? Du sollst zuhören, was uns der stellvertretende Klon- und Prägungsdirektor zu sagen hat."

Das Mädchen lief rot an. Noch nie zuvor wurde die unauffällige Putina von ihrer Lehrerin zurechtgewiesen. Sie wusste nicht, ob sie vielleicht gegen das Traumverbot verstoßen hatte und spürte Panik. Ihr hatte vorher niemand gesagt, dass sie die Brutflaschen nicht schräg betrachten durfte, und sie hatte dabei doch gleichzeitig dem stellvertretenden Klon- und Prägungsdirektor gehorsam zugehört, wie es von ihr verlangt wurde. An dieser Stelle der Förderanlage wurden die Hormone zugesetzt, mit denen die Körpergröße der späteren Erwachsenen bestimmt wurde.

Bild: Flaschenreihe-b2-b490.jpg

Obwohl sie gut zugehört hatte, widersprach Putina der Lehrerin nicht. Sie wollte nicht noch mehr auffallen. Seitdem wusste sie, dass sie die Dinge anders wahrnahm, als sie wahrgenommen werden sollten, und mit jedem Monat, den sie älter wurde, spürte sie einen inneren Widerstand dagegen in sich heranwachsen. Das machte ihr Angst.

Vor noch nicht einmal einem Jahr hatte sie erlebt, wie der siebenjährige Slobodan aus ihrer Klasse abgeholt wurde. Wegen abweichender Prägung, so versuchte es die Lehrerin zu erklären. Putina konnte sich noch daran erinnern, wie er nur einen Tag davor zunächst dem Sport-Lehrer und in der nächsten Stunde auch noch der Einheitskunde-Lehrerin widersprochen hatte. Ziemlich höflich hatte er seine Lehrer auf einen Widerspruch in ihrem Unterricht hingewiesen und ihn sogar als Frage formuliert. Doch Putina hatte Slobodan seitdem nie wieder gesehen.

 

Sie glaubte jetzt krank zu werden, wenigstens ein wenig. Sie hoffte, dass es nicht so schlimm wie bei Slobodan werden würde und es mit der Zeit von alleine wieder verschwinden werde. So verhielt sie sich weiter unauffällig.

Arnold Wankel goss sich ein großes Glas kaltes Leitungswasser ein, um Klarheit in seinen noch immer dröhnenden Kopf zu bekommen. Er hätte nur ein Gramm Isodol-Zwei nehmen müssen und keine zehn Minuten später wäre er gut gelaunt und voller Elan an seine Arbeit gegangen. Aber Arnold hatte keine Lust auf das neue, aufputschende, schmerzstillende und stimmungsaufhellende Kügelchen. Isodol-Zwei - alle schworen jetzt auf Isodol-Zwei. Und die Psychologen verordneten Isodol-Drei, das medizische Isodol, wenn nichts mehr half. Gaga-Isodol nannten es viele hinter vorgehaltener Hand. Arnold überzeugten auch die neuen Isodol-Sorten nur wenig und mit jedem Tag immer weniger. Wenn er Isodol-Vier nahm, litt er meistens unter dem Gefühl, dass es irgend einen wichtigen Teil seines Gehirns einschläferte statt ihn aufzuwecken. Aber Isodol-Vier sollte doch glücklich und wach machen und nicht glücklich und entspannt wie Isodol-Drei. Vielleicht war das bisher nur ihm aufgefallen, denn er hatte nie jemanden darüber reden hören. Viel angenehmer als Isodol-Vier fand er es, nach einer lauwarmen Dusche einen Spaziergang zu machen und zu spüren, wie sich der Kater des Vortages von allein verzog. Dieser Kater war nicht wirklich schmerzhaft, lediglich ein leichtes Rauschen zwischen den Ohren mit einem leichten Schwindel und keine Folge des Alkohols. Dieser hatte schon lange keine Nebenwirkungen mehr. Es war heute vielmehr ein gestörter Flüssigkeitshaushalt, Muskelverspannungen und der Schlafmangel der langen Neujahrsfeier, die ganze zwanzig Stunden gedauert hatte. Er konnte sich nicht mehr an alles erinnern.

Immerhin wusste er noch, dass nun die Sechzigerjahre begonnen hatten, das Jahr 760 nach Chicago. So hieß die neue Zeitrechnung. Chicaco war für Arnold ein sehr abstrakter Begriff. Er wusste natürlich aus der Nachtschule, dass die Fließbandarbeit damals in den Chicagoer Schlachthöfen erfunden wurde. Es war eben nicht jener Herr Ford, wie dies die Anhänger der Geschichtsfälschung noch viele Jahre lang behauptet hatten. Zum Glück wurde dieser Irrtum in der großen Kulturrevolution vor fast achtzig Jahren korrigiert.

Die Sechzigerjahre begannen jetzt also. Als Kind hatte er bestimmte Vorstellungen über die Zukunft und die Sechzigerjahre waren für ihn immer ferne Zukunft gewesen – unerreichbar fern. Die meisten seiner Vorstellungen der Zukunft stammten aus den Science-Fiction-Filmen, die er in Emo-Kinos erlebt hatte. Er sah dort die gleiche schöne Welt, in der er bereits lebte, jedoch in vielen kleinen Details noch ein wenig perfekter und schöner. An viele seiner damaligen Visionen der Zukunft konnte er sich nur noch verschwommen erinnern. Woran er sich aber jedes Mal ganz deutlich erinnern konnte, war ein dumpfes Gefühl in seinem Kopf, und das nach jedem Kinobesuch, ganz ähnlich wie sein momentaner Kater.

Damals waren die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht in allen Emo-Kinos eingebaut. Die Emitter sorgten während der Filmvorführung dafür, dass die Emotionen der Zuschauer nicht zu stark wurden. Niemand sollte zu begeistert, womöglich deprimiert oder nachdenklich das Kino wieder verlassen. Am Anfang funktionierten die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht so zuverlässig wie heute. Aber man erzählte sich, wie gefährlich es sein konnte eins der älteren Kinos zu besuchen, die nur schwache Beruhigungswellen-Emitter besaßen. Eines Tages soll nach einem sehr aktionsgeladenen Film ein junger Zweier-Minus geglaubt haben, er könne unverletzt sechs Stockwerke tief auf eine Aussichtsplattform herunterspringen. So hatte er es im Film gesehen. Ein breitschultriger Eins-Plus rettete im Film unzählige Einser, Zweier und Dreier, indem er von Hochhaus zu Hochhaus sprang und dabei blaue Invasoren aus dem Weltall mit bloßen Händen erschlug. Der Zweier starb bei seinem Versuch den Filmhelden nachzuahmen.

Seitdem die Beruhigungswellen-Emitter vorgeschrieben waren, hatte es keinen solcher Unfälle mehr gegeben. Zumindest war keiner mehr bekannt geworden. Gut bekannt war aber jedem die Wirkung der Wellen in Filmen, in denen die Emitter besonders intensiv arbeiteten. Das war immer während sehr emotionalen oder Fantasie anregenden Filmen der Fall. Die Besucher kamen dann angeheitert und entspannt aus den Kinosälen, sodass sie oft noch Stunden danach kein Verlangen nach Isodol verspürten. Die Wellen behindern das Kurzzeitgedächtnis und erzeugen eine sehr zufriedenstellende Euphorie bei den Kinogästen. Sie können dann nicht länger als einige Sekunden über das Erlebte nachdenken und die Erinnerungen an den Film verdunkelten sich in ihrem Langzeitgedächtnis zu Erinnerungen wie aus sehr früher Kindheit. Ein Actionfilm war ein Actionfilm, eine Komödie eine Komödie. Die Kinobesucher wollten gute Unterhaltung und Ablenkung, keine Details, über die sie noch lange nachgrübeln oder sogar streiten mussten. Die Beruhigungswellen-Emitter zerstreuten regelrecht die Gedanken und Erinnerungen.

Science-Fiction wurde in den Emo-Kinos nicht sehr häufig gespielt. Doch Arnold erinnerte sich immer an seine gespannte Neugier am Anfang dieser Filme. Doch je länger die Wellen einwirkten, desto mehr nahm diese Neugier ab. Nur selten konnte er sich nachher an die Handlung in der Mitte des Films erinnern. Meistens blieb ihm die erste Szene im Gedächtnis und vielleicht noch das Happy-End, weil die Wellen am Ende etwas reduziert wurden. So bekam man zwar den Eindruck den Film bei vollem Bewusstsein erlebt zu haben, sich mit anderen über Filme zu unterhalten war dadurch aber nur sehr oberflächlich möglich. Oft blieb es bei einem „Hast du den Film auch gesehen?“ - „Ja, schöner Film.“ Ganz selten mehr.

Das alles stellte Arnold nicht zufrieden. Er wollte die Filme, die er so mochte, viel detaillierter im Gedächtnis behalten. So versuchte er bei weiteren Science-Fiction-Filmen, den Punkt dieses vergesslich-zufriedenen Stimmungsumschwunges auf später zu verschieben. Meistens erfolglos. Doch manchmal, wenn er einen Film an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen anschaute, blieb eine vage Vorstellung der gesamten Handlung in seinem Gedächtnis haften. Und er wurde sich immer sicherer, dass er über Nacht die bruchstückhaften Erinnerungen ein wenig sortieren und am Morgen etwas präziser wieder aus seinem Gedächtnis hervorholen konnte. Doch es war mehr wie eine Idee eines Film, die sich fast so anfühlte, als sei sie ihm gerade erst selbst gekommen. Je häufiger er einen Film ansah, desto besser erinnerte er sich. Nach der zwanzigsten oder dreißigsten Vorführung konnte Arnold einen Film mit etwa einem Dutzend Sätzen nacherzählen. Immerhin ein Dutzend Sätze, aber auch nicht mehr. Die Erinnerungen fühlten sich an, als sei sein Gehirn krank. Details verblassten immer wieder unaufhaltsam aus seiner Erinnerung. Zäher Gedankenbrei verhinderte eine klare Erinnerung, egal, wie intensiv er sich bemühte.